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Er hatte zwei Tage zur Vorbereitung seiner ersten Predigt und zum Auspacken seines Koffers, seiner Taschen und der Bücher, die er in Zenith erstanden hatte.
Seine Besitztümer paßten nicht recht zueinander. Er hatte einen schönen neuen Gehrock, drei herrliche Straßenanzüge, Lackschuhe, einen feinen steifen Hut, einen prachtvollen Zylinder, aber er besaß nur zwei Garnituren Wäsche, beide zerrissen. Seine Socken waren aus schwarzer Seide, an den Zehen durchlöchert. Für die äußere Brusttasche hatte er seidene Taschentücher; aber für den Gebrauch nur Baumwollfetzen, die am Rande eingerissen waren. Er besaß Parfüm, Haaröl, Talkumpuder; seine Manschettenknöpfe waren aus dickem Gold; aber als Schlafrock benützte er seinen Mantel; seine Pantoffeln waren zerfranste Lumpen; und die Uhr, die er an einer Gold- und Platinkette trug, war ein Eindollar-Wecker.
Er hatte sich eine nützliche theologische Bibliothek angeschafft. Er hatte die fünfzig Bände der Ausleger-Bibel gekauft – eine Quelle fertiger Predigten – antiquarisch für $ 13.75. Er hatte die Predigten von Spurgeon, Jefferson, Brooks und J. Wilbur Chapman. Er war bereit, sich von diesen Meistern führen zu lassen und nicht unbedingt seine eigenen Ideen der Welt aufdrängen zu wollen. Er hatte ein sehr nützliches Buch von Bischof Aberman, »Die wahre Erscheinung des Bösen«, das jungen Predigern riet, die Sünde zu vermeiden. Elmer hatte die Empfindung, daß dies in seinem neuen Leben von außerordentlichem Nutzen sein würde.
Er besaß ein Lexikon – er sah sich gern die kolorierten Tafeln an, auf denen Edelsteine, Flaggen, Pflanzen und Wasservögel abgebildet waren; er hatte ein Bibellexikon, eine Konkordanz, eine Geschichte der Methodistenkirche, eine Geschichte der protestantischen Missionen, Kommentare zu den einzelnen Büchern der Bibel, einen Grundriß der Theologie und Dr. Argyles »Der Hirte und seine Herde«, das ihn belehrte, wie man Kirchensammlungen vergrößern, Chöre einüben, sich Bewegung machen, Diakone versöhnen, und Pappmodelle von Salomos Tempel verfertigen könne, um die Kleinen in der Sonntagsschule zur Heiligkeit zu führen.
Er besaß tatsächlich eine ausreichende Bibliothek – »Gottes Artillerie in Schwarz-weiß«, wie Bischof Toomis es witzig genannt hatte – die ihn über jedes Detail in der Praxis des professionellen Guten Mannes informieren konnte. Er würde in der Lage sein, Predigten zum Nutzen derer in seiner Herde herzustellen, die vielleicht einen heimlichen Wunsch haben könnten, am Sabbath Magazine zu lesen. So geführt, konnte er die Kirchenmitgliedschaft vergrößern; konnte er der irrenden Jugend Rat erteilen; konnte er Missionsfonds erheben, auf daß die Heiden in Kalkutta und Peking die Möglichkeit bekämen, zu werden wie der Reverend Elmer Gantry.
Obgleich Cleo ihn auf eine Fahrt durch die Umgebung mitnahm, verwendete er den größten Teil der Zeit bis zum Sonntag zur Wiederauffrischung einer Predigt, die er oft und mit Erfolg bei Sharon verwendet hatte. Der Text war aus den Römern I, 16: »Denn ich schäme mich des Evangeliums von Christo nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig machet alle, die daran glauben.«
Als Elmer am Sonntagmorgen zur Kirche kam, hoch und breit, ernst und würdevoll, das Gesicht in ein freundliches Lächeln gelegt, mit in der Sonne strahlendem Gehrock, eine Bibel unter dem Arm, freute er sich über die Mengen, die in die Kirche drängten. Die Straße stand voller ländlicher Einspänner, auch ein oder zwei Fords waren da. Als er, um hinter die Kirche zu kommen, an einer Gruppe an der Tür vorbeiging, rief man herzlich: »Guten Morgen, Bruder!« und: »Schöner Tag, Reverend!«
Cleo wartete auf ihn mit dem Chor – da waren Miss Kloof, die Schullehrerin, Mrs. Diebel, die Frau des Werkzeughändlers, Ed Perkins, der Warenbote Mr. Benhams, und Ray Faucett, der Butterhersteller in der Molkerei.
Cleo hielt seine Hand und freute sich: »Herrlich viel Menschen sind heute da! Ich bin so froh!«
Gemeinsam sahen sie durch die Kanzleitür in das Auditorium, und fast hätte er seinen Arm um ihre feste Taille gelegt … Es hätte ganz natürlich gewirkt, sehr angenehm, richtig und erfreulich.
Als er zur Kanzel hinausmarschierte, war die Kirche voll; zehn bis zwölf Leute standen. Alle atmeten tiefer vor Bewunderung. (Später erfuhr er, daß dem letzten Pastor seine falschen Zähne und eine Neigung zum Winseln Schwierigkeiten gemacht hätten.)
Er sang vor.
»Vorwärts jetzt!« lachte er. »Ihr müßt euern neuen Prediger begrüßen! Das macht ihr am besten, wenn ihr eure Lungen mächtig aufpumpt und auf Deibel komm raus singt! Ihr könnt schon fest Lärm machen. Legt nur ordentlich los!«
Er selbst ging mit gutem Beispiel voran, seine tiefe Stimme rollte in den Hymnen heraus, die er immer geliebt hatte: »Gern erzähl' ich die Geschichte« und »Mein Glaube siehet auf zu Dir«.
Er betete kurz – er war der Gebete müde, in denen der Priester weitschweifig Gott erklärte, daß Gott wirklich Gott sei. Das sei, sagte er, sein erster Tag bei seiner neuen Herde. Möge der Herr ihm die Möglichkeit geben, ihnen seine Liebe zu zeigen und seinen Wunsch, ihnen zu dienen.
