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Neunundzwanzigstes Kapitel

1

So unzufrieden Philip McGarry auch mit Frank war, das letzte, was er sich gewünscht hätte, wäre gewesen, Elmer Gantry kläffend auf Franks Spur zu setzen. Es war eigentlich ein unglücklicher Zufall. Philip saß bei einem Dinner zur Beratung über Missionsfonds neben Elmer; es fiel ihm ein, daß Frank und Elmer Seminarkollegen gewesen seien, und mit den ehrlich liebevollen Worten: »Es ist zu schlimm, daß der arme Junge sich mit Gedanken über Dinge quält, die wirklich Glaubenssache sind«, verriet er Elmer die meisten von Franks Ketzereien.

Jetzt, in der Hast des Geldeintreibens für den Bau einer großen neuen Kirche hatte Elmer seinen Plan vergessen, den berühmten Eisenwarenimpresario, Mr. William Dollinger Styles, und dessen Millionen aus der Besudelung durch Franks Lästerungen zu erretten.

»Wir könnten den alten Styles brauchen, und Sie könnten schöne Publizität erwerben, wenn Sie Shallard des Versuchs anklagen, uns Jesus und sogar die Hölle zu stehlen«, sagte Elmers Vertrauter, Mr. T. J. Rigg, als er befragt wurde.

»Hören Sie, das ist großartig. Wie der Liberalismus zum Atheismus führt. Fein! Ich werd' warten, bis Mr. Frank Shallard wieder den Mund aufmacht und sich blamiert!« sagte der Reverend Elmer Gantry. »Hören Sie, wie könnten wir eigentlich einen Bericht über seine Predigten bekommen? Das arme Huhn ist nicht wichtig genug, daß sein Mist sehr oft in die Zeitungen kommt.«

»Ich werd' mich drum kümmern. Ich hab' ein Mädel in meinem Büro, eine gute, flinke Arbeiterin, die werd' ich hinschicken und alle seine Predigten mitschreiben lassen. Die Leute werden ganz einfach glauben, daß sie Stenographie übt.«

»Na, weiß Gott, das ist mal 'ne gute Verwendung für Predigten. Ha, ha, ha!« sagte Elmer.

»Ja, mein Lieber, weiß Gott, jetzt haben wir's endlich gefunden. Ha, ha, ha!« sagte Mr. T. J. Rigg.

2

Es dauerte nicht ganz einen Monat, bis Frank die Bürger Zeniths in Wut versetzte, indem er auf der Kanzel erklärte, daß er wohl ein Freund der Mäßigkeit sei, aber nicht für die Prohibition eintrete; daß die Methoden der Antisaloon-Liga Holzknechtmethoden seien.

Elmer hatte seine Gelegenheit.

Er inserierte, daß er über das Thema sprechen werde: »Falsche Prediger – und wer sie sind.«

In seiner Predigt sagte er, Frank Shallard (namentlich genannt) sei ein Lügner, ein Narr, ein Undankbarer, dem er im Seminar zu helfen versucht habe, ein Dieb, der einer leidenden Welt Christum stehle.

Die Zeitungen waren entzückt und ausführlich.

Elmer sorgte dafür – T. J. Rigg stellte einen Vierer zusammen – daß er in dieser Woche mit William Dollinger Styles Golf spielte.

»Es hat mir schrecklich leid getan, Mr. Styles«, sagte er, »daß ich es für meine Pflicht halten mußte, am letzten Sonntag Ihren Pastor, Mr. Shallard anzugreifen, aber wenn ein Mensch sich hinstellt und über Jesus Christus lustig macht – ja, dann ist es an der Zeit, alle Barmherzigkeit zu vergessen!«

»Ich dachte, Sie wären ein bißchen hart gegen ihn. Ich hab' seine Predigt nicht gehört – ich bin Kirchenmitglied, aber die Dinge scheinen sich im Bureau so anzuhäufen, daß ich fast jeden Sonntag vormittag dort verbringen muß. Aber nach dem, was man mir erzählt hat, war er gar nicht so wüst.«

»Sie glauben also nicht, daß Shallard eigentlich ein Atheist ist?«

»Wieso, nein! Ein netter, anständiger Kerl –«

»Mr. Styles, wissen Sie, daß man sich in der ganzen Stadt darüber wundert, wie ein Mann wie Sie einem Mann wie Shallard seine Unterstützung gewähren kann? Wissen Sie, daß nicht nur die Geistlichen, sondern auch Laien sagen, daß Frank im geheimen sowohl Agnostiker wie Sozialist ist, obwohl er Angst davor hat, damit an den Tag zu kommen und es einzugestehen? Ich hör' es überall. Die Leute trauen sich nicht, es Ihnen zu sagen. Herrgott, ich hab' ja selber bißchen Angst vor Ihnen! Ich glaub', es ist doch allerhand von mir, Ihnen das so zu sagen!«

»Na, ich bin ja nicht so wild«, sagte Mr. Styles sehr geschmeichelt.

»Auf jeden Fall wär' es mir fürchterlich, wenn Sie dächten, daß ich rumschleich' und Shallard hinter seinem Rücken verdamme. Warum sollen Sie nicht folgendes machen? Sie und ein paar andere Dorchester-Diakone lassen Shallard zum Lunch oder Dinner kommen, und mich lassen Sie auch hinkommen und ihm ein paar Fragen stellen. Ich werd' offen mit ihm reden! Glauben Sie, Sie können sich's leisten, in den Ruf zu kommen, daß Sie einen Ungläubigen in Ihrer Kirche dulden? Müssen Sie ihn nicht dazu bringen, daß er aus seiner Deckung herauskommt und eingesteht, was er denkt? Wenn ich Unrecht hab', werd' ich mich bei Ihnen und bei ihm entschuldigen, und Sie können mich, so viel Sie wollen, 'nen frechen zudringlichen, verrückten Narren nennen, der sich in alles reinmischt!«

»Also – er scheint ein ganz netter Kerl zu sein.« Es war Mr. Styles unbehaglich zumute. »Aber wenn Sie Recht damit haben, daß er wirklich ungläubig ist, dann weiß ich nicht, ob ich das dulden kann.«

»Wie wär's, wenn Sie mit ein paar von Ihren Diakonen und mit Shallard am nächsten Freitagabend in den Athletic-Club kommen und mit mir dinieren würden?«

»Also, schön –«

3

Frank war einfältig genug, die Geduld zu verlieren, als Elmer ihn lange genug kujoniert, angeschrien und sich vor ihm aufgespielt hatte, wobei Franks eigene Diakone Elmer als Autorität anerkannten. Er ließ sich aus aller Vorsicht herausärgern und antwortete Elmer schreiend, daß er Jesum Christum nicht als göttlich anerkenne; daß er eines künftigen Lebens nicht sicher sei, daß er nicht einmal eines persönlichen Gottes gewiß sei.

