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Sechszigstes Kapitel.

Hor. Sie sehen, er stirbt.

Corn. Laßt mich zu ihm; gebt mir ihn, wie er ist. Wenn er stirbt, so laßt mich ihm noch einen herzlichen Kuß geben, und dann sollt ihr uns beide in Einen Sarg legen.

Webster.

 

Nur wenige Minuten nach dem im letzten Kapitel geschilderten Vorfalle erwachte Emilie aus ihrem Schlummer und zürnte auf die Sonne, die bereits aufgegangen war. Sobald sie sich angekleidet hatte, ging sie hinunter, um sich nach dem Befinden Dessen zu erkundigen, der sein Schicksal nun an das ihrige knüpfte.

Leise öffnete sie die Thüre des Krankenzimmers. Die Fensterladen waren noch geschlossen, aber die Sonnenstrahlen drangen durch ihre Spalten so glänzend, daß sie das Licht der Nachtlampe überflüssig machten. Die Bettvorhänge waren vorgezogen und Alles war ruhig. Norah saß auf dem Boden; sie hatte ihre wilden Blicke an das Getäfel geheftet, und während sie den Rosenkranz durch die Finger gleiten ließ, wobei ihre Lippen rasch und krampfhaft sich bewegten, ohne jedoch einen Laut von sich zu geben – schien es, als dünke ihr der Rest ihres Lebens zu kurz für die Gebete, die sie zum Throne des Richters emporsenden müsse.

Nachdem sich Emilie vergebens bemüht hatte, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, trat sie, aus Furcht, Seymour zu wecken, leise hinein, stieß die Wärterin an den Arm und winkte ihr aus dem Zimmer hinaus. Norah folgte ihrer Gebieterin in ein anstoßendes Zimmer, wo Emilie, bereits durch das Benehmen der Alten beunruhigt, in leisem und hastigem Tone fragte: »Gütiger Himmel, was gibt's Norah? Du stehst so fürchterlich aus. Ist es schlimmer mit ihm?«

»O Jerum,« sagte die Wärterin, deren Gedanken augenscheinlich abwesend waren.

»Sprich Norah; antworte mir, ist er schlimmer?«

»Ich weiß nicht,« erwiederte Norah; »der Doktor wird es sagen.«

»O Gott! er ist schlimmer – gewiß ist er es,« rief Emilie, in Thränen ausbrechend. »Was wird aus mir werden, wenn mein lieber, lieber Seymour –«

» Ihr lieber Seymour?« rief die bestürzte Alte.

»Ja, mein lieber Seymour; ich sagte es dir noch nicht – ich liebe ihn, Norah – er liebt mich – wir haben uns verlobt; und wenn er stirbt, was soll aus mir werden?« fuhr das schluchzende Mädchen fort.

»O Jerum! und ist es wahr, wirklich wahr, was Sie mir sagen, und sollte er Ihr Gatte werden?«

»Ob er sollte! Er wird es, Norah. Was meinst du mit deinem sollte?« tief Emilie hastig aus, indem sie die Hand der Alten mit einer ängstlichen Miene ergriff.

»Sagte ich: sollte? Ja, gewiß, und es ist auch so. Ich glaubte meinem Lieblinge einen Dienst zu erweisen und bekümmerte mich wenig um meine Seele. So jung und so schön. Und ihr hättet ein hübsches Paar gegeben; und ich habe ihn getödtet!! O Jerum!« schrie Norah, ihre dürren Hände ringend.

»Ihn getödtet, Norah! Was hast du gethan? – Sage mir es sogleich,« schrie Emilie, die alte Hexe, mit all' ihrer Kraft schüttelnd – »schnell!«

Die Heftigkeit der Gefühle ihrer Gebieterin hatte sich der alten Wärterin gleichsam mitgetheilt, indem sie schaudernd ausrief: »Ich habe Alles um Ihretwillen gethan. Der Herr befahl mir es; er sagte, mein Liebling sollte eine Bettlerin werden. Ich habe ihm das Rattengift gegeben. O, o Jerum!« und die Alte sank, ihr Gesicht verhüllend, zu Boden, während Emilie mit einem Schrei aus dem Zimmer stürzte.

Als M'Elvina und die mit ihm gekommenen Herren das Schloß verließen, begaben sie sich in die Wohnung des Ersteren.