Vor seiner Predigt blickte er von Bruder zu Bruder. Er liebte sie alle, in diesem Augenblick; sie waren sein Regiment, er ihr Oberst; seine Schiffsmannschaft, er ihr Skipper; seine Patienten, er der gute Arzt. Er begann langsam; seine gewaltige Stimme schwoll zu triumphierender Sicherheit an, während er sprach.
Stimme, Sicherheit, Auftreten, Übung, Gewalt – das alles besaß er. Niemals hatte er seine Rolle so sehr geliebt; niemals hatte er so gut gespielt; niemals war er sich solcher Lauterkeit seines komödiantischen Instinkts bewußt gewesen.
Er hatte eine gesunde Lehre für die älteren Glaubensfesten. Mit tröstlicher Gewißheit predigte er, daß die Sühne das Erhabenste in der Welt sei. Sie mache die Elendesten und Armseligsten Königen und Millionären gleich; sie fordere von den Erfolgreichen, daß sie aus jeder Handlung eine Anerkennung der Sühne machen. Für die jungen Leute hatte er viele Anekdoten, und er scheute sich nicht, sie zum Lachen zu bringen. Er erzählte wohl den traurigen Vorfall mit dem Jungen, der beim Fischen am Sonntag ertrank, er gab ihnen aber auch die komische Geschichte von dem Burschen, der erklärte, er würde nicht in die Schule gehen, »weil es im zweiunddreißigsten Psalm heiße, daß der Herr ihn auf der grünen Aue weide, und er das ganz entschieden der Schule vorziehe.«
Für alle, aber insbesondere für Cleo, die an der Orgel saß, die Hände im Schoß gefaltet, mit treuen Augen, schwang er sich zu Poesie auf.
Die frohe Botschaft des Evangeliums zu predigen, ah! Das sei nicht, wie die Sündigen behaupten, etwas Schwaches, Heuchlerisches, Scheinheiliges! Es sei eine Arbeit für starke Männer und entschlossene Frauen. Dafür hätten die Methodistenmissionare dem grimmen Löwen und den schleichenden Fiebern des Dschungels, der tödlichen Kälte der Arktis, der versengenden Wüste und den Schlachtfeldern Trotz geboten. Sollten wir weniger heroisch sein als diese? Hier, jetzt, in Banjo Crossing, gebe es keinen geschäftlichen Erfolg, der so erhebend, keine verzweifelte Notdurft kranker Freunde, die so dringend wäre, wie der Ruf, verblendeten und zugrunde gehenden Sündern von der Notwendigkeit der Reue zu sprechen.
»Reue – Reue – Reue – im Namen des Herrn, unseres Gottes!«
Seine stolze Stimme trompetete, und in Cleos Augen standen verzückte Tränen.
Fraglos war es die beste Predigt, die man jemals in Banjo Crossing gehört hatte. Und das sagten sie ihm auch, als er freundliche Händedrucke mit ihnen an der Tür tauschte. »Ihre Predigt hat mir 'ne Menge Freude gemacht, Reverend!«
Und Cleo kam zu ihm, beide Hände ausgestreckt; fast hätte er sie geküßt.
Die Sonntagsschule wurde nach der Morgenandacht abgehalten. Elmer beschloß, nicht jede Woche der Sonntagsschule beizuwohnen – »nicht ums Verrecken; vorm Essen noch 'n Nicker machen« – aber heute Morgen war er da, leutselig und gefühlsüberströmend und erfreute die Kleinen durch eine strahlende kurze Ansprache, in der er ihnen riet, die Wahrheit zu sprechen, Vater und Mutter zu folgen und auf die Offenbarungen ihrer Lehrer achtzugeben, als da waren Miß Mittie Lamb, die Putzmacherin, und Oskar Scholtz, der Verwalter des Kartoffelmagazins.
Nach Banjo Crossing war noch nichts von den modernen Sonntagsschulmethoden gedrungen, die in den größeren Kirchen, nach weiteren zehn Jahren, die Schüler ebenso sorgfältig wie in öffentlichen Schulen trennen und Einzelklassen für die Lehrer herstellen sollten. Aber mindestens waren die Kinder unter zehn Jahren von den älteren getrennt, und diese Abteilung der Jüngeren hatte Cleo unter sich.
Elmer sah ihr zu, wie sie von Kursus zu Kursus ging; er beobachtete, wie natürlich und zärtlich die Kinder mit ihr sprachen.
»Sie würde 'ne großartige Frau und Mutter sein – 'ne großartige Frau für 'nen Prediger, 'ne großartige Frau für 'nen Bischof«, bemerkte er.
Die Abendandacht in der Methodistenkirche Banjo Crossings hatte gewöhnlich keine vierzig Menschen angezogen, aber heute abend waren hundert da, als Elmer tastend von der altmodischen Kirchenpraxis abging und mit etwas begann, das später zu seinen berühmten Munteren Sonntagsabenden werden sollte.
Er wählte die lebhafteren Hymnen: »Vorwärts, christliche Soldaten«, »Wunderbare Lebensworte«, »Verbreite Licht, dort wo Du bist« und den triumphierenden Päan »Wenn wir drüben aufgerufen werden, will ich nicht fehlen«. Statt sie langsam sich durch viele Strophen winden zu lassen, ließ er sie nur eine von jeder Hymne singen. Dann erschreckte er sie, indem er brüllte: »Jetzt will ich aber nicht haben, daß es irgendwen von Euch geniert, oder daß einer sagt, es gehört sich nicht in der Kirche, weil ich den Geist erwecken will und vielleicht dem alten Teufel Beine machen werd'! Denkt daran, daß der Herr, der den Sonnenschein und die funkelnden Hügel geschaffen hat, den Leuten beigestanden sein muß, die die lustigen Lieder geschrieben haben, und deshalb möcht' ich, daß Ihr alle lustig und munter ›Dixie‹ singt! Jawoll! Dann, für die älteren Leute wie mich wollen wir eine Strophe von diesem prächtigen alten Gesang singen: ›Eine feste Burg ist unser Gott‹.«
Einige sahen entsetzt aus; aber die Jüngeren, die Burschen und die Mädchen, die sich in den hinteren Bänken zusammengefunden hatten, waren entzückt. Er ließ sie den Chor von ›Dixie‹ immer wieder singen, bis alle außer ein oder zwei rheumatischen Heiligen freundlich aussahen.
