Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel

1

Noch zwei weitere Serien von Meetings hielt Sharon Falconer in diesem Sommer ab, und in jedem trat die Autorität in der Maschinenwelt auf und berichtete von ihrer Bekehrung durch die Gideon-Bibel und die Beredsamkeit der Schwester Falconer.

Manchmal schien er ihr sehr nahe zu sein; dann sah sie ihn aber wieder mit kalten Porzellanaugen an. Einmal fuhr sie auf ihn los: »Sie rauchen, nicht wahr?«

»Warum, ja.«

»Ich hab's gerochen. Es ist mir widerwärtig. Werden Sie damit aufhören? Ganz? Und zu trinken?«

»Ja, ich werd' aufhören.«

Und er tat es. Es war eine quälende Unruhe und Sehnsucht, aber er griff nie wieder zu Alkohol oder Tabak und bedauerte aufrichtig, daß er an den so leer gewordenen Abenden sich eines gewissen Interesses für Kellnerinnen nicht enthalten konnte.

Es war spät im August, in einer kleiner Stadt in Colorado, nach seinem zweiten Auftreten als geretteter Finanztitane, daß er Sharon, als sie miteinander ins Hotel traten, anflehte: »Ach, lassen Sie mich in Ihr Zimmer hinaufkommen. Bitte! Ich hab' nie eine Möglichkeit, ruhig bei Ihnen zu sitzen und zu plaudern.«

»Schön. Kommen Sie in einer halben Stunde. Telephonieren Sie nicht. Kommen Sie ganz einfach zur Abteilung B rauf.«

Es war eine halbe Stunde herzklopfender, fast ängstlicher Erwartung.

Sharon wurde in jeder Stadt, in der sie Meetings abhielt, eingeladen, im Haus eines der Erwählten zu wohnen, aber sie lehnte es immer ab. Sie hatte eine lange, feststehende Erklärung: sie könne sich inniger dem Gebetsleben widmen, wenn sie ihren eigenen Aufenthaltsort habe, und fülle ihn von Tag zu Tag mehr mit der Aura geistlicher Anschauung. Elmer überlegte manchmal, ob es nicht die Aura Cecil Aylstons sei, für die sie ihre Wohnung habe, versuchte aber, sich diese schmerzende Vorstellung vom Leibe zu halten.

Die halbe Stunde war vorüber.

Er raste die Treppe hinauf zur Abteilung B und klopfte. Ein entferntes »Herein«.

Sie war im Schlafzimmer drüben. Er schlich in den Hotelsalon – Tapeten mit zwei Fuß großen Rosen, ein Tisch mit einer abscheulichen wulstigen Goldvase, zwei steife Stühle und eine harte Polsterbank, die sich an der Wand entlang zog. Die Lilien, die sie von ihren Anhängern bekommen hatte, verkamen in Schachteln, in einem Waschbecken, in einem Haufen in der Ecke. Rund um einen Porzellanspucknapf lagen welke Rosenblätter.

Er setzte sich ängstlich auf die Kante eines Sessels. Er wagte sich nicht hinter die staubigen Brokatvorhänge, welche die zwei Zimmer trennten, aber seine Phantasie wagte nur zu viel.

Sie zog die Vorhänge auseinander und stand da, in dem dämmrigen Zimmer wie eine Flamme leuchtend. Sie hatte ihr weißes Gewand mit einem scharlachroten Schlafrock vertauscht, der Ärmel aus Goldstoff hatte – Gold und Scharlachrot; wildes schwarzes Haar; ein langes, bleiches, weißes Gesicht. Sie glitt zur Polsterbank hinüber und rief ihn: »Kommen Sie!«

Schüchtern legte er seinen Arm um sie, ihr Kopf war an seiner Schulter. Sein Arm zog sie näher. Aber sie seufzte reglos: »Ach, keine Liebe. Sie werden 's schon wissen, wenn ich das will! Heute abend seien Sie nur nett und trösten Sie mich.«

»Aber ich kann nicht immer –«

»Ich weiß. Vielleicht werden Sie auch nicht immer müssen. Vielleicht! Ach, ich brauche – was ich heute abend brauche, ist irgendein Pflaster für meine Eitelkeit. Hab ich einmal gesagt, daß ich die wiedergeborene Jungfrau von Orleans bin? Ich glaub' wirklich manchmal halb und halb dran. Natürlich ist das einfach Wahnsinn. In Wirklichkeit bin ich ein sehr unwissendes junges Weib, das sehr viel mißleitete Energie und ein bißchen Idealismus hat. Sechs Wochen lang halt' ich fabelhafte Predigten, aber wenn ich sechs Wochen und einen Tag in einer Stadt bliebe, müßt' ich die Leier wieder von vorn anfangen. Ich kann meine Predigten schön vortragen … aber die meisten davon hat Cecil für mich geschrieben, und den Rest hab' ich lustig und munter gestohlen.«

