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30. Kapitel.

Unterdessen hatten sich die Dragoner in der Hacienda Verdoja einquartiert, und ihre Offiziere warteten auf die Rückkehr des Besitzers. Der Tag verging, der Abend und die Nacht ebenso, und Verdoja kam nicht. Nun war der Rittmeister überzeugt, daß er entflohen sei, und behandelte die Hazienda als feindliches Gebiet. Er hatte die Aufgabe, den Herd der Empörung gegen Norden zu von der Provinz Sonora abzuschließen, und da in diesen Gegenden das Militär dazu zu schwach war, so waren Botschafter an die Häuptlinge der nördlichen Indianer gegangen, und die Komantschen hatten sich bereit erklärt, die Gegend zu besetzen. Sie kamen in hellen Haufen herangezogen, aber ihre eigentliche Absicht war nicht, die Verfassung von Mexiko zu schützen, sondern im Trüben zu fischen und möglichst reich an Beute nach ihren Wigwams zurückzukehren. Während es auf der Hacienda Verdoja von Kriegern wimmelte, sah es auf der Hacienda del Erina sehr einsam aus.

Pedro Arbellez, der Besitzer derselben, hatte jene Nacht, in der seine Tochter geraubt wurde, mit Helmers, dem Bruder des Steuermanns, auf der benachbarten Hacienda Vandaqua zugebracht. Dies wissen wir bereits. Als am anderen Morgen die brave Marie Hermoyes erwachte, war ihr erstes, wie gewöhnlich die Schokolade für Emma und Karja zu bereiten und dieselbe nach den Schlafzimmern der beiden Señoritas emporzutragen. Wie erstaunte sie aber, als sie die Zimmer verlassen fand!

Eine Unordnung oder gar die Spuren eines Kampfes waren nicht zu bemerken, dafür hatte Verdoja klugerweise gesorgt, und da sich bald herausstellte, daß auch die drei Señores Sternau, Helmers und Mariano die Hazienda verlassen hatten, so glaubte die alte Dame, daß es sich hier um weiter nichts als einen schnell beschlossenen Morgenausflug handle.

Als aber der Morgen und dazu der halbe Nachmittag verging, ohne daß die Vermißten zurückkehrten, so ward die Sorge dringender. Es gab nur noch Beruhigung in der Annahme, daß alle fünf Personen einen Ritt nach der Hacienda Vandaqua unternommen hatten, um den Vater und den Geliebten zu überraschen. Da kehrten aber Pedro Arbellez und Helmers allein zurück, und sogleich stand bei der guten Marie die Überzeugung fest, daß es sich hier um ein sehr großes Unglück handle. Sie eilte in den Hof und empfing die beiden mit der weinend ausgesprochenen Frage:

»Oh, Señores, Sie kommen allein! Sind denn die anderen nicht dabei?« – »Wer?« fragte Arbellez. »Was meinst du?« – »Weil es ein Unglück ist, ein fürchterliches Unglück.« – »Was denn?« – »Daß sie nicht da sind.« – »Wer denn, zum Teufel?« – »Señor Sternau.« – »Señor Sternau? Was soll ihm denn passiert sein!« – »Und Señor Mariano.« – »Auch er?« – »Und Señor Helmers!« – »Diese drei? Oh, das sind tüchtige Kerle, die schon dafür sorgen werden, daß ihnen nichts passiert.« – »Aber sie sind bereits seit heute morgen fort.« – »So werden sie wiederkommen.« – »Und Señorita Karja.« – »Hm, auch sie?« – »Und Señorita Emma.« – »Alle Wetter, sind die Damen denn auch mit?« – »Ja.« – »Wohin denn?« – »Das weiß ja niemand.« – »Wann sind sie fort?« – »Auch das weiß kein Mensch. Als ich erwachte, waren sie bereits nicht mehr da.«

Jetzt begann der Haziendero ängstlich zu werden.