Sein Text war aus den Galatern: »Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede.«
»Hört nie auch nur eine Sekunde lang«, befahl er, »auf diese windelweichen Gesellen, die auf beiden Schultern Wasser tragen, die nach beiden Seiten schielen, die Angst vor der Strenge der guten alten Methodistenlehre haben und Euch erzählen, daß Einzelheiten nichts zu bedeuten haben, daß die Dogmen und die Disziplin nichts zu bedeuten haben. Sie haben etwas zu bedeuten! Die Rechtfertigung hat etwas zu bedeuten! Die Taufe hat etwas zu bedeuten. Es hat etwas zu bedeuten, daß die Sündigen und Weltlichen sich für diesen entsetzlichen stinkenden Tabak und diesen wahnwitzigen Alkohol einsetzen, der die Menschen wie Mörder werden läßt, daß wir Methodisten aber uns rein, unbefleckt und unbesudelt erhalten.
»Aber heute abend, an diesem ersten Tag, da ich mit Euch bekannt werde, Brüder und Schwestern, wünsche ich nicht auf diese Einzelheiten einzugehen. Ich will vielmehr auf das Fundamentale kommen, das von diesen Einzelheiten nur ausgeführt wird, und dieses Fundamentale – was ist es? Was ist es? Was ist es anderes als Jesus Christus und seine Liebe für all und jeden von uns!
»Liebe! Liebe! Liebe! Wie schön ist schon das Wort! Nicht fleischliche Liebe, sondern die göttliche Gegenwart. Was ist die Liebe? Höret! Sie ist der Regenbogen, der sich in all seinen prächtigen vielfarbigen Tinten wölbt, die finsteren Wolken des Lebens erleuchtend und wieder froh und hell machend. Sie ist der Morgen- und der Abendstern, der in frohem Funkeln, dort auf dem ehrfürchtigen Horizont, die Herzen der Natur aufruft zu erhabener Freude an Gottes wundersamen Firmament! Rings um die Wiege des Kindleins, das so ruhig schläft, während über ihm in fast erstarrter Bewunderung seine liebende Mutter hängt, leuchtet das Wunder der Liebe, und beim letzten traurigen Ende, die Herzen tröstend, in denen ihre unsterbliche Dauer geborgen ist, auch rings um das stille Grab erstrahlet die Liebe.
»Was ist große Kunst – ich spreche nicht von gewöhnlichen Bildern, sondern von jenen berühmten alten Meistern mit ihren großen sittlichen Lehren – was ist die Mutter der Kunst, die Inspiration des Dichters, des Patrioten, der Philosophen und der großen Männer der Tat, seien sie nun Geschäftsleute oder Staatsmänner – ja, was inspiriert jede ihrer Leistungen denn die Liebe?
»Oh, hört Ihr nicht manchmal, wenn Ihr still in der Dämmerung über die Wiesen geht, hört Ihr dann nicht, als käme er von irgendeiner fernen, verborgenen Stelle, einen Klang von Melodie? Wenn unsere liebe Schwester hier das Offertorium spielt, glaubt Ihr da nicht manchmal das ferne Rauschen von Engelsschwingen zu hören? Und was ist die Musik, die liebliche, liebliche Musik, was ist schöne Melodie? Ah, die Musik, sie ist die Stimme der Liebe! Ah, sie ist der Zauberer, der erlauchte Könige aus einfachen Menschen wie uns macht! Sie ist der Duft der wundersamen Blume, sie ist die Kraft des Athleten, der stark ist und mächtig, inmitten der Hitze und des Staubes im tapferen Kampfe auszuharren. Ah, Liebe, Liebe, Liebe! Ohne sie sind wir weniger denn Tiere; mit ihr, wird die Erde zum Himmel, sind wir wie die Götter!
»Ja, das ist es, was die Liebe – geschaffen von Christus Jesus und durch alle Generationen überliefert von seiner Kirche, insbesondere, will mich bedünken, von der großen, ausgedehnten, demokratischen, liberalen Brüderschaft der Methodistenkirche – das ist es, was die Liebe für uns bedeutet.
»Ich erinnere mich an einen Vorfall in meiner frühen Jugend, als ich an der Universität war. Da hatte ich einen jungen Mann zum Kommilitonen – ich will seinen vollen Namen nicht nennen, nur erwähnen, daß wir ihn Jim riefen – einen jungen Mann, wohlgefällig dem Auge, ausgerüstet mit allen Fähigkeiten zum wahren, christlichen Dienst, aber ach! so besessen von kindischem Stolz auf puren Verstand, auf puren superklugen Egoismus, daß er nicht willens war, sich vor der Quelle allen Verstandes zu demütigen und Jesum als seinen Heiland anzuerkennen.
»Ich hatte Jim sehr gern – ja, ich war sogar bereit, ein Zimmer mit ihm zu beziehen, in der Hoffnung, ich könnte ihn zu Vernunft bringen und erreichen, daß er der Erlösung teilhaftig werde. Aber er war ein Mann, der Bücher von Leuten wie Ingersoll und Thomas Paine gelesen hatte – törichten, aufgeblasenen Leuten, die da dachten, sie wüßten mehr als Gott der Allmächtige! Er pflegte ihre schmutzigen, vom Teufel eingegebenen Rasereien zu zitieren, statt auf den kühlen, heilenden Strom zu lauschen, der sich segensvoll aus der Heiligen Bibel ergießt. Nun, ich stritt und stritt und stritt – das zeigt wohl, daß ich selbst ziemlich jung und töricht war! Aber eines Tages kam mir eine Eingebung zu etwas Größerem und Besserem, als alle Argumente sind.
»Ich sagte ganz einfach zu Jim, ganz plötzlich, ›Jim‹, sagte ich, ›liebst du deinen Vater?‹ (Ein feiner alter christlicher Herr war sein Vater, ein Landarzt mit jenem Heroismus, jener Selbstaufopferung, jener großen Erfahrung, die der Landarzt hat.) ›Liebst du deinen Vater?‹ fragte ich ihn.
»Natürlich hatte Jim seinen Vater schrecklich gern, und er war ein bißchen verletzt, daß ich ihn so etwas überhaupt fragen konnte.
