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Rektor Quarles redete ihm zu.
Elmer könnte vielleicht auf die ganze Welt Einfluß gewinnen, wenn er Geistlicher würde. Welch ein Ruhm für das gute alte Terwillinger und alle Heiligtümer von Gritzmacher Springs!
Eddie Fislinger redete ihm zu.
»Herrje! du wirst viel weiter kommen als ich! Ich seh' dich schon als Vorsitzenden der Baptistensynode!« Elmer hatte Eddie noch immer nicht gern, aber er legte es jetzt darauf an, Jim Lefferts zu ignorieren (sie trafen einander auf der Straße und grüßten sich grimmig) und er mußte jemand haben, der seinen Tugenden den Kammerdiener spielte.
Der Dekan des Colleges, der Geistlicher gewesen war, redete ihm zu.
Wo könnte Elmer ein Metier finden, das ihm eine bessere soziale Stellung böte als der Beruf des Geistlichen – Tausende lauschen auf ihn – er wird zu Banketts und allem möglichen eingeladen. So viel leichter als nun, nicht gerade leichter; alle Geistlichen arbeiteten eifrig – große Opfer – beständige Anforderungen an ihr Mitgefühl – heroischer Kampf gegen das Laster – aber gleichzeitig elegante, vornehme Arbeit, umgeben von Büchern, hochfliegenden Gedanken und den schönsten Damen der Stadt oder im Lande, wie es sich eben traf. Und eine billigere Berufsvorbereitung als beim juristischen Studium. Mit Stipendien und Aushilfspredigten könnte Elmer seine drei theologischen Jahrgänge im Mizpah-Seminar machen, fast ohne etwas im Jahr zu brauchen. Was für andere Berufspläne hätte er denn? Nichts Bestimmtes? Nun, das sähe ja aus wie ein Fingerzeig Gottes; ganz gewiß; wir wollen die Sache als abgemacht ansehen. Vielleicht könnte Elmer schon im allerersten Jahr ein Stipendium bekommen –
Seine Mutter redete ihm zu.
Sie schrieb ihm täglich, daß sie sich sehnte, daß sie betete, schluchzte –
Elmer redete sich selbst zu.
Außer der Möglichkeit, im schmutzigen Büro eines Vetters in Touluca, Kansas, juristisch zu praktizieren, hatte er keine Aussichten. Nur zwei Dinge hatte er gegen den geistlichen Beruf, jetzt nachdem er von Jim befreit war; einmal die niedrigen Gehälter, und dann die Tatsache, daß es Geistlichen, die beim Trinken oder Flirten erwischt wurden, oft sehr schlecht erging. Das mit den Gehältern war nicht einmal so schlimm – er würde natürlich sehr hoch steigen und wahrscheinlich Acht- bis Zehntausend verdienen. Aber die Sache mit den Amusements – er dachte so viel darüber nach, daß er schnell einen Ausflug nach Cato machte, von dem er, vorläufig für immer von allen Gelüsten nach Lasterhaftigkeit geheilt, zurückkehrte.
Was ihm aber am stärksten zuredete, war die Erinnerung daran, wie er sein Auditorium in der Hand gehalten, wie er mit ihm gespielt hatte. Menschen zu bewegen – Herr Gott! Er hätte am liebsten gleich jetzt irgend jemand eine Rede über irgend etwas gehalten und Applaus eingeheimst!
Um diese Zeit war er in seiner Rolle als Anwärter auf die Rechtfertigung so sicher, daß es nichts Peinliches für ihn hatte (solange kein hohnlachender Jim in der Nähe war) die verwirrendsten theologischen und moralischen Ausdrücke in Anwesenheit Eddies oder des Rektors zu gebrauchen; und ohne ein einziges Mal lachen zu müssen, ließ er erschütternde Ansprachen vom Stapel über Themen wie »Die Pflicht jedes Menschen, alle Mitmenschen zu Christus zu führen« und »Die historische Stellung der Baptisten als der einzigen wahren Schriftgetreuen Kirche, welche die Taufe durch völliges Untertauchen praktiziert, wie Christus selbst es gelehrt hat.«
Er war überzeugt. Er sah sich als jungen Prediger mit weißer Stirn und strahlenden Augen in einem neuen Gehrock, auf einer Kanzel, wie er Hunderte von schönen Frauen dazu brachte, als Bekehrte zu weinen und nach vorne zu eilen, um ihm die Hand zu drücken.