»Haben sie denn keinem Menschen von dem Ausflug etwas gesagt?« fragte er. – »Keinem.« – »So möchte ich wissen, wohin sie geritten sind.« – »Das ist ja das Schlimme, daß sie gar nicht geritten sind.« – »Nicht? Alle Teufel, da scheint wirklich etwas vorzuliegen. Haben sie denn auch gestern abend nichts erwähnt?« – »Kein Wort, obgleich sie noch beisammenblieben, als der Lanzenreiter bereits zur Ruhe gegangen war.« – »Ein Lanzenreiter war da?« fragte Helmers schnell. – »Ja, ein Kurier von Juarez.« – »Wann ist er abgereist?« – »Er war auch fort!« – »Ah! In welchem Zimmer hat er geschlafen? Zeige es mir. Schnell!«

Der Haziendero faßte die Alte beim Arm und zog sie fort, hinauf nach dem Gastzimmer. Dasjenige, in dem der vermeintliche Offizier gewohnt hatte, wurde geöffnet, und da zeigte sich nichts als eine Menge Sand, was auffällig war. Helmers blickte unter das Bett, langte mit dem Arm hinab und zog – eine Strickleiter hervor. Die Räuber hatten sie liegenlassen, hatten nicht wieder an sie gedacht.

Arbellez stieß einen Ruf des Schreckens aus und wollte forteilen, um alle seine Untergebenen zu alarmieren, aber Helmers hielt ihn zurück.

»Halt«, sagte er, »keine Überstürzung. Es scheint allerdings, daß hier etwas Ungewöhnliches geschehen ist, wir müssen das aber in Ruhe untersuchen. Marie, gehen Sie in die Zimmer Emmas und Karjas und sehen Sie, welche Kleider fehlen. Kommen Sie gleich wieder hierher, ohne einem Menschen ein Wort zu sagen.«

Marie eilte fort. Arbellez zitterte vor Aufregung, auch Helmers war erregt, aber er bezwang sich und öffnete ruhig das Fenster, um hinabzublicken. Als er den Kopf wieder dem Zimmer zuwandte, war sein Antlitz blaß geworden, denn als Präriejäger, der sogar unter dem Namen Donnerpfeil berühmt gewesen war, verstand er es, die Spuren eines Verbrechens zu verfolgen.

»Man hat sie entführt und geraubt«, sagte er. – »O heilige Madonna, ist das wahr?« fragte Arbellez erschrocken. – »Ja. Aber nur Ruhe, mein lieber Vater. Vor dem Fenster haben viele Menschen gestanden, das sieht man an den Spuren. Sie sind über die Palisaden herübergekommen und durch das Fenster ins Zimmer gestiegen. Die Sandkörner hier auf der Diele blieben ihnen an den Sohlen kleben. Sie haben die Verschwundenen jedenfalls einzeln überfallen. Aber es wundert mich, daß dies so in aller Ruhe hat geschehen können, daß niemand etwas davon gemerkt hat.«

Arbellez war sprachlos vor Schreck, und auch Helmers sagte kein Wort mehr, bis Marie Hermoyes zurückkehrte und meldete, daß bei beiden Damen nur ein Kleid und eine Decke fehlten.

»So gehen wir in die Zimmer der verschwundenen Señores«, sagte Helmers.

Sie fanden bei Mariano und dem Steuermann die Betten eingerissen, sonst aber alles in Ordnung, bei Sternau aber war das Bett unberührt. Helmers schüttelte den Kopf.

»Jetzt in den Hof«, sagte er. »Ich muß Klarheit haben!«

Sie umschritten, Helmers stets voran, das Gebäude. Er betrachtete jeden Zollbreit des hinteren Hofes, auch die ganze Länge des Palisadenzauns, zuletzt die eine Ecke desselben und sagte dann:

»Jetzt weiß ich es. Der Lanzenreiter war ein Spion, er sollte sie in das Gebäude lassen. Hier an dieser Stelle sind sie über den Zaun gestiegen. Sternau hat Verdacht geschöpft, er ist patrouillieren gegangen, er kam jedoch nur bis hierher, wie seine Fußtapfen im Sand zeigen. Da hat man ihn von hinten niedergeschlagen und nach jener Ecke geschleppt. Ich sehe genau, daß er dort gelegen hat. Dann sind sie durch das Fenster gestiegen, haben aber das Haus nicht wieder durch dasselbe verlassen, folglich sind sie durch das Tor fortgegangen. Nach den Palisaden sind sie von Süden hergekommen, folglich sind sie wieder in dieser Richtung hingegangen. Wir wollen sehen.«

Er führte Arbellez zum Tor hinaus und schritt, den Boden genau beobachtend und ohne ein Wort zu sagen, immer nach Süden zu. Bei einem Gebüsch angekommen, verweilte er dort längere Zeit.