»Haben Sie Cecil gern?«

»Oh, er ist ein netter, eifersüchtiger, großer, dicker Mann!« Bisher war sie ein beunruhigender Orgelton gewesen, jetzt war sie lispelndes Kindergeschwätz.

»Verdammt noch einmal, Sharon, spielen sie nicht das Kind, wenn mir's ernst ist!«

»Verdammt noch einmal, Elmer, sagen Sie nicht ›verdammt noch einmal‹! Oh, ich hasse die kleinen Laster – Rauchen, Fluchen, Klatschen, grade so viel trinken, daß man dumm davon wird. Ich liebe die großen – Mord, Wollust, Grausamkeit, Haß!«

»Und Cecil? Ist der auch eines von den großen Lastern, die Sie lieben?«

»Ach, der ist ein lieber Junge. So süß, wie er sich ernst nimmt.«

»Ja, er muß in der Liebe sein wie eine Portion Gefrorenes.«

»Sie würden sich wundern! Na, na! Der arme Mann brennt ja darauf, daß ich was Gemeines über Cecil sag'! Ich will anständig sein. Er hat eine Menge für mich getan. Er versteht wirklich was; er ist nicht eine wunderschöne Gußeisenstatue voll Unwissenheit wie Sie oder ich.«

»Jetzt passen Sie mal auf, Sharon! Wie immer es auch ist, ich bin College-Absolvent, und richtiger B. D.«

»Das hab' ich ja gesagt. Cecil weiß wirklich vorzutragen. Und er hat mir auch beigebracht, daß ich mich nicht mehr wie ein Dienstmädel benehme. Aber – ach, ich hab' alles gelernt, was er mich lehren kann, und wenn ich noch mehr von den Weisheiten schluck', werd' ich die Fühlung mit den gewöhnlichen Leuten verlieren – Gott segne ihre lieben, guten, ehrlichen Seelen!«

»Schmeißen Sie ihn raus. Nehmen Sie mich. Ach, es ist nicht das Geld. Das müssen Sie wissen, meine Liebe. In zehn Jahren, mit achtunddreißig, kann ich Verkaufsdirektor bei der Pequot sein – wahrscheinlich Zehntausend im Jahr – und vielleicht einmal Generaldirektor mit dreißig Mille. Ich seh' mich nicht nach einer Stellung um. Aber – Ach, ich bin verrückt nach Ihnen! Außer meiner Mutter sind Sie der einzige Mensch, den ich in meinem ganzen Leben verehrt hab'. Ich liebe Sie! Hören Sie mich? Verdammt noch einmal – ja – verdammt noch einmal, hab' ich gesagt – ich bete Sie an! O Sharon, Sharon, Sharon! Wie ich allen Leuten erzählt hab', daß Sie mich bekehrt haben, hab' ich nicht bloß in den Wind geredet, weil Sie mich wirklich bekehrt haben. Wollen Sie mich Ihnen dienen lassen? Und wollen Sie mich vielleicht heiraten?«

»Nein. Ich glaub', ich werd' nie heiraten – richtig heiraten. Vielleicht werd' ich Cecil rausschmeißen – der arme nette Kerl – und Sie nehmen. Ich will mal sehen. Auf jeden Fall – lassen Sie mich nachdenken.«

Sie schüttelte seinen Arm ab und saß überlegend da, das Kinn in der Hand. Er saß zu ihren Füßen – geistig sowohl wie körperlich.