Aber es gab ein Hindernis, das sehr ernsthaft war. Sie alle erklärten ihm, er müßte, obgleich er zu geweihtem Material auserwählt wäre, ein als »Ruf« bekanntes mystisches Erlebnis haben, bevor er sich endgültig entscheiden könnte. Gott selbst mußte erscheinen und ihn zum Dienst rufen, und so sehr Elmer jetzt auch seine eigenen Kräfte und die Vorzüglichkeit der Kirche kannte, von Gott spürte er in der Gegend nicht mehr als in den schlimmsten Tagen vor seiner Bekehrung.
Er fragte den Rektor und den Dekan, ob sie einen Ruf gehabt hätten. Oh ja, freilich; als sie aber praktische Ratschläge erteilen sollten, wie ein Ruf herbeizuführen oder als solcher zu erkennen wäre, redeten sie um die Sache herum. Eddie wollte er nicht fragen – Eddie würde nur zu freigebig mit Tips sein, mit ihm niederknien und beten wollen, und überhaupt ziemlich ekelhaft, aufgeregt und unangenehm sein.
Der Ruf kam nicht, viele Wochen nicht: Ostern war schon vorüber, und er wußte noch immer nicht, was er im nächsten Jahr tun sollte.
Frühling in der Prärie, üppiger Frühling. Flieder verdeckte den Backstein und Mörtel der College-Gebäude, Spiräenstauden bildeten eine funkelnde Wand, und aus den Feldern und Wiesen des Kansaslandes kamen sanfte Lüftchen und das Trillern der Lerchen.
Studenten lagen müßig in den Fenstern und riefen zu Freunden hinunter; sie spielten im Hof Fangball; sie gingen ohne Hut und schrieben viel Gedichte; die Terwillinger Baseballmannschaft schlug das Fogelquist-College.
Noch immer erhielt Elmer seinen göttlichen Ruf nicht. Untertags, wenn er Fangball spielte, übermütig war, seine Bekannten verprügelte, an eine Mauer gelehnt sang: »Die glücklichsten Tage, die wir kannten, das war im schönen alten Terwillinger«, oder wenn er allein durch das kleine Pappel- und Weidenwäldchen am Tunker Creek stapfte, blühte er mit dem aufblühenden Jahr auf und war glückselig.
Die Nächte waren die reinste Hölle.
Er fühlte sich schuldig, weil er noch keinen Ruf hatte; Mitte Mai ging er zum Rektor.
Dr. Quarles dachte nach und verkündete dann:
»Bruder Elmer, das allerletzte, was ich, treu dem Geist meines göttlichen Berufs, tun möchte, wäre, Ihnen einen Ruf vorzutäuschen, wenn Sie keinen gehabt haben. Das würde sein wie die heidnischen Halluzinationen, die auf die armen kranken Anhänger des römischen Katholizismus einwirken. Was er sonst auch sein mag, Illusionen darf ein Baptistenprediger nicht haben; er muß seine Arbeit auf gute, handgreifliche wissenschaftliche Tatsachen gründen – die erwiesenen Tatsachen der Bibel und des Sühnopfers, von dem wir sogar pragmatisch wissen, daß es wahr ist, weil es wirkt. Nein, nein! Aber trotzdem bin ich überzeugt, daß Gottes Stimme Sie ruft, Sie müssen sie nur hören können, und ich will Ihnen helfen, den Schleier der Weltlichkeit zu lüften, der zweifellos Ihr geistiges Ohr noch taub macht. Wollen Sie morgen abend zu mir in meine Wohnung kommen? Wir werden die Angelegenheit dem Herrn im Gebete unterbreiten.«
Das Ganze war ziemlich schauderhaft.