»›Freilich, natürlich lieb' ich ihn!‹ sagte er. ›Also, Jim‹, sagte ich, ›liebt dein Vater dich?‹ ›Aber, natürlich liebt er mich‹, sagte Jim. ›Dann paß mal auf, Jim‹, sagte ich; ›wenn dein irdischer Vater dich lieben kann, um wieviel mehr muß dich dein Vater im Himmel lieben, der alle Liebe geschaffen hat, um wieviel mehr muß er sich um dich sorgen und bekümmern!‹
»Nun, das erledigte ihn glatt. Er vergaß alles Superkluge, das er gelesen hatte. Er sah mich bloß an, und ich konnte eine Träne in seinen Augen zittern sehen, als er sagte: ›Ich verstehe jetzt, wie du's meinst, und möchte dir sagen, Freund, daß ich Jesus Christus als meinen Herrn und Meister anerkennen will!‹
»Oh, ja, ja, ja, wie schön ist sie, die goldene Pracht der göttlichen Liebe! Fühlt ihr sie nicht? Wörtlich meine ich das! Ich meine nicht ganz einfach eine heuchlerische, träge, mechanische Annahme, sondern eine leidenschaftliche –«
Er hatte sie!
Es war lustig gewesen zu beobachten, wie die alten Fanatiker, die sich dem Singen von »Dixie« entgegengesetzt hatten, unter den Bann gerieten und sich seiner Macht fügten. Er hatte einen nach dem anderen direkt angepredigt; er hatte sie alle erobert.
Nachher drückten sie ihm die Hand noch wärmer als am Vormittag.
Cleo stand im Hintergrund, hypnotisiert. Als er zu ihr kam, sang sie mit tränenblinden Augen: »Ach, Reverend Gantry, das ist der größte Tag, den unsere Kirche erlebt hat!«
»Hat Ihnen gefallen, was ich von der Liebe sagte?«
»Oh … Liebe … ja!«
Sie sprach wie im Schlafe; sie schien nicht zu wissen, daß er zart ihre Hand hielt; sie schritt neben ihm aus der Kirche hinaus, ohne zu sprechen; er empfand vor ihrer entrückten Heiligkeit ein wenig Scheu.
In seinem Eifer hatte Elmer nicht besonders auf die Sammlung geachtet. Das war nicht Leichtsinn gewesen, denn er kannte seine Technik als professioneller Guter Mann. Aber am ersten Tag, war er überzeugt, mußte er sich als geistiger Führer durchsetzen, und sobald alle das begriffen hätten, würde er darauf sehen, daß sie für die geistige Führerschaft so bezahlten, wie es angemessen war. War nicht der Arbeiter seines Lohnes wert?
Der Empfang zur Begrüßung Elmers fand am nächsten Donnerstagabend im Souterrain der Kirche statt. Von viertel acht, der Zeit, um die sie zusammenkamen, bis viertel neun hatte er mit gewaltigem Händeschütteln zu tun.
Sie sagten ihm, er sei sehr beredt, sehr geistig. Er konnte Cleos Stolz bei diesem Willkomm sehen. Sie hatte Gelegenheit, ihm zuzuflüstern: »Begreifen Sie, wieviel das bedeutet? Die meisten sind gar nicht solche Freunde davon, einen neuen Prediger willkommen zu heißen. Oh, ich bin so froh!«
Bruder Benham führte den Vorsitz im Souterrain, und Schwester Kilween sang »Die Heilige Stadt« als Solo. Das war ziemlich schlimm. Bruder Benham sagte in einer kurzen, zögernden Ansprache, daß sie von Bruder Gantrys Predigten entzückt gewesen seien. Bruder Gantry sagte in einer langen, dahinströmenden Ansprache, daß er von Bruder Benham, den anderen Benhams, der übrigen Gemeinde von Banjo Crossing, der Provinz Banjo, den Vereinigten Staaten von Amerika, von Bischof Toomis und der methodistischen Bischofskirche (Norden) in allen ihren Teilen entzückt sei.
Cleo schloß die Feier mit einem Klaviersolo, und es gab noch viel mehr Händeschütteln. Es schien Regel zu sein, daß jeder der in Reichweite des Pastors kam oder gestoßen wurde, seine Hand jedesmal attackieren mußte, so oft dies auch im Verlauf des Abends geschehen sollte.
Und sie hatten Kuchen und hausgemachtes Eis.
Es war sehr langweilig und, für Elmer, sehr wohltuend. Er fühlte sich aufgenommen, sicher, und bereit für den Beginn seiner Arbeit.
Er hatte Pläne für die Dienstagabend-Gebetsandacht. Er wußte, wie eine Gebetsandacht in Banjo Crossing aussehen würde. Sie würden langsam einige Hymnen singen, und die Getreuen, ein halbes Dutzend, das immer die gleichen Worte gebrauchte, würden in die Höhe fahren und murmeln: »Oh, ich danke dem Herrn, daß er sich mir geoffenbart und mir meine Irrtümer gezeigt hat, und, oh, mögen diejenigen, die sein Licht nicht gesehen haben, und deren Herzen schwer von Sünde sind, sich ihm heute abend zuwenden, so lange sie noch am Leben sind und atmen« – was diese nie taten. Und das verbissen unglückliche Weib in der verschossenen Jacke, im Hintergrund, würde bitten: »Ich brauche die Gebete der Gemeinde zur Errettung meines Mannes aus den Sünden des Rauchens und Trinkens.«
»Ich bin vielleicht,« dachte Elmer, »nicht ein so blendender Gelehrter wie der alte Toomis, aber ich kann eine Menge Nummern und alles Mögliche erfinden, um die Kirche zu erwecken und die Massen anzuziehen, und das ist allerhand mehr wert, als das ganze Geschrei über die Propheten und Theologie!«
Er begann seine »Nummern« mit dieser ersten Gebetsandacht.
Er schlug vor: »Ich weiß, eine Menge von uns wollen Zeugnis ablegen, aber manchmal ist es schwer, etwas Neues auszudenken, wie man die Sachen sagen soll, und deshalb möchte ich etwas Neues vorschlagen. Wir wollen unser Zeugnis ablegen, indem wir Hymnen aussuchen, die gerade ausdrücken, was wir über den lieben Heiland und seine Hilfe denken. Dann können wir uns alle im frohen Zeugnis vereinen.«
Es schlug ein.