Mr. William Dollinger Styles fuhr auf ihn los: »Ja, Mr. Shallard, warum verlassen Sie dann nicht den Dienst, bevor man sie rausschmeißt?«

»Weil ich noch nicht sicher bin. – Obgleich ich unsere Kirchen, so wie sie jetzt sind, tatsächlich für ebenso absurd halte, wie Glauben an Hexerei, glaube ich doch, daß es eine Kirche geben könnte, frei von Aberglaube, hilfreich gegen die Bedürftigen, die den Leuten jenes mystische Etwas gäbe, das stärker ist als die Vernunft, jenes Gefühl, in gemeinsamer Verehrung einer unbekannten Macht zum Guten emporgehoben zu werden. Ich selbst, ich würde mir einsam vorkommen, wenn es nichts gäbe als traurige Debattiergesellschaften. Ich meine – mindestens meine ich jetzt noch – daß es für viele Seelen ein Bedürfnis nach Verehrung gibt, ja, sogar nach schönen Zeremonien –«

»›Mystisches Bedürfnis nach Verehrung! Unbekannte Macht zum Guten!‹ Worte, Worte, Worte! Milch und Wasser! Das, wo Sie die glorreiche und sichere Gestalt Jesu Christi zur Anbetung und Gefolgschaft haben!« brüllte Elmer. »Verzeihen Sie mir, meine Herren, wenn ich unterbreche, aber es erregt mir, nicht nur als Prediger, sondern schon ganz einfach als demütigem und frommem Christen, ein Gefühl der Übelkeit im Magen, wenn ich einen Menschen anhören muß, der überzeugt davon ist, so verflucht viel zu wissen, daß er imstande ist, den Christus, an den die ganze zivilisierte Welt seit ungezählten Jahrhunderten glaubt, zum Fenster rauszuschmeißen! Und versucht, ihn mit einem Haufen geschwollener Phrasen zu ersetzen! Entschuldigen Sie mich, Mr. Styles, aber schließlich ist die Religion eine ernsthafte Angelegenheit, und wenn wir uns Christen nennen wollen, so müssen wir Zeugnis für die erwiesene Tatsache Gottes ablegen. Vergeben Sie mir.«

»Es ist vollkommen richtig, Dr. Gantry, ich weiß ganz genau, wie Ihnen zumute ist«, sagte Styles. »Und wenn ich auch keine Autorität in religiösen Fragen bin, ich denke genau so wie Sie, und ich glaube, die anderen Herren hier ebenfalls … Nun, Shallard, Sie haben ein Recht auf Ihre eigenen Ansichten, aber nicht auf unserer Kanzel! Warum resignieren Sie nicht einfach, bevor wir Sie rausschmeißen?«

»Sie können mich nicht rausschmeißen! Das kann nur die ganze Kirche!«

»Die ganze Kirche wird das auch verdammt sicher tun, passen Sie nur auf!« sagte Diakon William Dollinger Styles.

4

»Was werden wir machen, Lieber?« fragte Bess müde. »Ich halt natürlich zu dir, aber wir müssen praktisch sein. Meinst du nicht, daß es weniger Ärger geben würde, wenn du zurücktrittst?«

»Ich habe nichts getan, weswegen ich zurücktreten müßte! Ich habe ein durchaus anständiges Leben geführt. Ich habe nicht gelogen, ich bin nicht unanständig gewesen, noch habe ich gestohlen. Was ich gepredigt habe, waren schöne Gedanken, Glückseligkeit, Gerechtigkeit, Suchen nach der Wahrheit. Ich bin kein Weiser, weiß der Himmel, aber ich habe meinen Leuten beigebracht, daß es so etwas wie Ethnologie und Biologie gibt, daß es Bücher gibt wie ›Ethan Frome‹, ›Vater Goriot‹, ›Tono-Bungay‹ und Renans Jesus, daß nichts Sündhaftes daran ist, dem Leben offen –«

»Lieber, ich hab' gesagt, praktisch

»Ach, Donnerwetter, ich weiß nicht. Ich glaub', ich kann eine Stellung bei der Gesellschaft zur Organisation der Armenpflege hier bekommen – der Generalsekretär ist zufällig ziemlich liberal.«

»Es wär mir fürchterlich, wenn wir die Kirche ganz verlassen müßten. Ich bin sozusagen in ihr zu Hause. Warum willst du nicht sehen, ob sie dich in der Unitarianerkirche haben wollen?«

»Zu anständig. Ich trau' mich nicht. Dieselben alten scheinheiligen Phrasen, die ich loszuwerden versuche, und wohl niemals ganz loswerde, fürchte ich.«

5

Eine Zusammenkunft des Kirchenausschusses war einberufen worden, der über Franks Würdigkeit entscheiden sollte, und Styles hatte den Mitgliedern mitgeteilt, daß Frank die ganze Religion angreife. Im Nu begriff eine Anzahl von Anhängern, die noch nie über die Dinge, die sie selbst von der Kanzel gehört hatten, in Entsetzen geraten waren, daß Frank ein gefährlicher Geselle sei und höchst wahrscheinlich den allmächtigen Gott beleidige.