An diesem freundlichen Frühlingsabend, an dem ein erfrischender Wind in den Zweigen der Platanen wehte, hatte Rektor Quarles in seiner Wohnstube die Fenster geschlossen und die Rouleaux heruntergelassen; in diesem Zimmer hingen Bleistiftzeichnungen von Baptistengrößen, standen rote Plüschsessel und verglaste Einheitsbücherschränke, welche die weltlichen Schriften der poetischer veranlagten Geistlichkeit enthielten. Als Helfer im Gebet hatte der Rektor die älteren, fundamentalistischen Expastoren des Lehrkörpers eingeladen und die sanfteren, beredteren Y.M.C.A.-Häupter, die von Eddie Fislinger angeführt waren.
Als Elmer eintrat, lagen sie auf den Knien, die Arme auf den Sitzen umgekehrter Stühle, mit gesenkten Häuptern, alle beteten laut und gemeinsam. Sie sahen zu ihm auf wie alte Weiber, welche die Braut mustern. Er wollte ausreißen. Dann erwischte ihn der Rektor und zwang ihn auf die Knie; er litt, er war verwirrt und wußte nicht, was zum Teufel er beten sollte.
Abwechselnd erzählten sie Gott, was er in dem Fall »unseres so eifrig und ernsthaft suchenden Bruders« tun sollte.
»Wollen Sie jetzt Ihre Stimme im Gebet erheben, Bruder Elmer? Lassen Sie sich ganz einfach los. Denken Sie daran, daß wir alle bei Ihnen sind, daß wir alle Sie lieben und Ihnen helfen wollen«, sagte der Rektor mit knarrender Stimme.
Sie drängten sich nahe an ihn. Der Rektor legte seinen steifen alten Arm um Elmers Schulter. Der fühlte sich an wie ein trockener Knochen, und der Rektor roch nach Petroleum. Eddie schob sich an seine andere Seite und schmiegte sich an ihn. Die anderen krochen heran und tätschelten ihn. Es war schrecklich heiß im Zimmer, und sie waren so nahe – es war ihm zumute, als ob er in ein Spitalzimmer gesperrt wäre. Er blickte auf und sah das lange glattrasierte Gesicht, die dünnen, straffen Lippen eines Geistlichen … dem er jetzt nacheifern sollte.
Es lief ihm vor Entsetzen kalt über den Rücken, doch er versuchte zu beten. Er jammerte: »O mein Herr, hilf mir, zu – hilf mir, zu –«
Er hatte eine großartige Idee. Er sprang auf. Er rief: »Ich glaube, der Geist beginnt zu arbeiten, und vielleicht ist's am besten, wenn ich rausgeh', bißchen rumlauf' und allein bete, während Sie hier bleiben und für mich beten; das könnte helfen.«
»Ich glaube nicht, daß das die richtige Methode wäre«, begann der Rektor, aber das älteste Mitglied des Lehrkörpers meinte: »Vielleicht ist dieser Gedanke vom Herrn geschickt. Wenn der Herr etwas schickt, sollen wir uns nicht einmischen, Bruder Quarles.«
»Das ist richtig, das ist richtig«, verkündete der Rektor, »Sie machen Ihren Spaziergang, Bruder Elmer, und beten angestrengt, und wir bleiben hier und belagern den Thron der Gnade für Sie.«
Elmer stolperte hinaus in die frische reine Luft.
Was auch geschehen mochte, er wollte nicht mehr zurück! Wie ihm ihre weichen, schwabbligen, feuchten Hände zuwider waren!
Er dachte schon daran, den letzten Zug nach Cato zu nehmen und sich einen Trostrausch anzutrinken. Nein, er würde nicht promovieren können, genau in einem Monat, und es dann später schwerer haben, als richtiger, hochfeiner Anwalt mit College-Erziehung aufzutreten.
Also dann nicht promovieren! Alles eher, als zurückzugehen zu diesen ekelhaften Händen, diesem alten Atem, der in sein Ohr blies –
Er würde jemand anhalten, ihm sagen, daß er sich nicht wohl fühlte, mit dieser Botschaft zum Alten schicken und ins Bett kriechen. Erledigt. Er würde eben nicht seinen Ruf kriegen, darauf pfeifen, weiß Gott, und nicht Geistlicher werden.