Sie machte ihn glücklich:

»Im September hab' ich nur vier Wochen lang Meetings, in Vincennes. Den ganzen Oktober werd' ich Ferien machen, vor meiner Winterarbeit, (da werden Sie mich gar nicht wiedererkennen – ich bin einfach blendend, ich spreche drinnen, in großen Sälen!) und nach Haus fahren, zum alten Falconer-Familiensitz in Virginien. Pappy und Mam sind jetzt tot, und er gehört mir. Eine alte Plantage. Möchten Sie dorthin zu mir kommen, wir sind dann nur zu zweit, auf vierzehn Tage im Oktober?«

»Ob ich möchte? Mein Gott!«

»Können Sie sich frei machen?«

»Und wenn's mich meine Stellung kostet!«

»Dann – ich werd' Ihnen telegraphieren, sobald ich dort bin, wann Sie kommen sollen: Hanning Hall, Broughton, Virginia. So, und jetzt glaub' ich, werden wir schlafen gehen, mein Lieber. Angenehme Träume.«

»Darf ich Sie nicht zu Bett bringen?«

»Nein, mein Lieber. Ich könnte vergessen, daß ich Schwester Falconer bin! Gute Nacht!«

Ihr Kuß war wie das Vorüberfliegen einer Schwalbe, und gehorsam ging er hinaus, voll Verwunderung darüber, daß Elmer Gantry mit einemmal so lieben konnte, daß er nicht darauf bestand, zu lieben.

2

In New York hatte er sich einen Anzug aus irischem Homespun und eine Lederkappe gekauft. Er sah etwas dick aus, aber angenehm ländlich, als er, romantisch gestimmt, aus dem Fenster seines Pullmanwagens auf die Felder Virginiens hinaussah. »Ole Virginny – ole Virginny« summte er selig vor sich hin. Zäune, Negerhütten, feurige Pferde auf steinigen Weiden, Sehnsucht danach, den Landadel zu sehen, der solche Pferde ritt, und immer die blauen Berge. Es war eine ältere Welt als sein dürres Kansas, älter als das Mizpah-Seminar, und er verspürte den Wunsch, ein Glied des sagenhaften Geschlechts zu sein, dem Sharon angehörte. Dann, als die Meilen, die ihn noch von Broughton trennten, sich allmählich hinter ihn legten, vergaß er in den Gedanken an sie das Land mit seinen warmen Farben.

Er besann sich darauf, daß sie Aristokratin war, um so mehr hier in der Gesellschaft der ihr befreundeten ersten Familien Virginiens. Er war ängstlicher als sonst … und stolzer als sonst auf seine Eroberung.

Einen Augenblick lang, auf dem Bahnhof, dachte er, sie wäre ihn nicht abholen gekommen. Dann sah er ein Mädchen neben einem alten Landeinspänner stehen.

Sie war jung, wirklich ein Mädchen, in tief ausgeschnittener Matrosenbluse, plissiertem weißem Rock, weißen Schuhen. Ihre rote Wollmütze war flott, mit einem ländlichen Lächeln winkte sie ihm zu. Und dieses Mädchen war Schwester Falconer.

»Herrgott, Sie sind zum Anbeten!« murmelte er ihr zu, während er seinen Koffer fallen ließ; zart und weich war sie in seinen Armen, als er sie küßte.

»Nicht mehr«, flüsterte sie. »Sie gelten als mein Vetter, und sogar sehr nette Vettern küssen nicht mit so viel Verständnis!«

Während der Wagen über die Hügel holperte, während das Geschirr knarrte und das weiße Pferd schnaubte, hielt er ihre Hand leicht, in schmetterlinghafter Begeisterung.

Beim Anblick von Hanning Hall schrie er leise auf, als sie zwischen dunklen Kiefern hindurch, über schäbige Grasflecken, zu dem glatten, abschüssigen Rasenplatz kamen. Es war wie aus einem Geschichtenbuch; ein Ziegelgebäude, nicht sehr groß, mit schlanken weißen Säulen, weißer Kuppel und kleinscheibigen Dachfenstern; drüben, hinter dem Rasen stolzierte ein Pfau in der Sonne umher. Aus einem Geschichtenbuch waren auch die zwei alten Neger, die sich auf der Veranda verbeugten und die Stufen hinuntereilten – der Hausmeister mit dem weißen Schnurrbart, der seinen Mund fast ganz umschloß, in grünem Schwalbenschwanzrock, und die Alte in grünem Kattun, mit einem ungeheueren Grinsen und einem theatralischem Knix.

»Die haben immer für mich gesorgt, seitdem ich ein ganz kleines Baby war«, flüsterte Sharon. »Ich hab' sie lieb – ich hab' dieses liebe alte Fleckchen gern. Deshalb –« Sie zauderte, dann trotzig: »Deshalb hab' ich Sie hergebracht!«

Der Hausmeister trug seinen Koffer hinauf und packte aus, während Elmer, gerührt, sanft glücklich, in dem alten Schlafzimmer umherging. Die Wände waren eine Reihe verblaßter Landschaftsbilder: Herrenhäuser hinter Ulmenalleen. Ein großes Himmelbett stand in der einen Ecke; die Seitenwände und der Sims des Kamins waren weiß glasiert; und auf den großen, von Generationen vergessener Füße polierten Eichendielen des Fußbodens lagen Teppiche aus den Tagen der Krinoline.