Vor der Zusammenkunft sagte eine Frau, die Frank noch immer gern hatte, aufgeregt zu ihm: »Ja, können Sie denn nicht einsehen, daß Sie etwas Entsetzliches anrichten, wenn Sie die Göttlichkeit Christi und alles in Frage stellen? Ich fürchte, Sie werden der Religion unausgesetzt Schaden antun. Wenn Sie nur Ihre Augen öffnen und sehen könnten – wenn Sie nur verstehen könnten, was mir meine Religion in Zeiten der Verzweiflung gewesen ist! Ich weiß nicht, was ich ohne diesen Trost während meines Typhus getan hätte! Sie sind ein kluger, tüchtiger Mann, wenn Sie sich selbst gelten lassen. Wenn Sie nur zu Dr. G. Prosper Edwards gehen und sich mit ihm besprechen wollten. Er ist älter als Sie, er ist Doktor der Theologie, und er hat so ungeheure Menschenmengen in der Pilgerkirche, und ich bin sicher, er könnte Ihnen zeigen, wo Ihr Fehler steckt, und Ihnen alles ganz klarmachen.«

Franks Schwester, die jetzt mit einem Anwalt in Akron verheiratet war, kam zu ihnen zu Besuch. Frank und sie waren in dem lauen, aber freundlichen Haus ihres geistlichen Vaters glücklich gewesen. Sie hatten Kirche gespielt, mit Puppen und Salzfässern als Gemeinde; immer waren Bücher um sie, natürlich für sie; und am Tisch ihres Vaters hatten sie Ärzte, Prediger, Rechtsanwälte und Politiker von hohen Dingen reden gehört.

Die Schwester sagte zu Bess: »Weißt du, Frank glaubt nicht die Hälfte von dem, was er sagt! Er macht nur gern Eindruck. Im Herzen ist er ein wirklich guter Christ, wenn er's nur wüßte. Ach, er war so ein guter christlicher Junge – er war Vorsitzender des Vereins junger Baptistenprediger – er kann nicht von Christus abgekommen sein zu dem ganzen Unsinn, den kein Mensch außer einem Haufen von dreckigen Narren mit langen Haaren ernst nimmt! Und seinem Vater wird er das Herz brechen! Ich muß ein ernstes Wort mit dem jungen Mann reden und ihn zur Vernunft bringen!«

Auf der Straße traf Frank den großen Dr. McTiger, den Pastor der Royal Ridge-Presbyterianerkirche.

Dr. McTiger war in Schottland geboren, hatte in Edinburgh promoviert und verachtete im geheimen – nicht allzu geheim – alle amerikanischen Universitäten, Seminare und deren Zöglinge. Er war ein großer, ungeduldiger, barscher Mann, bekannt für die Länge seiner Predigten.

»Ich höre, junger Mann«, schrie er Frank zu, »daß Sie ein ganzes Buch über die vorchristlichen Mysterien gelesen haben und zu dem Schluß gekommen sind, unsere Lehren seien aus zweiter Hand, und daß Sie jetzt die Kirche zerstören werden. Sie sollten mehr Mitleid haben! Mit dem Verlust eines so tiefen Verstandes wie des Ihren, mein junger Freund, ich zweifle, ob die Kirche da weiter taumeln kann! Es ist ein Jammer, daß Sie, nachdem Sie die Weisheit entdeckt haben, nicht weiter gegangen sind und sich von dieser selben Gelehrsamkeit genug erworben haben, um zu erkennen, daß die frühe Kirche dank der wunderbaren Güte von Gottes Barmherzigkeit dazu geführt wurde, viele fremde Faktoren in der einzigen Vollkommenheit der christlichen Brüderschaft zu vereinen! Ich weiß nicht, ob es Unkenntnis der Kirchengeschichte oder Mangel an Humor ist, was Sie am meisten auszeichnet, mein junger Freund! Gehen Sie hin und sündigen Sie nicht mehr!«

Von Andrew Pengilly kam ein gekritzelter, ängstlicher Brief, der Frank bat, aufrecht zu bleiben und die ihm anvertraute Herde nicht dem Teufel auszuliefern. Das tat weh.

6

Die erste Geschäftsversammlung der Kirche erledigte die Frage über Franks Verbleiben nicht. Er wurde nach seinen Doktrinen gefragt und versetzte sie in Empörung, indem er aufrichtig war, aber die Männer, denen er geholfen, die Frauen, die er in Krankheiten getröstet hatte, die Väter, die zu ihm gekommen waren, wenn ihre Töchter »Pech gehabt hatten«, hielten allen Drohungen Styles zum Trotz zu ihm.

Bevor man abstimmte, stellte sich die Notwendigkeit heraus, eine zweite Versammlung abzuhalten.

Als Elmer davon las, galoppierte er zu T. J. Rigg. »Da haben wir unsere Gelegenheit!« strahlte er. »Wenn die erste Versammlung Frank hinausgeschmissen hätte, wäre Styles vielleicht in ihrer Kirche geblieben, obwohl ich glaub', daß ihm meine Sorte Theologie und meine republikanische Politik gefällt. Aber warum sollen Sie jetzt nicht zu ihm gehen, T. J., und so bißchen davon reden, wie seine Kirche ihn beleidigt hat?«

»Gut, Elmer. Wieder eine Seele gerettet. Bruder Styles hat zwar noch immer den ersten Dollar, den er verdient hat, aber vielleicht können wir ihm zehn Cents davon für die neue Kirche abnehmen. Nur – er ist soviel reicher als ich, hoffentlich werden Sie nicht zu ihm, statt zu mir, um geistlichen Rat und Erleuchtung gehen.«

»Sie können sich drauf verlassen, daß ich das nicht tun werd', T. J.! Noch nie hat jemand Elmer Gantry Untreue gegen seine Freunde vorwerfen können! Meine einzige Hoffnung ist, daß die Leitung dieser Kirche auch Ihnen selber etwas eingebracht hat.«

»Na – ja – gewissermaßen. Ich hab' drei Methodistenbrüder von Wellspring, die als Klienten zu mir gekommen sind – zwei Einbrüche und eine Fälschung. Aber es ist mehr – mir macht's Spaß, daß ich die Zügel in der Hand hab'.«

Mr. Rigg sagte eine Stunde später zu Mr. William Dollinger Styles: »Wenn Sie zu uns kommen und uns beitreten würden, ich weiß, Sie würden sich wohlfühlen – Sie haben gesehen, was für ein prächtiger ganzer, aufrechter, hundertprozentiger Mannskerl Dr. Gantry ist. Geschäftlich vollkommen einwandfrei. Und es wäre eine glänzende Strafe dafür, daß Ihre Kirche Ihren Rat nicht befolgt hat. Aber wir würden Sie um keinen Preis auffordern, zu uns zu kommen – Dr. Gantry hat mir sogar ausdrücklich verboten, Sie aufzusuchen – weil wir befürchten müssen, Sie würden denken, daß wir's nur tun, weil Sie reich sind.«

Drei Tage lang scheute Styles, dann ließ er sich, zitternd, einspannen.

