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Sechzehntes Kapitel

Gegen alle Gesetze der Architektur und gegen alle Ökonomie im Aufbau der Erzählung habe ich, da es bereits gegen das Ende geht, noch eine neue Figur eingeführt und muß Ihnen nun noch einiges über diese Dame sagen, damit Sie sehen, in wie hohem Maße sie beißend sein konnte. Als ihr Gatte noch am Leben war, empfing sie einmal den Besuch einer Persönlichkeit, vor der sich der Hausherr im ganzen Glanze seiner Bedeutung zeigen wollte, sie jedoch verachtete ihren Mann, wie sie alles verachtete, oder vielleicht noch ein wenig mehr. Ihr Mann wußte das und bat sie schon von vorneherein um Pardon. Und bat außerdem noch um eines: »Sagen Sie nur nichts, was mich widerlegen könnte.« Sie blickte ihn an und erklärte sich sogleich einverstanden.

»Ich bin sogar bereit, Sie zu unterstützen.«

Und ihr Mann dankte ihr dafür. Der hohe Gast war von schlichten Umgangsformen, und liebte es, sich gelegentlich leutselig zu geben. So war es denn auch diesmal seine Absicht, den Vortrag des Administrators beim Tee zu hören, den er direkt von der Hausfrau serviert erhielt. Der Hausherr begann also mit seinem prahlerischen Vortrag, was er alles gesehen habe und alles wüßte und wie er allem vorbeuge und kurz alles zum allgemeinen besten zu lenken verstünde … und sprach und sprach und verplapperte sich schließlich an einer Stelle und sagte irgend was, das wahr war. »Die Schlange« aber unterstützte ihn sogleich in diesem Punkte und zischte:

»Voilà ça c'est vrai.«

Und nichts mehr, – aber kaum daß sie es ausgesprochen, da konnte sich der hohe Gast nicht mehr halten, er verzog sein Gesicht, brach in ein Gelächter aus, küßte ihr schließlich die Hand und meinte zum Gatten:

»Schon gut, schon gut, lassen wir das, ich will gerne alles glauben, tout ça est vrai.«

So brachte sie ihn denn nach und nach unter die Erde und lebte seit jener Zeit mit ihrer Engländerin und las Bücher, die aus dem Ausland kamen.

Unter Menschen zeigte sie sich nie und als sie daher mit ihrer Engländerin in der Kirche, in der das Totenamt für Sascha abgehalten wurde, erschien, erregte es allgemeines Aufsehen, und jeder machte ihnen bereitwillig Platz. Es konnte sogar fast den Eindruck erwecken, als schöbe die Menge die beiden, nur um sie besser anschauen zu können, nach vorne. Aber eine höhere Vorsehung hatte bestimmt, daß nichts Nebensächliches die allgemeine Aufmerksamkeit von dem abzöge, was sich auf den armen Sascha direkt bezog.

Im gleichen Augenblick, als die zwei Damen mit dem bedeutenden Äußeren sich nach vorne schieben ließen, erschien noch eine Frauengestalt auf der Schwelle, eine bescheidene, in ein schwarzes Seidenpelzchen gehüllte Frau. Reisestaub bedeckte ihre Kleidung wie Asche und ihr Antlitz war die Verkörperung des Schmerzes …

Niemand kannte sie, aber alle erkannten sie und wie ein Lauffeuer flog das eine Wort durch die Menge:

»Die Mutter!«

Und alle bahnten ihr eine breite Gasse zu dem teuren Sarge.

Sie schritt durch die Menge, die auseinandergewichen war, sie ging rasch und hielt ihre beiden Arme vor sich ausgestreckt und umarmte den Sarg, als sie ihn erreicht hatte, und verharrte regungslos in dieser Stellung …

Und mit ihr sank alles ringsum nieder und wurde regungslos … Alle beugten die Knie und im selben Augenblicke trat eine solche Stille ein, daß, als die »Mutter« sich erhob und den toten Sohn bekreuzigte, wir alle hören konnten, was sie flüsterte.

»Schlaf, mein armer Junge … Du starbst ehrenhaft!«

Leise nur flüsterten ihre Lippen diese Worte mit einer stillen, kaum bemerkbaren Bewegung, und dennoch klangen sie in allen Herzen nach, fast so, als wären wir alle ihre Kinder.

Der Hammer des Sargmachers erscholl, der Sarg wurde zum Ausgange getragen; der Vater hatte den Arm der leidvollen Mutter genommen, ihre Augen jedoch, ihre Augen blickten in eine unbestimmte Höhe … Sie wußte sicherlich, wo sie die Kraft, ihren Kummer zu bekämpfen, zu suchen hatte, und bemerkte daher nicht, wie von allen Seiten junge Frauen und Mädchen sie umringten und ihre Hände küßten, als wäre sie eine Heilige …

Vom Grabe zur Friedhofspforte wieder das gleiche Gedränge und wieder die gleiche Bewegung.