Aber die Aussicht verlieren, vor Tausenden zu stehen und sie zu rühren, indem man ihnen von der göttlichen Liebe und dem Morgen- und dem Abendstern erzählte – wenn er es nur aushalten könnte, bis er das theologische Seminar hinter sich hätte und im Dienst wäre – dann, wenn irgend ein Eddie Fislinger versuchen sollte, in sein Studierzimmer zu kommen und ihm in den Hals zu atmen – er würde rausfliegen, wahrhaftigen Gotts!
Er merkte, daß er an einem Baum lehnte, kleine Zweige abriß, und daß unter einer Straßenlampe Jim Lefferts stand und ihn ansah.
»Du siehst krank aus, Höllenhund«, sagte Jim.
Elmer bemühte sich würdevoll zu erscheinen, gab es aber bald auf und stöhnte: »Ach, das bin ich auch! Was hab' ich mich denn überhaupt in dieses Religionszeug eingelassen?«
»Was tun sie dir denn? Ist egal; brauchst mir's nicht zu sagen. Du mußt was trinken.«
»Bei Gott, das muß ich!«
»Ich hab' ein Quart erstklassigen Kornbranntwein von einem Pascher, den ich hier auf dem Land aufgetrieben hab', und mein Zimmer ist grad in diesem Block. Komm.«
Während der ersten Schlucke war Elmer still, er war verwirrt und suchte Halt an Jim, der ihn schon aus diesen Schrecken herausführen würde.
Aber er war nicht mehr gewohnt zu trinken, und der Branntwein wirkte schnell. Als er die Hälfte des zweiten Glases getrunken hatte, rühmte er sich seiner Kirchenberedsamkeit und ließ Jim wissen, daß im Terwillinger-College noch nie ein so versprechender Redner aufgetreten wäre, daß man gerade jetzt für ihn betete, auf ihn wartete, der Rektor und die ganze Anstalt!
»Aber«, in schüchterner Rückkehr zur Demut, »ich denke, du wirst wohl meinen, ich soll vielleicht nicht zu ihnen zurück.«
Jim stand am offenen Fenster und sagte langsam: »Nein. Ich meine jetzt – es wird besser sein, du gehst zurück. Ich hab' paar Pfefferminzplätzchen. Das wird den Schnapsgeruch bißchen wegnehmen. Leb wohl, Höllenhund.«
Er hatte sogar über den alten Jim gesiegt!
Er war Herr der Welt, und nur ein ganz kleines bißchen betrunken.
Stolz und glücklich schritt er hinaus. Alles war einfach wunderschön. Wie hoch die Bäume waren! Was für ein herrliches Drogeriefenster mit diesen vielen schimmernden neuen Magazinumschlägen! Dieses Klavier dort weit weg – zauberhaft. Was für entzückende junge Frauen waren doch die Kommilitoninnen! Was für nette und starke Männer die Studenten! Er war mit allem in Frieden. Was für ein wirklich guter Kerl er war! Er hatte alle seine Gemeinheiten verloren. Wie freundlich war er zu diesem armen einsamen Sünder, Jim Lefferts, gewesen. Andere mochten über Jims Seele verzweifeln – er würde das nie tun.
Armer alter Jim. Sein Zimmer hatte schrecklich ausgesehen – dieser enge, kleine Raum mit einem Feldbett; alles in Unordnung; auf einem Bücherhaufen hatten ein paar Schuhe und eine Maiskolbenpfeife gelegen. Armer Jim. Er würde ihm verzeihen. Hinübergehen und das Zimmer für ihn aufräumen.
(Nicht, daß Elmer je ihr früheres Zimmer aufgeräumt hätte.)
Himmel, was für eine reizende Frühlingsnacht! Wie blendend diese Burschen alle waren, der Alte und alle, daß sie einen Abend für ihn opferten und für ihn beteten.
Warum war ihm so herrlich zumute? Natürlich! Der Ruf war gekommen! Gott war zu ihm gekommen, wenn auch nur geistig, nicht körperlich, soweit er sich besinnen konnte. Der Ruf war gekommen! Er konnte losgehen und die Welt beherrschen!