Nachher sagte Dr. G. Prosper Edwards von der Pilger-Kongregationalistenkirche zu seinem Ehegemahl: »Warum in aller Welt haben wir nicht daran gedacht, zu Styles zu gehen und ihn zum Beitritt einzuladen. Es war so einfach, daß wir nicht einmal daran gedacht haben. Ich ärger' mich wirklich. Warum hast du nicht daran gedacht?«

7

Die zweite Kirchenversammlung wurde verschoben. Elmer hatte den Eindruck, daß Frank imstande sein würde, an der Dorchester-Kongregationalistenkirche zu bleiben und so Elmer als dem geistigen und moralischen Führer der Stadt Trotz zu bieten.

Elmer handelte furchtlos.

In einer Predigt nach der anderen sprach er von »jener Gruppe von Atheisten dort draußen in Dorchester«. Franks Pfarrkinder wurden in Aufregung versetzt. Sie waren gegenüber Kunden, Nachbarn und Logenbrüdern zu Auseinandersetzungen gezwungen (nur waren sie sich nicht ganz klar darüber, was sie auseinandersetzten). Sie kamen sich geschändet vor, und so geschah es, daß eine zweite Versammlung einberufen wurde.

Nun hatte Frank von einem wirkungsvollen Rücktritt geträumt. Er sah sich vor einem erregten Auditorium stehen und proklamieren: »Ich bin zu der Ansicht gekommen, daß kein einziger in diesem Raum, Eueren Pastor nicht ausgenommen, an die christliche Religion glaubt. Keiner von uns würde die andere Backe darbieten. Keiner von uns würde alles, was er besitzt, verkaufen und den Armen geben. Keiner von uns würde seinen Rock jemand schenken, der ihm den Mantel weggenommen hat. Jeder von uns sammelt so viel Schätze, wie er nur kann. Wir üben die christliche Religion nicht aus. Wir haben nicht die Absicht, sie auszuüben. Daher glauben wir auch nicht an sie … Daher trete ich zurück, und ich gebe Euch den Rat, mit dem Lügen Schluß zu machen und auseinanderzugehen.«

Er sah sich dann zwischen seinen verblüfften Hörern durch den Gang hinausmarschieren, die Kirche für immer verlassen.

Aber: »Ich bin zu müde, zu elend. Und wozu den armen verwirrten Seelen weh tun? Und – ich bin so müde.«

Zu Beginn der zweiten Zusammenkunft stand er auf und sagte freundlich: »Ich habe mich geweigert zurückzutreten. Ich bin noch immer der Überzeugung, daß ich ein ehrenhaftes Recht auf eine ehrenhafte Kanzel habe. Aber ich hetze Bruder gegen Bruder. Ich bin kein Prinzip, ich bin nur ein Freund, ich habe Euch und das Werk geliebt, ich habe es geliebt. Freunde miteinander singen zu hören, ich habe das Glück des Zusammenkommens an behaglichen Sonntagvormittagen geliebt. Das gebe ich auf. Ich trete zurück, und ich wollte, ich könnte sagen: ›Gott sei mit Euch und segne Euch alle.‹ Aber die guten Christen haben Gott genommen und ihn zu einem drohenden Eisenfresser gemacht, und ich kann nicht einmal sagen ›Gott segne Euch‹, in diesem letzten Augenblick eines ganz der Religion geweihten Lebens, der mich auf einer Kanzel sieht.«

Elmer Gantry sagte in seiner nächsten Predigt, er sei so weitherzig, daß er bereit sein würde, einen ungläubigen Shallard in seiner Kirche aufzunehmen, vorausgesetzt, daß er bereue.

8

Als Frank merkte, daß ihm die Gesellschaft zur Organisation der Armenpflege und seine Arbeit in dieser freudlosen Institution nicht mehr Freude machte, als seine Arbeit in der Kirche, lachte er.

»Wie Bess gesagt hat! Ein konsequenter Mißvergnügter! Na, ich bin wenigstens konsequent. Und die Erleichterung, kein Prediger mehr zu sein! Nicht mehr heilig tun zu müssen! Daß die Männer einen nicht mehr für ein altes Weib in Hosen halten! Lachen zu können, ohne sich um die Wirkung zu kümmern!«

Frank hatte in der Armenpflegegesellschaft eine Herberge, einen Holzhof, auf dem Vagabunden zwei Stunden täglich arbeiten, um Unterkunft und Frühstück abzuverdienen, und ein Stellenvermittlungsbüro zu betreuen. Er wußte wenig von wissenschaftlicher Nächstenliebe, infolgedessen empörte ihn die eiskalte Art, mit der seine Untergebenen – die bejahrte Jungfrau am Informationspult, der Verwalter des Holzhofs, der Sekretär in der Herberge und die junge Dame, welche die Bittsteller nach ihrer Religion und ihren Lastern befragte – die schlotternden Unglückseligen als Verbrecher behandelten, die wohlüberlegt das Verbrechen der Armut begangen hatten.

Sie waren ebenso betriebsam und ebenso zart wie Kammerjäger.

In dieser säuerlicher Vollkommenheit sehnte Frank sich nach dem Mysterium, das jedem Heiligtum, auch dem rohesten oder dem kultiviertesten, anhaftet. Er nahm die Gewohnheit an, oft die große katholische St. Dominikkirche aufzusuchen; ihr Pfarrer war der beredte Pfarrer de Pinna, der Matthew Smeesby, den neuen Typus des an einer Staatsuniversität ausgebildeten amerikanischen Priesters, zum Kooperator und Verbindungsoffizier hatte.