Erst an der Pforte, wo der Wagen wartete, schien »die Mutter« langsam zu sich zu kommen und den Sinn der Vorgänge zu erfassen; sie drehte sich um und es war, als wollte sie »vielen Dank« sagen, aber da versagten ihr die Füße den Dienst. Sie wurde von der neben ihr stehenden »Schlange« gestützt, aber auch diese … küßte ihr die Hand. In so hohem Maße hatte unser armer Sascha alle gerührt und bewegt, und so hohe Würdigung fand allerseits sein einfacher und vielleicht nicht einmal besonders überlegter Trieb »eine Frau nicht bloßzustellen.«

Niemand dachte viel darüber nach, was das wohl für eine Frau gewesen sei und ob sie wirklich dieses Opfers wert war. Einerlei! Und welcher Art diese Liebe war, und worauf sie eigentlich beruhte? Es fing ja wie immer mit der Kinderstube an, ganz so, als hätten die Kinder »Mann und Frau spielen« wollen, und nachher kam dann die Trennung, und sie war vielleicht dank ihrer Oberflächlichkeit jetzt glücklich und liebkoste ihren Mann und bekam Kinder, er aber bewahrte irgendeinen Fetzen als Andenken auf und ging deswegen in den Tod … Gleichviel! Er ist gut! Er ist für alle anziehend! Es ist so leicht und angenehm, um ihn zu weinen.

Kurz, es war niemand da, der etwa durch den Anschein besonderer Größe hätte hervorgehoben werden können, aber alle, die da waren, gingen mit Ernst und Würde an ihre Rollen, genau so, wie die Schauspieler des Meininger Theaters, die noch vor kurzem ganz Petersburg lebhaft interessierten. Alles war mit größtem Ernst inszeniert!

Die Engländerin zum Beispiel, von der ich Ihnen bereits erzählte, sie ist für uns in dieser Erzählung die nebensächlichste Person. Saschas Handlungsweise mußte ihr in einem völlig anderen Lichte erscheinen, als etwa den Zigeunerinnen aus den Zigeunerchören, die ihn beweinten, und man sollte eigentlich annehmen, es hätte ihr genügen können, hinzukommen, sich alles anzuschauen und nach Hause zu gehen. Aber nein, auch sie wollte ihr Scherflein zur Vollendung des Gesamtbildes beitragen. Sie schrieb an Bemerkungen über Rußland und tat dieses, wie es sich von selber versteht, mit aller Gründlichkeit, indem sie zunächst diejenigen, die unsere Heimat vor ihr besuchten, studierte, und was jene über unsere Sitten auszusagen hatten, prüfte; darauf aber lernte sie auf ihre Art alles kennen und brachte, was sie sah, alsbald zu Papier. In alten Werken fand sie geschrieben, daß »kein Weib niederträchtiger als jenes zu Moskau« sei; um nun jedoch mit diesem neuen Faktum auch ins reine zu kommen, wendete sie sich an Saschas Vater. Sie schrieb ihm einen sehr taktvollen Brief, in welchem sie ihm ihr Mitgefühl mit seinem Kummer ausdrückte und ihre Hochachtung vor der außerordentlichen Würde aussprach, mit der er und seine Gattin ihr Leid trugen. Und zum Schluß bat sie um die Vergünstigung, in Erfahrung bringen zu dürfen, wer eigentlich ihre Erziehung, die ihnen beiden soviel Gefühl für Würde gegeben, geleitet hätte?

Der alte Herr entgegnete ihr, daß seine Frau ein französisches Pensionat absolviert hätte, um seine Erziehung aber hätte sich ein Monsieur Ravel aus Paris angenommen.

Die Engländerin fand diese Nachricht eigentlich ein wenig sonderbar, »die Schlange« jedoch kam ihr zu Hilfe und sagte:

»Wenn irgendein Seminarist die beiden erzogen hätte, so würden Sie wahrscheinlich nicht einmal eine Antwort erhalten haben.«

Man dachte damals, daß alles Rohe und Unangebrachte in unserem Leben nur von den Seminaren herrühre, und man beschuldigte diese genau so aufrichtig und genau so grundlos, wie man in der folgenden Epoche, also ganz vor kurzem, uns alle veranlassen wollte, über jedes Ding mit einer Grazie abzuurteilen, die einzig eines Denkers aus der »Burßa« von Pomjalowskij würdig gewesen wäre.


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