»Warten Sie hier, bis ich wiederkomme.«

Mit diesen Worten ging er fort und schlug einen großen, weiten Bogen um den Ort, an dem Arbellez stand. Als er zurückkehrte, sagte er:

»Endlich bin ich fertig. Was ich vermutete, ist wahr. Man hat Ihnen Ihre Tochter und mir meine Braut geraubt. Oh, wären wir heute morgen zurückgekehrt, so säße ich den Räubern vielleicht bereits auf dem Nacken. So aber werden sie über einen Tag Vorsprung erhalten.«

Arbellez brach fast zusammen. Er schlug die Hände vor das Gesicht und rief:

»O mein Kind, meine Tochter! Wer hat mir das getan?« – »Verdoja und Pardero, kein anderer. Der eine trachtete nach Emma und der andere nach Karja. Und die übrigen haben sie überrumpelt, um sich für das Duell zu rächen. Aber so wahr ich hier stehe und Donnerpfeil genannt werde, der Raub soll ihnen keinen Segen bringen.«

Seine Augen funkelten, und seine Gestalt reckte sich. Er war nicht mehr der kranke, hilflose Patient, sondern ganz wieder der frühere Westmann.

»Aber was tun wir?« fragte Arbellez. – »Wir verfolgen sie und werden sie erwischen, obgleich sie es sehr schlau angefangen haben. Sie haben sich in fünf Teile geteilt und sind von hier aus, wo sie sich versammelten, nach verschiedenen Richtungen fort. Je drei haben einen Gefangenen bei sich gehabt, fünfzehn Mann und fünf Gefangene. Es gibt ganz sicher einen Punkt, an dem sie sich wieder vereinigen, und dieser ist jedenfalls jenseits des Gebirges.« – »So müssen wir jeder dieser Spuren einzeln folgen?« – »Nein. Der Räuber ist Verdoja. Hier darf er sich nicht sehen lassen, in Durango auch nicht; in Chihuahua ist er ansässig, sicher geht er dorthin. Da muß er durch die Mapimi, und ich bin überzeugt, daß am Rand dieser Wüste sich diese Spuren vereinigen. Hätte ich Büffelstirn oder Bärenherz, den Apachen, hier, so wüßte ich, daß in sechs Tagen Emma wieder in Ihren Armen läge.« – »Oh, Antonio«, rief der Haziendero, »nehmen Sie alle meine Vaqueros und Ciboleros mit sich. Ich selbst will mitgehen! Nur befreien Sie meine Tochter!« – »Haben Sie keine Sorge, mein Vater! Ich werde sie befreien. Aber von Ihren Vaqueros geben Sie mir nur zwei mit, den braven Francesco, der mich begleiten soll, und noch einen, den ich zurücksende, sobald ich eine gute Spur gefunden habe.« – »Und wann brechen Sie auf?« – »Sogleich. Geben Sie mir sechs Pferde mit, damit ich morgen früh frische Tiere habe.«

Als sie die Hazienda wieder erreichten, standen alle Angehörigen des Landguts bereits versammelt. Marie Hermoyes hatte nicht zu schweigen vermocht, sondern Alarm geschlagen. Arbellez gab Auskunft und teilte seine Befehle aus, wobei ihm immer die Tränen des Grams über die Wangen liefen. Helmers aber ging nach seinem Zimmer, um seinen Trapperanzug wieder anzulegen. Dann suchte er noch die Zimmer der Verschwundenen auf, und als die Pferde gesattelt unten standen, lud man ihnen nicht nur Munition und Proviant, sondern auch einige Pakete auf, in denen sich Verschiedenes, was den Verschwundenen gehörte, befand, besonders aber ihre Waffen.

»Ich werde sie finden«, sagte Helmers, »und dann werden sie sich freuen, sofort die Waffen zu haben, an die sie gewöhnt sind.«

Er nahm hierauf innigen Abschied von dem Haziendero und sprengte, von dem Segen desselben begleitet, mit seinen beiden Vaqueros dem Westen entgegen.

Pedro Arbellez blieb zurück. Er wäre von Herzen gern mitgeritten, um sein einziges Kind aus der Gefangenschaft dieser Menschen zu befreien; er war voll Schmerz über ihr Schicksal und voll Grimm über die Räuber, aber er konnte die zwei Haziendas, deren Herr er jetzt war, nicht ohne Aufsicht lassen, und so blieb dem alten, frommen Mann nichts übrig, als für die Rettung seiner Tochter und der übrigen Gefangenen zu beten.


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