»Ich muß Mr. Rainscourt bemitleiden,« sagte der Vikar, »und ich wünschte, daß wir ihn, ungeachtet seiner Heftigkeit, nicht verlassen hätten, ohne ihm Alles mitzutheilen.«

»Das ist auch mein Gedanke,« erwiederte M'Elvina; »aber seine ungerechte Anklage empörte mich, und ich muß bekennen, daß es mir einigermaßen Freude macht, ihn vierundzwanzig Stunden in Ungewißheit zu lassen – auf eine längere Zeit erstreckt sich meine Rache nicht.«

»Ich fürchte,« sagte Debriseau, »daß wir unweise gehandelt haben. Die Heftigkeit und Selbstsucht seines Charakters ist zu bekannt, und Seymour befindet sich in seiner Gewalt.«

»Reden Sie nicht so lieblos, Sir,« erwiederte der Vikar ernsthaft: »Mr. Rainscourt ist bei allen seinen Fehlern der Niederträchtigkeit, auf welche Sie hinweisen, nicht fähig.«

»Gebe Gott, daß ich ihm Unrecht gethan habe!« erwiederte Debriseau; »allein ich sah während des Gespräches in seinen Augen ein Etwas, was mir bei dem Gedanken an unsern jungen Freund das Blut erstarren machte.«

»In jeder Beziehung, glaube ich, wird es, wenn ich morgen Seymour besuche, räthlich sein, Mr. Rainscourt von Allem zu unterrichten. Ich will mich in aller Frühe dahin begeben. Wollen Sie mich begleiten, Sir?« sagte M'Elvina zu dem Vikar.

»Mit Vergnügen,« erwiederte der Andere.

Ihrer Verabredung gemäß waren der Vikar und M'Elvina nach dem Schlosse gegangen und hatten sich im nämlichen Augenblicke bei Mr. Rainscourt melden lassen, als Emilie der Wärterin aus dem Krankenzimmer winkte.

So lange die That noch bevorstand, hatte Rainscourt's Gewissen einen furchtbaren Kampf mit seinen schändlichen Absichten bestanden; jetzt aber, nach vollbrachtem Morde, nach überschrittenem Rubikon, war es unnöthig, auf die Mahnungen des Gewissens zu hören; überdieß hatte es, durch den vorhergehenden Kampf abgemattet und durch die Aussicht auf Fortdauer des Glücks beschwichtigt, keine Gewalt mehr, ihn zu stacheln. Kurz, die innere Stimme war für den Augenblick überwunden, und Rainscourt erfreute sich nach dem Sturme einer falschen und trügerischen Ruhe, von welcher er vergebens hoffte, daß sie andauern würde.

Als M'Elvina und der Vikar gemeldet wurden, hielt er es für gerathen, sie zu empfangen. Die Branntweinflasche, welcher er während des Morgens häufig zugesprochen, wurde entfernt, und nachdem er seine Kleidung ein wenig in Ordnung gebracht hatte, ersuchte er die Herren, in sein Ankleidezimmer zu spazieren.

Als sie eintraten, bemerkte man auf seinem Gesichte nicht mehr die Heftigkeit, wie am vorigen Tage, sondern es schien mehr den Ausdruck geistiger Leiden zu zeigen. Das Bewußtsein der Schuld ward für Demuth gehalten, und beide, sowohl M'Elvina, als der Vikar, fühlten sich wohlwollend gegen ihn gestimmt.

»Mr. Rainscourt,« begann der Erstere, »wir besuchen Sie so frühe, um das Vergnügen zu haben, Ihr Gemüth von einer Last zu befreien, von der sie augenscheinlich sich sehr gedrückt fühlen; wenn Sie das anhören, was wir Ihnen mitzutheilen haben, so werden Sie wahrscheinlich mit uns übereinstimmen, daß kein Grund zu einem Processe vorhanden ist. Mr. Seymour und Ihre Tochter haben sich schon früher öfters getroffen und waren einander längst zugethan; und obwohl Mr. Seymour zu redlich dachte, um Ihrer Tochter seine Neigung zu erklären, so lange er noch freundlos und unbekannt war, so hat er doch im ersten Augenblicke, da man ihm die Veränderung seiner Verhältnisse mittheilte, Ihrer Tochter seine Hand geboten, und auch ihre Zustimmung erhalten. Aus diesem Grunde nehme ich an, daß der Verheirathung kein Hinderniß im Wege steht; erlauben Sie uns daher, Ihnen zu dem so glücklichen Ausgange einer höchst unangenehmen Sache Glück zu wünschen.«

Rainscourt hörte Alles an; es klingelte an seinen Ohren; es war eine Qual, eine schreckliche Qual. Als sie glaubten, sein Auge würde vor Freude strahlen, wurde es gläsern und starr – als sie glaubten, sein Gesicht würde sich zu einem Lächeln erheitern, zuckten seine Mienen krampfhaft – als sie glaubten, er würde seine Hände ausstrecken, um freundlich die ihrigen zu ergreifen, ballten sie sich in dem Todeskrampf eines Ertrinkenden.