St. Dominik war für Zenith ein altes Gebäude, und der Kohlenrauch aus den Südzenither Fabriken hatte die grauen Steine so geschwärzt, daß man an historische Jahrhunderte denken konnte. Das Innere mit seiner dämmrigen Unregelmäßigkeit, seinem hohen Dach, den merkwürdigen Altären, der mysteriösen Tür am Ende einer Flucht steiler Stufen setzte Franks Phantasie in Tätigkeit. Es rührte ihn, zu jeder Stunde Leute knien zu sehen. Er hatte nicht gewußt, daß es Kirchen gab, in die das einfache Volk zum Beten kam. Trotz der düsteren Pracht schienen sie sich in der Kirche heimisch zu fühlen. Und wenn er am Ende des dunklen Schiffs das Gold und Purpurrot eines feierlichen Hochamts schimmern sah und die Menschenmengen, die sichtlich an die Gegenwart Gottes glaubten, mußte er darüber nachdenken, ob er hier nicht den Kult gefunden hätte, den er seit langem tastend suchte.

Er wußte, buchstäblich an das Fegefeuer und die unbefleckte Empfängnis, an die wahrhafte Gegenwart und an die Autorität der Hierarchie zu glauben, sei ebenso unmöglich für ihn, wie an Zeus zu glauben.

»Aber,« überlegte er, »ist es nicht denkbar, daß das Ganze ein herrliches Märchen ist, so herrlich, daß Kritik daran einem Versuch gleichkäme, zu beweisen, daß Hans den Riesen nicht getötet hat? Kein vernünftiger Priester könnte von einem Mann mit einiger Bildung erwarten, daß er glaubt, das Messelesen habe irgendeine Wirkung für die Seelen im Fegefeuer; er würde erwarten, daß man das Ganze nimmt, wie man eine Symphonie nimmt. Und, ach, ich habe Sehnsucht nach der Kameradschaft der Kirche!«

Er suchte um eine Unterredung mit Kooperator Matthew Smeesby nach. Sie hatten sich als Priesterkollegen bei vielen Dinners getroffen.

Der gute Kooperator saß an seinem Schreibtisch, in einem Zimmer, das außer einer geschnitzten bayerischen Kredenz und einem Kruzifix auf der kahlen getünchten Wand ganz geschäftsmäßig wirkte. Smeesby war ein Mann von vierzig Jahren, ein energischerer Philip McGarry.

»Sie waren an einer amerikanischen Universität, nicht wahr?« fragte Frank.

»Ja. Universität Indiana. Ich habe Halfback gespielt.«

»Dann, glaube ich, kann ich mit Ihnen reden. Mir scheint, viele von Ihren Priestern sind nicht nur der Geburt nach Ausländer, Polen und alles mögliche, sondern sie blicken auch auf unsere amerikanischen Sitten herab und wollen uns nach ihren Ideen und Anschauungen formen. Aber Sie – sagen Sie mir: Wäre es denkbar, daß ein – ich will nicht sagen, intelligenter, aber zumindest einigermaßen belesener Mann wie ich, der es ganz unmöglich findet, auch nur ein Wort von Ihren Doktrinen zu glauben –«

»Hu!«

»– dem aber Ihre Riten und der Geist Ihres Kults einen ungeheuren Eindruck gemacht hatten – daß ein solcher Mann in der römisch-katholischen Kirche aufgenommen werden könnte, in aller Ehrlichkeit unter der Voraussetzung, daß ihm Ihre Dogmen nichts als Symbole sind?«

»Ganz bestimmt nicht!«

»Kennen Sie gar keinen Priester, der die Kirche liebt, aber nicht wörtlich alle Ihre Lehren glaubt?«

»Nein! Ich kenne keinen solchen Menschen! Shallard, Sie haben kein Verständnis für die Autorität und die Vernünftigkeit der Kirche. Sie sind nicht bereit dafür. Sie halten zuviel von Ihren knabenhaften Verstandeskräften. Sie haben nicht göttliche Demut genug, um die Jahrhunderte der Weisheit zu begreifen, die daran gewendet worden sind, diese Festung zu erbauen, und Sie stehen draußen vor ihren Mauern, eine erbärmlich einsame, kleine Gestalt, blasen die Trompete Ihres Egoismus und verlangen von der Wache: ›Führ mich zu deinem Kommandanten. Ich bin huldvoll geneigt, ihm beizustehen. Nur muß er sich klar darüber sein, daß ich der Ansicht bin, seine Granitmauern seien Pappe, und mir das Recht vorbehalte, sie umzublasen, sobald ich ihrer müde bin.‹ Mensch, wenn Sie eine Dirne oder ein Mörder wären, zu mir kämen und fragten: ›Kann ich gerettet werden?‹ ich würde ›Ja‹ rufen und mein Leben dafür hergeben, um ihnen zu helfen. Aber Sie sind von einem viel schlimmeren Verbrechen als Mord besessen, von geistigem Hochmut! Und doch haben Sie keinen so entsetzlich überwältigenden Verstand, auf den Sie stolz sein könnten, und das ist das schlimmste Verbrechen, dessen bin ich sicher! Guten Tag!«

Als Frank wütend die Tür aufmachte, fügte er hinzu: »Gehen Sie heim und beten Sie um Einfalt.«

Heimgehen und darum beten, daß ich so werden soll wie Sie? Beten, um Ihre Demut und Ihre Manieren zu bekommen?« sagte Frank.

