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Und so schieden sie denn – Dodja war selbstverständlich der Ansicht, daß er gegen Pawlins Frau, deren er bereits überdrüssig geworden war, keinerlei Verpflichtungen hätte; er hatte zwar nichts dagegen gehabt, sie als seine Geliebte auszugeben, doch wollte er sie unter gar keinen Umständen zu seiner Frau machen. Dodja reiste bequem. Er hatte keine Eile und brauchte keine vorgeschriebene Marschroute einzuhalten; in den Städten, die ihm zusagten, machte er halt, empfing Besuche und besuchte selber diejenigen Personen, an die er von Anna Lwownas Petersburger Gönnern Empfehlungsbriefe hatte, – hie und da hielt er sich unter dem Vorwande, krank oder müde geworden zu sein, sogar längere Zeit auf. Mit einem Wort: unserem Reisenden ging es so gut, als es nur irgend gehen konnte, und er hatte auf diese Weise bereits fast die ganze Strecke zurückgelegt, als plötzlich kurz vor dem Übergang über den Ural Pawlin über ihn kam, grad so, als käme er direkt aus dem ewigen Schnee und den ewigen Nebeln! – Und was für ein Pawlin war das: streng und unabwendlich, sichtbar und unsichtbar, handelnd und dennoch gleichzeitig gar nicht einmal existierend.
Wissen Sie, wenn man in einem Roman oder einer Erzählung von irgendeiner besonders unwahrscheinlichen Begebenheit liest, denkt man unwillkürlich: »Mein bester Herr Verfasser, haben Sie nicht am Ende das Ventil Ihrer Phantasie zu weit geöffnet?« Im Leben aber und zumal in Rußland passieren Dinge, die weitaus merkwürdiger sind, als jede Erfindung – und dabei kommen sonderbare Dinge oft vor und werden diese häufig gar nicht einmal bemerkt.
Dodja kam also in eine Stadt, die ich Ihnen nicht nennen werde, übrigens liegt auch nichts an ihrem Namen. In dieser Stadt hoffte mein lieber Vetter einige Personen vorzufinden, an die er Briefe bei sich führte. Da er die Absicht hatte, hier auszuruhen und es sich wohlgehen zu lassen, stieg er, Krankheit vorschützend, in dem einzigen Gasthause, das neben der Poststation gelegen war, ab, und fand à la Chlestakow Chlestakow ist die Hauptfigur aus dem bekannten Lustspiel von Gogol »Der Revisor«. (Anmerkung des Herausgebers). sogleich Gelegenheit, einer Nachbarin, die aus einem Fenster des gegenüberliegenden Hauses schaute, zuzuzwinkern, – einer Nachbarin, deren Gesicht er übrigens nicht gehörig betrachten konnte, denn kaum war sie in ihrem Zimmer ans Fenster getreten, erschien sofort draußen vor diesem selben Fenster ein alter struppiger, hochgewachsener Graukopf mit riesigem Barte und in einem für Dodjas Begriffe ganz ungewöhnlichem Hirschpelz, und begann mit dem Ärmel das Glas zu putzen. Weiß der Teufel, woher er gekommen war? Flüchtig hatte Dodja ihn bereits auf einem Schneehaufen, der vor dem Fenster lag, sitzen gesehen, aber da er ihm auf den ersten Blick mehr wie ein alter Ziegenbock, als wie ein Mensch vorkam, hatte er ihm keine Aufmerksamkeit geschenkt – nun jedoch sprang diese Vogelscheuche plötzlich auf und fuhr so mir nichts, dir nichts übers Glas, als geschähe es absichtlich, um den guten Jüngling zu verhindern, sich an den Schönheiten seiner Nachbarin zu erfreuen … Er erreichte freilich sein Ziel, der alte Mann. Dodja kam nicht dazu, die Nachbarin, die sein Interesse erregt hatte, zu betrachten, aber das war auch gar nicht mehr nötig: sie hatte ihm instinktmäßig gefallen und somit gab es von seiner Seite aus keinerlei Hindernisse mehr, das Spiel des Augenblicks mit ihr zu spielen, um so weniger, als auch die Nachbarin (seiner Ansicht nach) sich ebenfalls für ihn zu interessieren schien. Dodja hatte zum mindesten einigen Grund, dies zu denken, denn nachdem sie ihn bemerkt hatte, zeigte sich die anziehende Unbekannte einigemale augenscheinlich nicht ganz ohne Absicht an ihrem Fenster. Es war ärgerlich, daß sie jedesmal viel zu schnell verschwand, so daß Dodja sie nicht genauer beaugenscheinigen konnte. Freilich war dieser Umstand geeignet, seine Neugierde noch mehr zu reizen, und darum setzte er sich schließlich mit dem festen Entschluß ans Fenster, nicht früher von diesem Platz zu weichen, ehe er sie nicht gehörig betrachtet hätte.