Er stürzte in das Haus des Rektors; er schrie schon an der Tür, aufrecht, während sie knieten und wie Mäuse zu ihm aufschauten: »Er ist gekommen! Ich spür's in allem! Gott hat mir ganz einfach die Augen geöffnet und mir gezeigt, was für eine wunderbare alte Welt das ist, und 's ist grade, als hätt' ich seine Stimme hören können: ›Willst du nicht alle lieben und ihnen helfen, glücklich zu sein? Willst du ganz einfach weiter selbstsüchtig sein, oder hast du Sehnsucht, zu – allen zu helfen?‹«
Er hielt ein. Sie hatten schweigend zugehört, mit interessiert geächzten »Amen, Bruder.«
»Wirklich, das war schrecklich ergreifend. Irgendwie, durch irgendwas ist mir viel wohler zumute, als wie ich von hier weggegangen bin. Ich bin sicher, daß es ein richtiger Ruf war. Glauben Sie nicht auch, Rektor?«
»Oh, ich bin ganz sicher!« rief der Rektor aus, er stand hastig auf und rieb sich die Knie.
»Ich hab die Empfindung, daß mit unserem Bruder alles in Ordnung ist, daß er jetzt, in diesem heiligen Augenblick, die Stimme Gottes gehört hat und in den Beruf eintritt, der in den Augen Gottes der höchste ist«, bemerkte der Rektor zum Dekan. »Haben Sie nicht auf die Empfindung?«
»Gott sei gelobt«, sagte der Dekan und sah auf die Uhr.
Als sie auf dem Heimweg waren, zu zweit, sagte das älteste Mitglied des Lehrkörpers zum Dekan: »Ja, es war ein schöner, erhebender Augenblick. Und – hm! – etwas überraschend. Ich hätte kaum erwartet, daß der junge Gantry sich mit den sanften Wonnen des Heils zufriedengeben wird. Hm! Einen merkwürdigen Pfefferminzgeruch hatte er um sich.«
»Er wird wohl auf seinem Spaziergang in die Drogerie gegangen sein und irgendein zahmes Getränk zu sich genommen haben. Glauben Sie nicht, Bruder«, sagte der Dekan, »daß ich mit diesen zahmen Getränken einverstanden bin. So unschuldig sie an sich sind, können sie doch zu leichtsinnigem Trinken führen. Ein Mann, der Ingwerbier trinkt – wie soll man dem die schreckliche Gefahr des Biertrinkens nahebringen?«
»Ja, ja«, sagte das älteste Mitglied des Lehrkörpers (er war achtundsechzig Jahre alt, während der Dekan im kindlichen Alter von sechzig stand.) »Sagen Sie, Bruder, wie denken Sie über den jungen Gantry? Über seinen Eintritt in den Dienst? Ich weiß, Sie haben auf der Kanzel das Ihre geleistet, bevor Sie hergekommen sind, wie mehr oder weniger auch ich, aber wenn Sie jetzt ein Junge von ein- oder zweiundzwanzig wären, glauben Sie, Sie würden wieder Geistlicher, so wie die Dinge liegen?«
»Aber, Bruder!« bekümmerte sich der Dekan. »Freilich würd' ich's noch mal! Was ist das für eine Frage! Was würde denn aus unserer ganzen Arbeit im Terwillinger, aus allen unseren Idealen, im Gegensatz zu den großen heidnischen Universitäten, wenn der Dienst nicht das höchste Ideal wäre –«
»Ich weiß. Ich weiß. Ich denk' nur manchmal so – alle die neuen Berufe, die aufkommen. Medizin. Reklame. Die Welt geht weiter! Ich sage Ihnen, Dekan, noch vierzig Jahre, im Jahre 1943 werden die Menschen oben in der Luft sein, mit Flugmaschinen, und vielleicht hundert Meilen in der Stunde machen!«
»Mein lieber Kollege, wenn der Herr gewollt hätte, daß die Menschen fliegen, hätte er uns Flügel gegeben.«
»Aber es sind Prophezeiungen im Buch –«
»Die beziehen sich lediglich auf geistiges und symbolisches Fliegen. Nein, nein! Es tut nie gut, den deutlichen Zwecken der Bibel zu widersprechen, und ich könnte Ihnen hundert Stellen ausfindig machen, die unzweifelhaft beweisen, daß der Herr wünscht, wir sollen hier auf der Erde bleiben, bis zu jenem Tage, da wir im Fleische zu ihm erhoben werden sollen.«
»Hm! Vielleicht. Na, da ist meine Ecke. Gute Nacht, Bruder.«
Der Dekan kam in sein Haus. Es war ein sehr kleines Haus.