Vierzehn Tage später schrieb Frank in ein Notizbuch, das er seit jeher zur Niederlegung von Predigtgedanken bei sich trug, das er noch immer bei sich trug, für die Predigten, die man ihn nie wieder predigen lassen würde, einen Gedanken ein:

»Die römisch-katholische Kirche ist der Streitenden protestantischen Kirche überlegen. Sie zwingt den Menschen nicht, seinen Sinn für Schönheit, seinen Sinn für Humor oder seine angenehmen Laster aufzugeben. Sie verlangt bloß, man solle seine Ehrenhaftigkeit, seinen Verstand, Herz und Seele aufgeben.«

9

Frank arbeitete seit drei Jahren in der Gesellschaft zur Organisation der Armenpflege; zur Zeit des Daytoner Evolutionsprozesses war er Untergeneralsekretär geworden. Um diese Zeit war es, daß die fixeren unter den konservativen Geistlichen begriffen, ihr Einfluß, ihr Rednertum und ihr Einkommen werde von jeder ernsthaften Gelehrsamkeit bedroht. Einige unter ihnen waren intelligent genug zu wissen, daß nicht nur die Biologie ihren Stellungen gefährlich sei, sondern auch die Geschichte – die der christlichen Kirche keinen sehr heiligen Ruf gönnte; die Astronomie – die keinen passenden Himmel im Himmel fand und höflich über die Vorstellung lachte, die Sonne sei aufgehalten worden, damit ein jüdisches Grenzgeplänkel gewonnen werden könnte; die Psychologie – welche die Überlegenheit eines frisch vom Lande gekommenen Baptistengeistlichen über ausgebildete Laboratoriumsforscher bezweifelte; und alle anderen modernen Wissenschaften der Universität. Sie sahen ein, daß eine ordentliche Schule nichts anderes lehren sollte als Buchhalten, Landwirtschaft, Geometrie, tote Sprachen, die noch toter gemacht wurden, indem man alle Unterhaltungsliteratur ausließ, und die hebräische Bibel, wie sie von Männern interpretiert wurde, die auf hervorragende Weise dazu ausgebildet waren, Widersprüche zu ignorieren, Männer, die mit einem Terminus technicus »Fundamentalisten« hießen.

Diese Erkenntnis der Geistlichkeit und der von ihr am meisten bewunderten Laien setzte sich rasch in die Tat um. Sie schufen ein halbes Dutzend tüchtiger und gut finanzierter Organisationen, welche die schlichten Staatsgesetzgeber mit politischem Mißerfolg bedrohten und mit salbungsvollem geistlichen Lob bestachen, damit diese Hintergassen- und Hinterwäldlersolone in allen vom Staat erhaltenen Schulen und Colleges alles verböten, was nicht von den Predigern des Evangeliums gebilligt ist.

Die Wirkung war erbaulich.

Zur Gegenwirkung wurden einige wenige Gruppen Gelehrter organisiert. Eine dieser Organisationen ersuchte Frank, für sie zu sprechen. Er war entzückt von der Aussicht, wieder ein Auditorium vor sich zu haben, und bekam von der Gesellschaft zur Organisation der Armenpflege Urlaub zu einer Vortragsreise.

Begeistert und stolz kam er in seinen ersten Bestimmungsort, eine lärmende moderne Stadt im Südwesten. Er fand Gefallen an der Stadt; glaubte wirklich, daß er mit einer »Botschaft« zu ihr käme. Er kostete gierig die westliche Luft, bewunderte die Gebäude, die aufschossen, wo gestern noch Prairie gewesen war. Er lächelte in seinem Hotelomnibus, als er einen Anschlag sah, der verkündete, daß der Reverend Frank Shallard in der Central Labor Hall als Gast der Liga für Freie Wissenschaft über das Thema sprechen werde: »Sind die Fundamentalisten Hexenriecher?«

»Herrlich! Wieder kämpfen! Ich hab' die Religion gefunden, nach der ich gesucht habe!«

Er sah sich nach weiteren Anschlägen um … Sie waren alle zerfetzt.

In seinem Hotel fand er einen maschingeschriebenen anonymen Brief vor: »Wir wollen Sie und Ihren höllischen Atheismus nicht hier haben. Wir können ohne importierte ›Liberale‹ für uns allein denken. Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, werden Sie gut daran tun, noch vor abend diese anständige christliche Stadt zu verlassen. Gott stehe Ihnen bei, wenn Sie das nicht tun! Wir haben genug Barmherzigkeit, um Sie zu warnen, aber auch genug von Gottes Gerechtigkeit, um darauf zu sehen, daß Ihnen geschieht, was Recht ist, wenn Sie nicht hören. Lästerer kriegen, was sie verdienen. Ob es Ihnen angenehm sein würde, eine Peitsche in Ihrem verlogenen Gesicht zu spüren? Das Komitee.«

Frank hatte nie in seinem Leben schwerere physische Konflikte kennen gelernt als das Ringen seiner Knabenzeit. Seine Hand zitterte. Er versuchte, in seine Stimme einen trotzigen Klang zu legen, als er sagte: »Ich lass' mir nicht Angst machen!«

Sein Telephon, eine Stimme: »Dort Shallard? Also, hier spricht ein Predigerbruder. Name spielt keine Rolle. Ich möcht' Ihnen nur stecken, daß Sie heute abend besser nicht sprechen. Ein paar von den Jungs sind recht roh.«

Dann lernte Frank die Freude des Zorns kennen.

Sein Vortragssaal war halb voll, als er an dem Eiswasserkrug auf dem Rednerpult vorbeiblickte. Vorne saßen die Provinzintellektuellen, die meisten sehr eifrig, die meisten fürchterlich arm: eine jüdische Bibliothekarin mit hungrigen Augen, ein verkrüppelter Schneider, ein bebrillter Arzt, der mit radikalen Unruhen sympathisierte, aber ein zu guter Mediziner war, um aus der Stadt hinausgejagt zu werden. Dahinter war eine Unmenge Sitze leer, und ganz hinten saß eine Gruppe gesunder, erfolgreicher, finster aussehender Bürger, unter ihnen ein löwenhafter Mann, der entweder Schauspieler, Kongreßmitglied oder ein beliebter Geistlicher war.

Diese respektable Gruppe knurrte leise und zischte ein wenig, als Frank nervös begann.

Amerika, sagte er, verstehe in seinem Gelächter über den »Affenprozeß« in Dayton nicht die sehr ernsthafte Drohung des Fundamentalistenkampfes. (»Unerhört!« von dem löwenhaften Herrn.) Sie seien jetzt sanft genug; sie sprechen im Namen der Tugend; aber man solle sie nur gewähren lassen, und es werde bald eine neue Inquisition, ein neues Hexenriechen geben. Wir könnten noch erleben, daß Menschen für die Weigerung, protestantische Kirchen zu besuchen, zu Tode verbrannt würden.

Frank zitierte den Fundamentalisten, der behauptete, Evolutionisten seien buchstäblich Mörder, weil sie den orthodoxen Glauben töten, und müßten deshalb gelyncht werden; zitierte William Jennings Bryan mit seinem Vorschlag, jeder Amerikaner, der außer Landes einen Schluck trinke, soll auf Lebenszeit verbannt werden.