Es ging auf den Abend zu: Dodja saß immer noch am Fenster und wartete, ob nicht sein interessantes Visavis sich endlich deutlicher am Fenster zeigen würde … Dem Schicksal gefiel es, ihm gnädig zu sein; ein Lichtschein schimmerte durchs Fenster, auf dem Tisch in jenem Zimmer erschien eine brennende Kerze und zwischen dieser und dem Fenster zeigte sich die Silhouette einer Frauenfigur. Allein es war wiederum eine sehr effektvoll und dennoch äußerst unbequeme Stellung. Welche Frau, die sich zeigen will, stellt oder setzt sich zwischen ein dunkles Fenster und ein Licht, das sie also gewissermaßen von hinten beleuchtet? Es war nur zu augenscheinlich, daß es sich entweder um eine völlige Unschuld handelte, oder um eine erfahrene Kokette, die mit den schlausten Maßnahmen auf einen unerfahrenen Menschen Eindruck zu machen hoffte. Dodja war allerdings keine Einfalt aus der Provinz: er hatte die hohe Schule der Petersburger Frauen absolviert und hielt sich naturgemäß für einen geübten Kenner und somit beschloß er denn, kein Licht anzuzünden, damit die Nachbarin nicht bemerken könnte, ob er sich mit ihr beschäftige oder nicht. Er hoffte auf diese Welse, vorausgesetzt, daß sie keine Kokette war, sondern ein gutherziges romantisches Mädchen, sie anzuködern. Denn das mußte sie doch ärgern: sie würde mithin unvorsichtig werden und näher herankommen, und dann würde das Licht ihrer eigenen Kerze sie beleuchten – und dann könnte er sie betrachten; wenn sie jedoch eine von den Listigen und Schlauen war … wie zum Beispiel in Petersburg jene gewisse Ljuba, von der er, gelobt sei Gott, nun schon ziemlich weit entfernt war, nun dann um so besser: dann war sie eben für ihre List gehörig bestraft und konnte meinetwegen bis morgen dasitzen, oder so lange, als es nicht ihrem grauen Ziegenbock einfiele, die Fensterläden zu schließen … Übrigens, wo mochte wohl der graue Ziegenbock sein? Er war nicht mehr zu sehen … Allein da kam er auch schon wie gerufen: kaum hatte der im Halbdunkel sitzende Dodja an ihn gedacht, da war ihm, als ginge die Zimmertür, – und als er sich umdrehte, stand der erwähnte alte ziegenbockähnliche Mann vor ihm. Er war so leise eingetreten, und so leise auf seinen weichen Filzstiefeln zum Sessel, auf dem Dodja saß, herangetreten und hatte so leise dicht hinter seinen Schultern haltgemacht, daß mein Vetter, als er sich umdrehte, sich Nase an Nase mit dem geheimnisvollen Eindringling befand. Dodja war wie alle frechen Menschen ein großer Feigling, und da diese Begegnung ihn unbeschreiblich verwirrte, war seine Stimme fast tonlos, als er ihn anredete:
»Was wünschen Sie?«
»Regen Sie sich nicht auf,« entgegnete der geheimnisvolle Besuch mit einer Stimme, in der eigentlich nichts Furchtbares lag, die aber dennoch über den feigen Dodja ein Schaudern des Fiebers brachte: »Regen Sie sich nicht auf, mich führt eine kleine Angelegenheit, die mich freilich nichts angeht, zu Ihnen …«
»Pawlin! … bist du das?«
»Pst! erlauben Sie mal … Was heißt das, Pawlin? aber ganz und gar nicht: Sie täuschen sich, ich bin nicht Pawlin und kenne auch keinen Pawlin, ich bin ein ganz anderer. Ich bin der Bürger Spiridón Androssow, ein ganz einfacher Kleinbürger … ja, freilich, und ich habe auch meinen Paß bei mir … einen guten Paß, einen gesetzlichen: mit Stempeln, und alles schwarz auf weiß. Spiridon Androssow, Handwerker, und ziehe in meinen Geschäften herum, und zeige meine Papiere immer gleich bei der Polizei vor, wohin ich auch komme, das erste, was ich tue, immer gleich auf die Polizei mit meinen Papieren … der Vorsicht halber: auch hier habe ich vor einer Woche meine Papiere visitieren lassen …«
»Aber das bist doch du … du bist es, Pawlin! Kenne ich dich denn etwa nicht?«
»Nein, gewiß nicht, ich bin Spiridon Androssow.«
»Also was wollen Sie von mir?«
»Ich nichts, ich habe Ihnen nur eine Nachricht zu überbringen, da ist sie, bitte.«