»Wie war's?« fragte seine Frau.
»Herrlich. Der junge Gantry hat anscheinend einen nicht mißzuverstehenden göttlichen Ruf bekommen. Irgend etwas traf ihn, das ihn ganz erhob. Er hat viel Kraft. Nur –«
Der Dekan setzte sich nervös in einen Schaukelstuhl mit geflochtenem Sitz, legte seine Schuhe ab, ächzte und zog seine Pantoffel an.
»Nur, zum Kuckuck, ich kann mich ganz einfach nicht dazu überwinden, ihn gern zu haben! Emma, sag mal: Wenn ich jetzt so alt wäre wie er, glaubst du, daß ich in den Dienst ginge, so wie's heute ist?«
»Aber, Henry! Was in aller Welt bringt dich dazu, so was zu sagen? Natürlich würdest du! Ja, wenn's nicht so wäre – was hätte unser ganzes Leben für einen Sinn, alles, was wir aufgegeben haben, und so?«
»Ach, ich weiß. Ich hab' nur bißchen gedacht. Manchmal überleg' ich, ob wir wirklich soviel aufgegeben haben. Es kann auch einem Geistlichen nichts schaden, wenn er sich mal ins Gesicht sieht! Alles in allem, die zwei Jahre, die ich im Teppichgeschäft war, bevor ich ins Seminar ging, hab' ich mich nicht sehr gut gestanden. Vielleicht hätt' ich auch nie mehr verdient als jetzt. Aber wenn ich könnte – angenommen, ich hätte ein großer Chemiker werden können? Würde das nicht (wohl gemerkt, ich spekuliere nur, als Psychologe) – würde das nicht bedeutend besser sein, als Jahr für Jahr die Studenten mit ihren ewig gleichen verdammten Fragen, immer und immer wieder – und jedesmal tun sie so erfreut und überrascht und wichtig damit! – oder Jahr für Jahr immer wieder auf der Kanzel zu stehen und zu wissen, daß die Gemeinde keine Ahnung mehr davon hat, was du gesagt hast, sieben Minuten, nachdem du's gesagt hast?«
»Aber, Henry, ich weiß gar nicht, was in dich gefahren ist! Ich glaube, du solltest lieber selber ein bißchen beten, statt auf dem armen jungen Gantry herumzuhacken! Du und ich, wir beide hätten nie zufrieden sein können, außer in einer Baptistenkirche oder in einem richtigen, waschechten Baptisten-College.«
Die Frau des Dekans hörte auf die Handtücher zu stopfen und ging hinauf, um ihren Eltern gute Nacht zu sagen.
Diese lebten bei ihr, seitdem ihr Vater sich im Alter von fünfundsiebzig Jahren von seiner Landpfarre zurückgezogen hatte. Er war vor dem Bürgerkrieg Missionar in Missouri gewesen.
Ihre Lippen hatten sich bewegt, ihre Augenbrauen hatten gearbeitet, während sie die Handtücher stopfte; ihre Augenbrauen waren noch immer zusammengezogen, als sie in das Zimmer trat und ihrem Vater in die tauben Ohren schrie:
»Zeit zum Schlafengehen, Papa. Und für dich auch, Mama.«
Jedes von ihnen nickte auf seiner Seite der Heizung, die seit Monaten nicht warm war.
»Schön, Emmy«, piepste der Alte.