»So sprechen diese Männer, mit so wenig Macht – vorläufig!« sprach Frank. »Lassen Sie Ihre Phantasie spielen! Denken Sie daran, wie sie diese Nation regieren und die duldsamere, halbliberale Geistlichkeit dazu zwingen würden, mit ihnen zusammenzuarbeiten, wenn sie die Macht dazu hätten!«

Es gab beständig halblaute Rufe aus dem Hintergrund: »Das ist eine Lüge!«, »Man sollte ihm den Mund stopfen!«, und jetzt sah Frank ein Dutzend handfester junger Leute in den Saal marschieren. Sie standen aktionsbereit da, blickten erwartungsvoll zu der Reihe erfolgreicher christlicher Bürger.

»Und Sie haben hier, in Ihrer eigenen Stadt,« fuhr Frank fort, »einen Diener des Evangeliums, der voller Freude schreiend verkündet, jedermann, der anderer Meinung sei als er, sei ein Judas.«

»Das ist genug!« schrie jemand im Hintergrund, und die jungen Raufbolde galoppierten durch den Gang auf Frank zu, mit Augen heiß vor Grausamkeit, Zähnen wie Kampfhunde, arbeitenden Händen – er fühlte sie schon in seinem Genick. Die freundlich Gesinnten im Vordergrund traten ihnen entgegen und hielten sie einen Augenblick auf. Frank sah, wie ein Mann den verkrüppelten Schneider niederschlug und im Weiterstürmen auf seinen Körper trat.

Mehr in einer absonderlichen Schlaffheit als in Angst seufzte Frank: »Hol's der Geier, ich muß den Kampf aufnehmen und mich umbringen lassen!«

Er begann von der Tribüne hinunter zu gehen.

Der Vorsitzende packte ihn an der Schulter. »Nein! Nicht! Man würde Sie totschlagen! Wir brauchen Sie! Kommen Sie – hier! Diese Hintertür!«

Frank wurde durch eine Tür in eine halberleuchtete Seitengasse gestoßen.

Ein Automobil wartete, daneben zwei Männer, von denen einer rief: »Nur hier herein, Bruder!«

Es war ein großer Sedan; er schien Sicherheit, Leben zu bedeuten. Als Frank aber hineinsteigen wollte, erblickte er den Mann am Steuerrad, dann sah er sich die anderen näher an. Der Mann am Rad hatte keine Lippen, sondern nur eine bitter trockene Linie quer durch das Gesicht – der Mund eines Henkers. Von den anderen beiden sah einer aus wie ein nichtbekehrter Mixer, mit gekräuseltem Schnurrbart und einer Friseurlocke, der andere war hager, hatte wahnsinnige Augen.

»Wer seid Ihr denn?« fragte er.

»Halten Sie Ihre verdammte Schnauze und schauen Sie, daß Sie da reinkommen!« schrie der Mixer und stieß Frank hinten in den Wagen, so daß er mit dem Kopf auf die Kissen fiel.

Der wahnsinnige Mann kletterte herein, der Wagen schoß davon.

»Wir haben Ihnen gesagt, Sie sollen aus der Stadt raus. Wir haben Ihnen Ihre Gelegenheit gegeben. Bei Gott, jetzt sollen Sie was kennen lernen, Sie gottsverdammter Atheist – und wahrscheinlich verdammter Sozialist oder I. W. W. noch dazu!« sagte der Mann, der wie ein Mixer aussah. »Können Sie die Pistole sehen?« Er stieß sie Frank sehr schmerzhaft in die Seite. »Wir können uns entschließen, Sie leben zu lassen, wenn Sie Ihr Maul halten und tun, was wir Ihnen sagen – wir können aber auch nicht. Sie werden 'ne hübsche Fahrt mit uns machen! Sie werden schon Ihren Spaß haben, wenn wir Sie auf'm Land draußen haben – allein – wo's hübsch und dunkel und ruhig ist!«

Er erhob ruhig seine Hände und bohrte seine starken Fingernägel in Franks Wange.

»Das werd' ich mir nicht gefallen lassen!« schrie Frank.

Er stand kämpfend auf. Er spürte die Finger des hageren Fanatikers – nur zwei Finger, teuflisch stark dicht an seinem Nacken, sich unter einem Schmerz einbohren, von dem ihm übel wurde. Er fühlte, wie die Faust des Mixers seinen Kiefer zerschmetterte. Als er schwach, halb ohnmächtig am Vordersitz niedersank, hörte er den Mixer kichern:

»Das wird dem Schuft, Schuft, Schuft von einem Schuft 'nen kleinen Begriff von dem Spaß geben, den wir bald haben werden, wenn wir zusehen, wie er sich windet!«

Der Hagere belferte: »Der Boss hat gesagt, wir sollen nicht fluchen!«

»Fluchen, Teufel! Ich behaupt' nicht, 'n Blechengel zu sein. Ich hab 'ne Menge Gemeinheiten gemacht, aber, bei Gott, wenn ein Kerl, der vorgibt, Geistlicher zu sein, rumschleicht und sich über die christliche Religion lustig machen will – die einzige Gelegenheit, die wir arme Teufel haben, um wieder anständig zu werden – dann, bei Gott, ist's Zeit, zu zeigen, daß wir Grips und Verstand haben!«

Der Pseudomixer sprach in den selbstzufriedenen Tönen jedes Kreuzfahrers, dem Gelegenheit gegeben ist, für eine moralische Sache teuflisch zu sein, er erhob gelassen sein Bein und stieß seinen Absatz auf Franks Rist.

Als die Schmerzwolke von seinem Kopf verschwunden war, saß Frank starr da … Was würden Bess und die Kinder tun, wenn diese Männer ihn töteten? … Würden sie ihn sehr schlagen, bevor er starb?

Der Wagen verließ die Chaussee, verfolgte eine Landstraße und fuhr einen Weg durch ein Feld entlang, das Frank ein Maisfeld zu sein schien. Bei einem großen Baum hielt der Wagen an.

»Raus!« schnauzte der hagere Mann.