»Von wem denn?«
»Von einer Witwe hier … einer jungen Witwe … Lesen Sie nur, bitte, dann werden Sie selber sehen, worum es sich handelt.«
Und war auch mein Vetter noch eine Minute vorher davon überzeugt, daß niemand anderer, als ein zottig überwachsener Pawlin vor ihm stünde, als er die verführerischen Worte von der Witwe und ihrem Billett hörte, vergaß er augenblicklich alles andere und zündete hastig die Kerze an, um das Schreiben zu lesen, – allein er ließ es gleich darauf wieder sinken; jetzt konnte auch nicht der leiseste Zweifel mehr herrschen, daß der vor ihm stehende Mann Pawlin war. Und war auch sein Kopf und sein Gesicht rings von grauen Haaren bewachsen und hatte er auch ein halbasiatisches Kostüm angelegt, – jeder der ihn kannte, hätte sogleich gesagt, daß es nur Pawlin sein konnte, Pawlin in eigener Person. Und auch an seinem Blick ließ sich jetzt sehr wohl wahrnehmen, daß er sich erkannt sah, und daß er recht gut begriff, daß es unmöglich sei, ihn nicht wiederzuerkennen. Dieses alles setzte meinen Vetter so sehr in Verwirrung, daß er laut ausrief: »Pawlin! … Bei meiner Ehre, du bist es, Pawlin, aber …« Allein bei diesen Worten preßte der Eindringling Dodjas Hand so schmerzlich, daß der junge Mann nur noch die Kraft hatte, sich hinzusetzen und zu stammeln: »Ja, was soll denn das?« wobei er das Papier, das er fallen gelassen hatte, aufhob: es war ein Auszug aus den Kirchenbüchern und zwar war es ein Totenschein, des Inhaltes, daß vor anderthalb Monaten in einer namentlich angeführten Stadt der Zarskosselsker Bürger Pawlin Petrowitsch Pjewunow eines plötzlichen Todes verschieden und beerdigt worden sei, und das Zeugnis hierüber sei mit der gehörigen Unterschrift und den gebührenden Stempeln seiner Witwe Ljubowj Andrejewna Pjewunowa ausgestellt worden.
Das also war die Witwe! Diese Witwe war niemand anderes als Ljuba, die noch immer in ihren Dodja verliebt war. Die Frage war kurz und bündig gestellt, der Knoten geknüpft, – und das Resultat war, daß Dodja, noch ehe er seinen Bestimmungsort erreicht, sich mit der »Schweizerin Ljuba« verheiratet hatte. Er tat es, ohne sich erst lange zu widersetzen und tat es sogar mit einer gewissen Befriedigung. Woher dieser unerwartete Umschwung in ihm eintrat, kann ich nicht sagen, aber ich meine, daß die immer größer werdende Entfernung von zu Hause hierbei eine gewisse Rolle spielte, und auch das durch diese Entfernung immer heftiger anschwellende Gefühl einer gewissen Verwaistheit. Die beiden Umstände waren es vermutlich, die in ihm ein lebhafteres Gefühl für die Frau, die ihn noch immer zärtlich liebte, erweckten, wozu wohl noch ihre Schönheit und die romantische Lage kamen, und vielleicht auch die drohenden Ermahnungen Pawlins, – kurz: all das zusammen, oder auch einzeln bewog meinen Vetter, Pawlins Frau mit Freuden zu heiraten, der Kleinbürger Spiridon Androssow aber war bei der Hochzeit zugegen und schrieb seinen Namen als Trauzeuge in das Kirchenbuch. – Ich hoffe, Sie werden mich nicht fragen, wie es möglich gewesen, daß Pawlin sich selber beerdigen lassen konnte und dennoch hierüber für seine Frau ein Zeugnis erlangt halte? Solche Sachen sind bei uns zulande gar nicht so märchenhaft, sondern gang und gäbe: ein Passant starb in einem Gasthause, Pawlin wußte, an wen man sich zu wenden hatte und schob seinen eigenen Paß in den Reisesack des Verstorbenen, und nahm dafür dessen Papiere, – und die Sache war gemacht. Im Noworosstjskischen wurde dies eine Zeitlang systematisch betrieben und darum gab es dort Menschen, die laut ihren Pässen gegen hundertundfünfzig Jahre alt wurden. Iwan stirbt mit siebzig, der vierzigjährige Peter nimmt seinen Paß, und schon ist hiermit die willkürliche Verlängerung der Lebensjahre gegeben … Allein ich will in meiner Erzählung fortfahren oder vielmehr sie beenden.