»Hör mal, Papa – sag mir: ich hab' drüber nachdenken müssen: wenn du heute ein junger Mann wärst, würdest du in den Dienst gehen?«
»Natürlich würd' ich! Was ist das für eine Idee! Der prächtigste Beruf, den ein junger Mann haben kann. Eine Idee! Gute Nacht, Emmy!«
Aber als seine alte Frau seufzend ihr Korsett ablegte, klagte sie: »Ich weiß nicht, ob du würdest oder nicht wenn ich mit dir verheiratet wäre – was gar nicht so sicher ist, ein zweites Mal – und wenn ich was dreinzureden hätte!«
»Was sicher ist! Sei nicht dumm. Natürlich würd ich.«
»Ich weiß nicht. Fünfzig Jahre hab' ich's mitgemacht, und nie hab' ich's ganz fertig gebracht, mich nicht wütend zu ärgern, wenn die Damen von der Kirche rübergekommen sind und mir jeden kleinen gehäkelten Schoner bekrittelt haben, den ich auf den Sesseln hatte und irgendwas Fürchterliches sagen mußten, wenn ich 'nen Hut oder 'nen Schal hatte, der auch nur ganz klein wenig modisch war. ›Das paßt nicht für die Frau eines Geistlichen.‹ Der Deibel soll sie holen! Und mir haben immer Hüte mit paar netten leuchtenden Farben gefallen. Ach ja, ich hab' ganz ordentlich drüber nachgedacht. Du warst immer 'n mächtiger Prediger, aber, wie ich dir schon gesagt hab' –«
»Hast du schon gesagt.«
»– ich hab' nie begreifen können, wie du, wenn du auf der Kanzel warst, wirklich alles über diese hohen und großmächtigen und wunderbaren Sachen wissen konntest, und wenn du dann nach Haus gekommen bist, hast du nie genug gewußt, und hast nie genug lernen können, um den Hammer zu finden, oder 'n anständiges Maisbrot zu machen oder 'ne Reihe Zahlen zweimal gleich zu addieren, oder Oberammergau auf der Karte von Österreich zu finden.«
»Deutschland, Frau! Ich bin schläfrig!«
»Und die ganzen Jahre so zu tun, als ob wir besonders gut wären, wo wir doch die ganze Zeit nichts weiter als gewöhnliche Leute waren! Bist du nicht froh, daß du wenigstens jetzt 'n einfacher Mensch sein kannst?«
»Vielleicht ist das ausruhsam. Aber das heißt nicht, daß ich's nicht wieder tun würde.« Der alte Mann grübelte lange. »Ich glaube, ich würde. Auf jeden Fall hat's keinen Sinn, die jungen Leute vom Eintritt in den Dienst abzuschrecken. Irgendwer muß doch das Evangelium predigen, nicht?«
»Wahrscheinlich. Du meine Zeit. Fünfzig Jahre, seit ich einen Prediger geheiratet hab'! Und wenn ich wenigstens jetzt über die jungfräuliche Geburt Bescheid wüßte! Fang nur nicht zu erklären an! Herr Jeses, wie oft hast du mir's schon erklärt! Ich weiß, es ist wahr – 's steht in der Bibel. Wenn ich's nur glauben könnte! Aber –«
»Mir wär's recht gewesen, wenn du dich in der Politik versucht hättest. Wenn ich doch bei einem Senator hätt' sein können, wenigstens einmal, bei einem Bankett oder so was, wenigstens einmal, in 'nem hübschen leuchtend roten Kleid mit Goldschuhchen, dann wär' ich ja gern wieder zurückgegangen zu meiner Wolle und zum Fußbodenscheuern und zum Zuhören bei deinem Predigtaufsagen, draußen im Stall, vor dem alten Gaul, den wir so viele Jahre gehabt haben – ach, Herr Jeses, wie lang ist der jetzt schon tot? Das muß sein – ja, 's sind siebenundzwanzig Jahre –
»Warum ist das nur in der Religion, daß die Sachen, die man glauben muß, gegen alle Erfahrung sind? Jetzt, zum Deibel, geh weg und erzähl mir nicht wieder. ›Ich glaube, weil es unmöglich ist‹! Glauben, weil's unmöglich ist! Hä! So ist's richtig für einen Geistlichen!
»Du liebe Zeit, ich hoff', ich werd' nicht so lang leben, daß ich noch meinen Glauben verlier'. Scheint ja, je älter ich werd', desto weniger kann ich mich über alle die Prediger aufregen, die von der Hölle reden – bloß haben sie sie nie gesehen.
»Siebenundzwanzig Jahre! Und wir hatten das alte Roß doch schon so lange vorher. Mein, was konnte der aushauen – den Einspänner hat er zerfetzt –«
Sie waren beide eingeschlafen.