Mechanisch, mit lahmen Beinen taumelte Frank hinaus. Er blickte zum Mond auf. »Das ist das letztemal in meinem Leben, daß ich den Mond sehe – die Sterne sehe – Stimmen höre. Nie wieder an einem kühlen Morgen spazieren gehen!«

»Was werden Sie tun?« fragte er, sie zu sehr hassend, um Angst zu haben.

»Na, Süßer«, sagte der Fahrer in fürchterlicher Spaßhaftigkeit, »Sie werden 'nen kleinen Spaziergang mit uns machen, hier bißchen weiter in die Felder hinein.«

»Teufel!« sagte der Mixer, »hängen wir ihn auf. Da ist ein feiner Baum. Nehmen wir die Schleppleine.«

»Nein«, vom hageren Mann. »Wir wollen ihm nur grade so viel antun, daß er dran denkt, und dann kann er zurückgehen und seinen Atheistenfreunden erzählen, daß wirklich christliche Gegenden für sie nicht gesund sind. Vorwärts, Sie!«

Frank marschierte vor ihnen einher, in entsetztem Schweigen. Sie gingen auf einem Weg durch das Maisfeld zu einer Vertiefung. Die Grillen waren lärmend munter; der Mond heiter.

»Das langt«, schnaubte der Hagere; dann zu Frank: »Jetzt machen Sie sich auf was gefaßt.«

Er setzte seine elektrische Taschenlampe auf einen Erdklumpen. In diesem Licht sah Frank ihn eine zusammengerollte schwarze Lederpeitsche aus der Tasche holen, eine Maultierpeitsche.

»Das nächstemal«, sagte der Hagere langsam, »das nächstemal, wenn Sie wieder herkommen, bringen wir Sie um. Und jeden anderen gelben Verräter und Stänker und Atheisten. Erzählen Sie das allen! Diesmal werden wir Sie nicht umbringen – nicht ganz.«

»Ach, Schluß mit dem Reden, gehen wir an die Arbeit!« sagte der Mixer.

»Gut!«

Der Mixer packte Franks Arme von hinten, bog sie zurück, wobei er sie fast brach, und plötzlich schnitt die Peitsche mit einem tödlichen, unglaubhaften Schmerz quer über Franks Wange, zerriß sie, kam im Augenblick wieder – wieder – in einer Dunkelheit schwindelnden Schmerzes.

10

Zögernd kehrte das Bewußtsein zurück, als die Dämmerung über das Maisfeld schlich und die Vögel zu spotten anfingen. Franks einziges deutliches Gefühl war Sehnsucht, dieser Qual durch den Tod zu entrinnen. Sein ganzes Gesicht brannte vor Schmerz. Er konnte nicht begreifen, warum er kaum imstande war zu sehen. Als er tastend seine Hand erhob, entdeckte er, daß sein rechtes Auge eine weiche, breiige Masse blinden Fleisches war, und an seinem Kiefer konnte er den bloßgelegten Knochen spüren.

Er taumelte den Pfad durch das Maisfeld entlang, stolperte über Erdhügelchen, lag schluchzend da, murmelte: »Bess – ach, komm – Bess!«

Er hatte gerade genug Kraft, um bis zur Chaussee zu kommen, er fiel zu Boden, lag an der Straße wie ein betrunkener Bettler. Ein Automobil kam; als der Fahrer aber Franks schwach emporgehobenen Arm sah, eilte er weiter. Sich verwundet zu stellen, war eine Tücke der Automobilräuber.

»Ach Gott, wird mir niemand helfen?« ächzte Frank, und plötzlich lachte er, ein ersticktes, krampfhaftes Lachen. »Ja, ich hab's gesagt, Philipp – ›Gott‹ hab' ich gesagt – das beweist wohl, daß ich ein guter Christ bin!«

Er schwankte und kroch auf der Straße weiter bis zu einer Hütte. Dort war Licht – ein Farmer beim zeitigen Frühstück. »Endlich!« Frank weinte. Als der Farmer auf das Pochen herauskam, eine Lampe hochhaltend, warf er einen Blick auf Frank, dann schrie er auf und schlug die Tür zu.

Eine halbe Stunde später fand ein Polizist auf dem Motorrad Frank im Graben, halb im Fieber.

»Wieder ein Betrunkener!« sagte der Polizist höchst vergnügt und klappte den Stützer seiner Rades herunter. Doch als er sich bückte und Franks zur Hälfte verborgenes Gesicht sah, flüsterte er: »Du guter allmächtiger Gott!«

11

Die Ärzte sagten ihm, das rechte Auge sei allerdings ganz weg, das Licht des anderen würde er aber vielleicht noch ein Jahr lang nicht ganz verlieren.

Bess schrie nicht, als sie ihn sah; sie stand nur da, ihre Hände zitterten an ihrer Brust.

Sie schien zu zögern, bevor sie küßte, was sein Mund gewesen war. Aber sie sagte heiter:

»Mach dir um gar nichts Sorgen. Ich werd' schon eine Stellung kriegen, die uns weiterhilft. Ich hab' schon mit dem Generalsekretär in der Armenpflegegesellschaft gesprochen. Und es ist doch nett, daß die Kinder jetzt alt genug sind, um dir vorlesen zu können.«

Sich vorlesen zu lassen, sein ganzes übriges Leben lang …

12

Elmer machte einen Besuch und tobte: »Das ist die tollste Sache, von der ich in meinem ganzen Leben gehört hab'! Sie können mir glauben, ich werd' den Leuten, die Ihnen das getan haben, die schrecklichste Züchtigung angedeihen lassen, die sie in ihrem ganzen Leben bekommen haben, direkt von meiner Kanzel aus! Auch wenn es mich vielleicht dabei stören wird, das Geld für meine neue Kirche einzutreiben – hören Sie, wir kriegen 'ne famose, hochmoderne Sache, Kosten über eine halbe Million Dollars, mehr als zweitausend Sitzplätze. Aber mir kann niemand den Mund verbieten! Ich werd' diese Teufel so brandmarken, daß sie's nie vergessen werden!«

Und das ist das Letzte, was je aus Elmers Mund über diesen Gegenstand gehört wurde, privatim oder öffentlich.


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