»Das ist ein feiner Kerl, der neue Methodistenprediger«, sagten die Dörfler in dieser Woche. Sie waren ziemlich schüchtern, unbeholfen und scheinbar gleichgültig, aber sie spionierten ihn in aller Freundlichkeit aus, gleich bereit, ihn als Nachbarn zu preisen oder als Narren auszulachen.
»Ja«, sagten sie; »ein feiner Kerl, und mächtig schlau, ein guter Redner und ein wirklich starker Mann. Der sieht einem gerade ins Auge. Nur eins macht mir Sorgen, er ist zu gut, um hier bei uns zu bleiben. Und wenn er so gut ist, warum haben sie ihn dann überhaupt hierher geschickt? Ob er trinkt?«
Elmer, der sein Paris, Kansas, und sein Gritzmacher Springs kannte, hatte erraten, daß sie genau so denken würden, und als er von Laden zu Laden, von Haus zu Haus Hände schüttelte, achtete er darauf, zu erklären, daß er viele Jahre lang als Evangelist gearbeitet, und sich jetzt, auf den Rat seines guten alten Freundes, des Bischofs Toomis, in diesem Jahr für einen freundlichen kleinen Flecken entschlossen hätte, um für seine kommenden Arbeiten auszuruhen.
Er war emsig, aber vorsichtig in seinen Seelsorgerbesuchen bei den Frauen. Er lobte ihren Pfefferkuchen, ihre Lehnstühle, ihre Niagara-Souvenirs und die Aufgabenhefte ihrer Kinder. Er freundete sich, so gut es ging, mit allen Männern an, mit dem Dorfarzt, dem Dorfhomöopathen, dem Rechtsanwalt, dem Stationsbeamten und dem Personal in Benhams Laden.
Aber er sah, daß er, wenn er die Stellung einnehmen wollte, die ihm im Reich der Religion zukam, mehr studieren, mehr Gedanken und noch viel mehr neue Worte sammeln müßte, die sich zur Erleuchtung seines Zeitalters zusammenstellen ließen.
Er hatte in Banjo Crossing nicht allzuviel zu tun, und Stunde um Stunde ergab er sich in seinem stillen Zimmer bei der Witwe Clark vertrauensvoll der Gelehrsamkeit.
Er setzte seine theologischen Studien fort; er las alle Predigten von Beecher, Brooks und Chapman; er las täglich drei Kapitel aus der Bibel; und er kam bis zum Buchstaben G im Bibellexikon. Mit besonderem Eifer studierte er die Methodistendisziplin zur Vorbereitung seines Auftretens vor dem Prüfungsausschuß der Jahresversammlung als Anwärter auf volle Mitgliedschaft – volle Anerkennung als Priester.
Die Disziplin, die eine Kombination aus dem methodistischen Gebetbuch und Statuten ist, war nicht immer begeisternd, und Elmer fand einen Mangel an Predigtmaterial und geistiger Regsamkeit in dem Abschnitt:
Die gleichzeitige Empfehlung durch zwei Drittel aller bei den einzelnen Jahresversammlungen anwesenden und stimmenden Teilnehmer, und durch zwei Drittel aller an den Laienwahlversammlungen anwesenden und stimmenden Teilnehmer, soll genügen, um die nächstfolgende Generalversammlung zu ermächtigen, mit Zweidrittelmehrheit jede beliebige der Verordnungen dieser Satzung mit Ausnahme von Artikel X, § 1 zu ändern oder zu ergänzen; und ebenso soll, sooft eine derartige Änderung oder Ergänzung zuerst von einer Generalversammlung mit Zweidrittelmehrheit empfohlen worden ist, diese in Wirksamkeit treten, sobald zwei Drittel aller bei den einzelnen Jahresversammlungen anwesenden und stimmenden Teilnehmer, und zwei Drittel aller bei den Laienwahlversammlungen anwesenden und stimmenden Teilnehmer ihre Zustimmung dazu gegeben haben; das Resultat der Abstimmung soll durch die Generalsuperintendenten verkündet werden.
Besser gefiel ihm aus den Religionsartikeln in der Disziplin:
Das einmal dargebrachte Opfer Christi ist die vollkommene Erlösung, Sühne und Tilgung aller Sünden der ganzen Welt, sowohl der Erbsünde wie der persönlichen Sünden; eine andere Sündentilgung als diese allein gibt es nicht. Dieserhalb ist das Meßopfer, als von welchem es gemeinhin heißt, daß der Priester darin Christum für die Lebenden und Toten darbringt, um Erlösung von Strafe oder Schuld zu erzielen, eine gotteslästerliche Lüge und gefahrvolle Täuschung.
Er war nicht ganz sicher, was das heißen sollte, aber es hatte einen wunderschönen erhebenden Klang. »Gotteslästerliche Lüge und gefahrvolle Täuschung.« Fein!
Er unterrichtete seine erbaute Gemeinde am nächsten Sonntag, daß die Unfehlbarkeit des Papstes »eine gotteslästerliche Lüge und gefahrvolle Täuschung« sei, und sie sprangen fast in die Höhe.
Höchlichst erbauten ihn die »Regeln für das Betragen des Predigers« in der Disziplin:
Sei ernsthaft. Zu deiner Devise mache: »Gottesfurcht im Herrn.« Vermeide alle Leichtfertigkeit, alles Spötteln und törichte Reden. Unterhalte dich wenig mit Frauen und führe dich in ihrer Gesellschaft weise auf … Sage jedem, der unter deiner Obhut steht, was du an seinem Betragen und seinem Charakter für unrichtig hältst, und tue das liebevoll und aufrichtig, so schnell es möglich ist; ansonsten wird es in deinem Herzen schwären.
Als prinzipielle Zeiteinteilung empfehlen wir dir: 1. So oft wie möglich stehe um vier Uhr auf. 2. Von vier Uhr bis fünf Uhr morgens und von fünf bis sechs Uhr abends meditiere, bete und lies die Schrift mit Anmerkungen.
Rotte in unserer Kirche alles Kaufen und Verkaufen von Gütern aus, die nicht die ihnen von der Regierung auferlegte Steuer bezahlt haben …
Rotte Bestechung aus – jedes Annehmen, direkt oder indirekt, für Stimmenabgabe bei welcher Wahl auch immer.