»Herrgott, bin ich glücklich! Ich hab' heim gefunden!« seufzte Elmer.

Als der Hausmeister gegangen war, sprang Elmer zum Fenster und sagte noch einmal: »Herrgott!« Im Wagen hatte er nicht gemerkt, daß sie so hoch gestiegen waren. Hinter gewellten Wiesen und Gehölzen schimmerte der Shenandoah-Fluß in der Nachmittagssonne.

»Shen-an-doah!« sang er leise.

Plötzlich kniete er am Fenster, und zum ersten Mal, seit er Jim Lefferts, dem Fußball und der fröhlichen Zotenreißerei entsagt hatte, war seine Seele frei von allem Niedrigen, das sie besudelt hatte – vom Rednerehrgeiz, den Gefühlsübertreibungen, den dürren Redensarten langweiliger Propheten, von Dogmen und falscher Frömmigkeit. Der gewundene, golden schimmernde Fluß zog ihn an sich, der Himmel hob ihn empor, und mit ausgestreckten Armen betete er um Erlösung vom Gebet.

»Ich hab' sie gefunden. Sharon. Ach, ich werd' diese Evangelistenphrasendrescherei aufgeben. Schwachköpfe mit scheinheiligen Possen einfangen! Nein, bei Gott, ich will ehrlich sein! Ich werd' sie unter den Arm nehmen, hinausgehen und kämpfen. Geschäft. Siegen. Was Großes aufbauen. Und lachen, nicht heucheln und Kirchenmitgliedern die Hand drücken! Ich werd's tun!«

Und damit war seine Rebellion auch zu Ende.

Ein Nebel von Kompromissen verbarg ihm die Vision vom schönen Fluß … Wie konnte er sich von den Evangelistenkomödien fernhalten, wenn er Sharon haben wollte? Und Sharon zu haben, war der einzige Lebenszweck. Sie liebte ihre Meetings, sie würde nie von ihnen lassen, und ihn würde sie beherrschen. Und – er war begeistert von seiner eigenen Rhetorik.

» Übrigens! Es ist doch 'ne Menge an diesem Religionszeug. Wir tun wirklich Gutes. Vielleicht foppen wir die Leute zu sehr in Rührung hinein, aber schmeißt sie das denn nicht aus ihrer gewohnten Bahn? Na, natürlich!«

Er zog einen weißen Sweater mit hohem Kragenstück an und ging mit festem, selbstgefälligem Schritt hinunter, um Sharon aufzusuchen.

Sie wartete im Flur, ganz hell und jung in Matrosenbluse und Mütze.

»Wir wollen nichts Ernstes reden. Ich bin nicht Schwester Falconer – heute bin ich Sharon. Himmel, zu denken, daß ich mal vor fünftausend Leuten gesprochen hab'! Los! Wir laufen um die Wette den Hügel hinauf!«

Der große Flur im Erdgeschoß, in dem traditionsgemäß Stahlstiche und ein Säbel aus dem Bürgerkrieg hingen, führte von der Vordertür, unter dem Treppenpodest hindurch, zum hinten gelegenen Garten, der noch im Schmuck roter Astern und goldgelber Zinnien stand.

Sie flog durch den Flur, durch den Garten, an der steinernen Sonnenuhr vorbei und über das lange, dicke Gras zum Obstgarten, auf den sonnenbeschienenen Hügel; keine feierliche Juno jetzt, sondern eine Nymphe; er folgte ihr nach, schwer, anmutlos, aber unaufhaltsam vorwärtsstampfend; seine Gedanken beschäftigten sich weniger mit ihrer dahinfliehenden Schlankheit als mit der Tatsache, daß es mit seinem Atem entschieden besser geworden war, seitdem er zu rauchen aufgehört hatte – ganz entschieden bedeutend besser.

»Sie können aber laufen!« sagte sie, als sie keuchend an einer Gartenmauer mit Spalierbirnen stehenblieb.