Der Vikar und M'Elvina blickten bald ihn, bald einander selbst bestürzt an; ihr Staunen dauerte jedoch nicht lange. Die Thüre wurde aufgerissen und rasend und schreiend stürzte Emilie in das Zimmer, indem sie ausrief:

»Man haben ihn gemordet! – o Gott, man haben ihn vergiftet! – Vater – o Vater – wie konnten Sie das thun?« fuhr das Mädchen fort, und sank dann besinnungslos zu Boden.

Der Vikar, welcher bei der furchtbaren Kunde beinahe außer sich gerieth, war kaum im Stande, Emilie zu Hülfe zu eilen, während M'Elvina, in dessen Schrecken sich Entrüstung mischte, Rainscourt heftig am Halse packte und ihn gefangen nahm.

»Ich füge mich,« erwiederte Rainscourt ruhig, und leistete, durch den Zustand seiner Tochter, die Nichtigkeit und Schändlichkeit seiner Maßregeln und die unerwartete Entdeckung seiner Schandthat gelähmt, keinen Widerstand. »Hätten Sie mir gestern Ihre Mittheilung gemacht, Sir, so wäre dieß nicht vorgefallen; ich überliefere mich dem Gerichte. Sie werden jedoch nichts einzuwenden haben, wenn ich mich auf einige Augenblicke, bis die Gerichtsdiener kommen, in mein Schlafzimmer zurückziehe; – ich habe Papiere zu ordnen.«

M'Elvina erlaubte es; Rainscourt dankte für diese Nachsicht mit einer tiefen Verbeugung, ging in das anstoßende Zimmer und verschloß die Thüre. Nach wenigen Sekunden hörte man den Knall einer Pistole. M'Elvina stürzte hinein, fand Rainscourt todt auf dem Boden, und die prächtigen Tapeten mit dem Blute und Gehirn des Mörders und Selbstmörders bespritzt.

Noch eine Scene, dann ist Alles vorüber. Zieht den Vorhang auf und blickt in das Krankenzimmer – noch am Abend vorher zwei Seelen so rein, wie sie je, von der Erde verschmäht, zum Himmel entflohen – zwei Gestalten, so vollkommen, als die Natur sie in ihrer glücklichsten Laune schuf – zwei Herzen, die schuldlos einander entgegen schlugen – zwei Hände, die sich in einander zu Treu' und Liebe verschlungen, in der Hoffnung, alle Seligkeit der Erde zu genießen – Gesundheit, Reichthum, Verstand und Bildung, Freude und Liebe, Hand in Hand, lächelnd auf die Gegenwart schauend – Hoffnung, mit ihrem goldenen, auf die Zukunft zeigenden Zauberstabe – jetzt ist Alles verschwunden! und an ihrer Stelle stehen, gleich Leidtragenden an jeder Ecke des Bettes, Elend – Verzweiflung – Schmerz – und Tod! Furchtbares, unbeschreibliches Weh – Alles ist so still, so schrecklich still, wie das Grab, welches sich gähnend unter seinem Opfer öffnet.

M'Elvina und Susanne leisten dem Leidenden in seinem Todeskampfe Beistand und reichen ihm, während er sich krümmt und mit flehenden Blicken zu ihnen aufschaut, Wasser, welches nur für einen Augenblick das wüthende Feuer in ihm zu dämpfen vermag.

Der Wundarzt hat von seinen nutzlosen und peinlichen Bemühungen abgelassen – gewöhnt an den Tod, aber nicht an eine Scene dieser Art.

Der Vikar, stets bereit, geistlichen Balsam zu reichen, weiß, daß seine Bemühungen bei so furchtbaren Qualen vergeblich sein würden. Die Thränen rinnen ihm über die Wangen herab, während er von einem Anblicke, den sein sanftes Herz nicht länger ertragen kann, sich wegwendet.

Emilie kniet und hält Seymours Hand, die er selbst in seinem Todeskampfe ihr nicht zu entziehen sucht. Ihr Gesicht liegt auf derselben, um sein Leiden nicht zu sehen. Sie redet nicht, rührt sich nicht – weint nicht – Alles ist ruhig – trügerisch ruhig – ihr Herz ist gebrochen!

Und da liegt er – der Jüngling, schön und wacker, um in einer Stunde zu sein –

ein Ding,
Darüber bald die Raben krächzend flattern.

 

Druck von C. Hoffmann in Stuttgart.


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