Elmer wurde in all diesem ein Musterbeispiel, außer vielleicht im Vermeiden von Leichtfertigkeit und Spötteln; in völlig weisem Betragen vor Frauen; in der Mitteilung an alle unter seiner Obhut, was er an ihnen für unrichtig hielt – das würde seine ganze freie Zeit in Anspruch genommen haben; im Aufstehen um vier Uhr; und in der Austreibung von Verkäufern geschmuggelter Güter.
Er schrieb an Dekan Trosper in Mizpah um seine Zeugnisse, die von der Jahresversammlung geprüft werden mußten. Er erklärte dem Dekan, er habe ein großes neues Licht gesehen, er habe mit Schwester Falconer gearbeitet, aber der frühe Einfluß Dekan Trospers sei es, der ihn, ein wenig langsam arbeitend, zu seiner gegenwärtigen Vollkommenheit geführt hätte.
Er bekam die Zeugnisse mit einem Brief, in dem der Dekan bemerkte:
»Ich hoffe, daß Sie Ihren neuen Eifer für Rechtschaffenheit nicht übertreiben werden. Es könnte unangenehm für die Leute werden. Ich glaube, mich einer Neigung zum Übertreiben von allem an Ihnen zu erinnern. Als Baptist möchte ich den Methodisten dazu gratulieren, daß sie Sie haben. Wenn Sie wirklich alles meinen, was Sie von Ihrem gegenwärtigen Stand der Gnade sagen – nun, dann lassen Sie sich dadurch nicht abhalten, ordentlich weiter zu beten. Es gibt vielleicht noch immer Tugenden, die Sie erwerben könnten.«
»Na, weiß Gott!« raste der verkannte Heilige und: »Ach, Dreck, was liegt schon dran! Die Zeugnisse hab' ich ja, und er sagt, meinen B. D. kann ich kriegen, wenn ich eine Prüfung mach'. Das Malheur beim alten Trosper ist, daß er einer von den Neunmalgescheiten ist. Der Teufel soll ihn holen!«
Gleichzeitig mit seinen theologischen und kirchlichen Forschungen befaßte Elmer sich auch mit der mehr weltlichen Literatur. Er entlieh Bücher von Cleo und aus der kleinen Dorfbibliothek, die in der Gemeindeschule untergebracht war; und bei seinen gelegentlichen Ausflügen nach Sparta, der nächsten größeren Stadt, kaufte er sogar ein oder zwei Bücher, wenn er gute Ausgaben antiquarisch auftreiben konnte.
Er begann mit Browning.
Er hatte eine Menge von Browning gehört. Er hatte gehört, daß er ein eleganter Dichter und ein begeisternder Denker sei. Aber er selbst konnte nicht so viel an Browning finden. Da waren so viele Zeilen, die er drei- oder viermal lesen mußte, bevor sie einen Sinn bekamen, und dann stand so eine Menge Zeug drin über Italien und alle diese blöden Länder.
Aber Browning lieferte ihm eine Anzahl neuer Worte für das Notizbuch mit schönen Worten und Phrasen, das er seit Jahren führte und als geheime Materialquelle für seine klingendsten öffentlichen Äußerungen gebrauchte. Eine Seite davon ist erhalten geblieben:
Azur – blau
Merowinger – französischer Stamm um 500 n. Chr.
Golgatha – Schauplatz der Kreuzigung
Leigh Hunt – Dichter – 1840 – taugt nichts
Lupine – Blaue Blume
Devastieren – zerstören
Chanson (Spr. Schang-song) – französische Liedart
Z. Beacht.: Ein tüchtiger Mann ist, wer lächeln kann, auch wenn alles zum Deibel geht.
Predigt über den Mann, der behauptet, daß andere Planeten bewohnt – Schmarren. Weil Bibel nichts davon sagt, daß Christus SIE zu erlösen versucht.
Tennyson fand Elmer erbaulicher als Browning. »Maud« gefiel ihm – sie erinnerte an Cleo, war nur nicht so freundlich; und er begeisterte sich an den Totschlägereien und der Moral in den »Idyllen des Königs«. Er machte einen Versuch mit Fitzgeralds Omar, der ihm vom literarischen Klub in Terwillinger empfohlen worden war, und machte eine Entdeckung, die er der Verbreitung durch die Presse für würdig hielt.
Er hatte sagen gehört, Omar sei irreligiös, aber als er las:
An Jahren jung, hatt' ich des Umgangs viel
Mit Heil'gen und Gelehrten, und hörte Streiten groß
Dawider und dafür; doch immerfort
Kam ich heraus zur gleichen Tür, die mich hineingeführt,
erkannte er, daß Omar mit diesem Vierzeiler offenbar sagen wollte, obgleich Lehrer ganz gehörig debattieren könnten, halte er, Omar, an seinem Glauben an Jesus fest.
Dickens war für Elmer eine Offenbarung.
Er hatte keine Ahnung davon gehabt, daß auch vor der Saturday Evening Post publizierte Literatur spannend sein könnte. Er machte sich nicht so viel aus dem Humor – er hatte den Eindruck, daß Mr. Dickens vulgär und nahezu unmoralisch sei, wenn er Pickwick sich betrinken und Mantalini Selbstmordgedanken hegen lasse – aber er liebte das Gefühl. Beim Tod Paul Dombeys hätte Elmer weinen können; als Miss Nickleby ihre Tugend gegen Sir Mulberry Hawk verteidigte, wäre Elmer am liebsten dabei gewesen, sowohl als Pfarrer wie als Athlet, um sie von diesem verruchten Gesellschaftsmenschen zu erretten, der – so typisch für seine Klasse – Jugend und Unschuld verführte.
»Jawohl, mein Lieber, du kannst dich drauf verlassen, das sind großartige Sachen!« jubelte Elmer. »Das ist 'n Schriftsteller, der richtig in die Tiefen der menschlichen Natur hinuntertaucht. Großartig. Ich werd' über ihn predigen, wenn ich diese Bauernschädel so weit gebracht hab', daß sie literarische Predigten vertragen können.«
Aber mit seinen künstlerischen Studien war es nicht allein getan. Er mußte auch die Philosophie bewältigen und stürzte sich auf Carlyle und Elbert Hubbard. Er machte diesem ersten Sprung, der ihn sehr abkühlte, rasch ein Ende; aber die Biographien Mr. Hubbards, die um jene Zeit in Amerika im Schwange waren, begeisterten ihn. Er erfuhr, daß Rockefeller nicht zufällig das Haupt der Standard Oil geworden sei, sondern durch Arbeit, Begabung und frühes Baptistentum. Er erfuhr, daß es Predigten in Steinen gäbe, Erbauung in Farmern, Glückseligkeit in Bankiers und Stil in Adjektiven.
Elmer, der immer in der Öffentlichkeit gelebt hatte wie ein Sperling, konnte es nicht über sich bringen, seine literarischen Schätze für sich zu behalten. Doch mit einemmal war Cleo Benham keine angemessene Gefährtin. Er merkte, daß sie mehr von solcher Belletristik wie »Die Botschaft für Garcia« gelesen hatte als sogar er, und so wurde zu seinem Gefährten auf den Abenteuerfahrten ins Land der Kunst Clyde Tippey, der Reverend Clyde Tippey, der Pastor der Böhmischen Brüderkirche in Banjo Crossing.
Clyde war nicht, wie Elmer, gebildet. Er war von der Hochschule nach dem zweiten Jahr abgegangen, und seitdem hatte er nicht mehr als ein Jahr in einem Seminar der Böhmischen Brüder verbracht. Elmer war nicht sehr für dieses Fraternisieren und Zusammensein mit vielen rivalisierenden Predigern – es war doch seine Aufgabe, nicht wahr, ihnen die Pfarrkinder abspenstig zu machen? Aber es war wundervoll, plötzlich einen Geistlichen zu haben, den er niederschwätzen konnte.
Er besuchte den Reverend Mr. Tippey häufig in dem bescheidenen Häuschen, in dem Clyde (im Alter von sechsundzwanzig Jahren) mit seiner dicken Frau und vier Kindern wohnte. Mr. Tippey hatte hellblaue Augen und trug einen siebenunddreißiger Kragen um einen dreiunddreißiger Hals.
»Clyde«, krähte Elmer, »wenn Sie möglichst viel Leute kriegen und nicht nur ihre seelischen Bedürfnisse befriedigen, sondern ihnen auch 'n reiches, volles, frohes Leben bereiten wollen, müssen Sie ihnen die große Literatur erklären.«
»Ja. Wird schon stimmen. Ich hab' keine Zeit gehabt, viel zu lesen, aber ich glaub's gern, daß 'ne Menge schöner Lehren in der Literatur zu finden ist«, sagte der Reverend Mr. Tippey.
»Und ob! Passen Sie auf, hören Sie sich mal das an! Von Longfellow. Dem Dichter.
Das Leben ist wahr! Das Leben ist ernst!
Und das Grab ist nicht sein Ziel,
und das da – passen Sie nur auf den feinen Schwung da drin auf:
Es mahnt uns aller großen Männer Leben:
Unser Dasein sei ein edles Streben,
Daß, wenn wir einst scheiden von dem Erdenland,
Unsre Spuren bleiben in der Zeiten Sand.
Das hab' ich schon vor langer Zeit im Schullesebuch gelesen, aber ich hab' nie jemand gehabt, der mir hätte zeigen können, was es bedeutet, so wie ich jetzt meiner Gemeinde. Denken Sie mal! ›Das Grab ist nicht sein Ziel!‹ Ja, hören Sie, Longfellow ist doch genau so Prediger, wie Sie oder ich! Was?«
»Ja, das stimmt, ich muß was von seinen Gedichten lesen. Könnten Sie mir das Buch leihen?«
»Aber selbstverständlich, Clyde! Wird 'ne feine Sache für Sie sein, 'n junger Prediger wie Sie muß immer dran denken, wenn Sie einem Älteren erlauben wollen, so zu Ihnen zu reden, daß unsere Erziehung nicht fertig ist, wenn wir anfangen zu predigen. Wir müssen unseren geistigen Horizont erweitern. Verstehen Sie, wie ich's mein'? Und jetzt sollen Sie anfangen, ›David Copperfield‹ zu lesen. Da sind Ihnen mal schöne Stellen drin. Da ist die Szene, wo – dieser David, der hat 'ne Tante, von der alle glauben, daß sie ganz einfach 'n alter Geizkragen ist, aber der arme kleine Bursche, sein Stiefvater – ich hoffe, Sie werden nicht entsetzt sein, wenn 'n Prediger das sagt, aber er war 'n alter Hundsfott, das war er, und er hat den David schrecklich behandelt, einfach schrecklich, und der David ist durchgebrannt und hat das Haus seiner Tante gefunden, und dabei stellt sich raus, daß sie blendend und fabelhaft zu ihm war! Wissen Sie, Ihnen werden einfach die Tränen in die Augen kommen, bei der Stelle, wo er ihr Haus findet und sie ihn nicht erkennt, und er ihr sagt, wer er ist, und dann kniet sie gleich neben ihm nieder – und es wird Ihnen auch zeigen, daß keiner von uns 'n Recht hat, zu glauben, daß andere Leute gemein sind, bloß weil wir sie nicht verstehen. Allerdings! Jawohl, mein Lieber. ›David Copperfield‹. Sie können sicher sein, daß es kein Fehler ist, wenn Sie das Buch lesen!«
»›David Copperfield‹. Den Namen hab' ich schon gehört. Kolossal nett von Ihnen, daß Sie zu mir kommen und davon erzählen, Bruder.«
»Ach, hat nichts zu sagen, durchaus nichts. Ich bin fürchterlich froh, wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, Clyde.«
Elmers Erfolg als literarischer und moralischer Verkündigungsengel für Mr. Clyde Tippey brachte ihn mit neuem Eifer zu seinen Ausgrabungen zurück. Er würde die Welt nicht nur zur Tugend, sondern auch zur Schönheit führen.
Alles in Betracht gezogen, glaubte Elmer in Longfellow die beste Botschaft für diese überraschte und wartende Welt zu finden, und bewerkstelligte es, viele, viele Seiten zu bewältigen, auf denen er feierlich die Stellen anstrich, die er zu sanktionieren gedachte, und in denen nichts von Wein vorkam.
Für nichts zu spät kann's sein,
Eh' nicht das müde Herz den Schlag stellt ein.
Mit achtzig lernte Cato Griechisch, schrieb Sophokles
Den großen Oedipus, und Simonides
Im Kampf der Verse die Gefährten schlug,
Als er schon mehr als achtzig Jahre trug.
Elmer wußte vielleicht nicht sehr viel von Simonides, aber mit diesen lehrreichen Zeilen war er in der Lage, Predigten auf jeder der Kanzeln auszuschmücken, die er hinfort innehaben sollte.
Mit gleichem Triumph arbeitete er sich durch James Russel Lowell, Whittier und Ella Wheeler Wilcox hindurch. Kipling gab er auf, weil er fand, daß es ihm wirklich Freude machte, Kipling zu lesen, und daraus schloß, daß dieser kein guter Dichter sein könne. Aber großartig war es, als er Robert Burns entdeckte.
Dann kollidierte er mit Josiah Royce.
Bischof Wesley R. Toomis hatte Elmer vorgeschlagen, er solle Philosophie lesen, und hatte Royce empfohlen. Er selbst, sagte er, hätte nicht die Möglichkeit gehabt, Royce soviel Zeit zu widmen, wie er gern getan hätte, doch er wüßte, daß hier ein ausgezeichnetes Feld für jeden Abenteurer im Geiste sei. Also kam Elmer aus Sparta mit den zwei Bänden von Royces »Die Welt und das Individuum« und zwei neuen Detektivromanen zurück.
Er würde munter, aber Nutzen ziehend den Royce überfliegen, dann alle möglichen Gedanken auflesen, die er in allen den anderen Philosophen, von denen er reden gehört hatte, finden könnte; James, Kant, Bergson, und wer war nur der Kerl mit dem komischen Namen – Spinoza?
Voll Zuversicht öffnete er den ersten Band Royce, um voller Entsetzen zurückzufahren.
Er hatte einen schönen, langen, freien Nachmittag vor sich, um weise zu werden. Er arbeitete weiter. Er las jeden Satz sechsmal. Sein Mund stand schmerzvoll offen. Es schien nicht anständig zu sein, daß ein christlicher Ritter, der bereit war, seine Zeit zum Studium von Gedanken anzuwenden, so behandelt werden sollte. Er seufzte und las den ersten Abschnitt noch einmal. Er seufzte, und das Buch fiel in seinen Schoß.
Er sah sich um. Auf dem Tischchen neben ihm lag einer der Detektivromane. Er griff nach ihm. Er begann so, wie alle guten Detektivromane beginnen müssen – mit dem Schankzimmer im Cat and Fiddle Inn in einer stürmischen Nacht, in der Regenschauer gegen das kleine alte Fenster schlugen, drinnen aber alles freundlich und warm war; die roten Vorhänge leuchteten im Feuerschein, und die brünierten Griffe der Bierpumpe –
Eine Stunde später war Elmer zu der Stelle gekommen, an welcher der Scotland Yard-Inspektor von dem Wahnsinnigen aus dem Ginsterstrauch angefallen wird. Aufgeregt schlug er die Beine übereinander, Royce fiel zu Boden und blieb dort liegen.
Doch er ließ nicht locker. In weniger als drei Monaten war er zu Seite einundfünfzig im ersten Band Royce gekommen. Dann blieb er bei einer Fußnote hängen:
Die scholastischen Lehrbücher, wie zum Beispiel die Disputationen des Suarez gebrauchen unsere Termini, wie folgt. Wesen ( ens), ganz im abstrakten Sinn genommen, sagten diese Schriftsteller, ist ein Wort, das sowohl auf das Was wie auf das Das anzuwenden ist. Wenn ich also vom Wesen eines Menschen spreche, kann ich, diesem Gebrauch zufolge, entweder die ideelle Natur eines Menschen meinen, ohne Beziehung auf die Existenz des Menschen, oder die Existenz eines Menschen. Der Terminus »Wesen« ist insoweit in beiden scharf abgegrenzten Bedeutungen gleicherweise verwendbar. Als das Was bedeutet er die Essenz der Dinge oder das Esse essentiae. In diesem Sinne, als Wesen eines Menschen, ist einfach die Definition dessen gemeint, was ein Mensch als Idee bedeutet. Als das Das bedeutet Wesen das existente Wesen, das Esse existentiae. Das Esse existentiae eines Menschen, oder sein existentes Wesen würde sein, was er besäße, wenn er lediglich existierte. Daher haben die in Frage stehenden scholastischen Schriftsteller immer hervorzuheben, ob sie mit dem Terminus Ens oder Wesen sich in der betreffenden Stelle auf das Was oder auf das Das beziehen, auf das Esse essentiae oder existentiae.
Der Reverend Elmer Gantry schöpfte Atem, schloß still das Buch und brüllte: » Ach, halt die Schnauze!«
Er las nie wieder Philosophie, die dunkler war als die von Wallace D. Wattles oder Edward Bok.
Er vernachlässigte seine nichts weniger als anstrengenden Pflichten nicht. Er ging fischen – was ihm bei den Männern Ehre einbrachte. Er schaffte sich einen Hund an, gleichfalls eine tüchtige, männliche Angelegenheit, und obgleich er dem Hund auf dem flachen Lande gelegentlich einen Tritt gab, war er innerhalb der Ortschaft aufdringlich zärtlich zu ihm. Er fuhr hin und wieder nach Sparta, um Bücher zu kaufen, ins Kino zu gehen und sich ins Theater zu schleichen; und obgleich ihn auch andere Zerstreuungen versuchten, die von der Methodistendisziplin noch weniger gebilligt werden, gab er sich wirklich Mühe, sich vor dem Fall zu bewahren.
Mit Enthusiasmus und viel Geschrei trieb er das Geld den größten Teil der Kirchenschuld auf und agitierte für einen neuen Teppich. Er riskierte verdammende Mißbilligung, indem er eines Sonntagabends ein Pistonsolo in der Kirche veranstaltete. Er hielt sich zurück und schenkte, abgesehen von ein oder zwei scherzhaften Küssen, der vierzehnjährigen Tochter seiner Wirtin keine Aufmerksamkeit. Er war tatsächlich voll guter Werke und geistlicher Musterhaftigkeit.
Aber der Brennpunkt seines Lebens war jetzt Cleo Benham.