»Und ob ich kann! Ich bin auch ein großer Fußballspieler, ein Bär im Sturm, meine junge Freundin!«

Er hob sie auf, sie strampelte mit den Beinen und gestand widerwillig ihre Bewunderung ein: »Sie sind fürchterlich stark!«

Aber dieser Tag stiller Oktobersonne war zu ruhig heiter für seine Ausgelassenheit, und friedlich stiegen sie den Hügel hinan, die ineinandergelegten Hände schwingend; friedlich redeten sie (er gab sich große Mühe, den der Falconerfamilie, einem alten Herrenhaus und schwarzen Ammen angemessenen Stil zu treffen) über die weltbedrohenden Gefahren der höheren Bibelkritik und E. O. Excells Genialität im Komponieren heiliger und doch packender Melodien.

3

Während er sich umzog, das heißt, während er sich mit dem braunen Anzug und einer schönen neuen Krawatte schmückte, machte Elmer sich Sorgen. Diese friedliche Vertraulichkeit war zu vollkommen. Irgend etwas würde sie stören. Sharon hatte etwas von Brüdern, von hochnasigen Tanten und Vettern erzählt, von einer Menge von Paten, und das Haus war geräumig genug, um an seinen Korridoren eine Schar Verwandter zu verbergen. Stand es ihm bevor, beim Dinner feindlich gesinnte Familienreliquien vorzufinden, die ihn anstieren, zum Reden verleiten und als Terwillinger-Provinzialen demütigen würden? Er sah schon die schweigenden Andeutungen in ihren leeren, matten Augen; er sah schon Sharon von dieser Verachtung gepackt, der ungewissen Bezauberung entrückt, die seine Frische und Dreistigkeit über sie geworfen hatte.

»Verdammt!« sagte er. »Ich bin genau so gut wie die!«

Langsam ging er die Treppen hinunter in den rührenden Salon mit den Nippes auf der Etagere – ein Porzellanpantoffel, ein aus schwarzem Nußbaum geschnitzter Hirsch, eine Muschel aus Madagaskar – mit dem verdorrten Schilf im Krug, dem alten Schreibpult, dem Spieltisch und einem freundlichen alten Sofa vor dem weißen Kamin. Im Zimmer, überall im ganzen riesigen Haus, war ein Raunen, ein Knacken, tote, argwöhnische Augen … In der Hütte in Paris, Kansas, hatte es kein Raunen und keine Erinnerungen gegeben … Still stand Elmer da, ein geschlagener kleiner Junge, seine Stunde des Durchgehens mit der Tochter des Herrenhauses war vorbei, er war so glühend verliebt, daß er nicht einmal dagegen rebellierte, auf das Einzige, wonach er begehrte, verzichten zu müssen.

Dann stand sie in der Tür, ganz unevangelistisch, erfreulich weltlich in einem Abendkleid aus schwarzem Satin mit Goldtressen. Bisher hatte er keine Leute gekannt, die Abendkleider trugen. Munter streckte sie ihm die Hand entgegen, aber er ging nicht munter zu ihr – eher demütig, entschlossen, ihr vor der argwöhnischen Familie keine Schande zu machen.

Hand in Hand kamen sie ins Speisezimmer, und da sah er, daß der Tisch nur für zwei gedeckt war.

Fast lachte er laut: »Ich dachte, es wären eine Menge Leute da«, aber er fühlte sich gerettet.

Schließlich sprach er das Tischgebet.

Kerzen und Mahagoni, Silber und alte Spitzen, Rosen und Wedgwoodgeschirr, Wildente und der Hausmeister in Flaschengrün. Er versank in friedliche Glückseligkeit, während sie ihm aufregende Geschichten aus ihrer Evangelistentätigkeit erzählte – von ihrem Tenorsolisten, dem dicken Adelbert Shoop, der ein Freund von Crême de Cacao war; von der schwedischen Farmersfrau, die ihren Mann glücklich aus dem Trinken, Fluchen und Schnupfen herausgebetet hatte, dann aber versuchte, ihn aus dem Damespielen herauszubeten, worauf er hinging und sich herrlich mit schlechtem Fusel betrank.

»Ich hab' Sie bis jetzt noch nie so still gesehen«, sagte sie. »Sie können wirklich nett sein. Glücklich?«

»Schrecklich!«

Aus dem Dach der Vorderveranda war eine offene Terrasse gemacht worden, und hier tranken sie, gegen die Abendkühle in Decken gewickelt, ihren Kaffee in Liegestühlen. Sie waren über den Baumwipfeln, und als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte er den Fluß im Sternenlicht sehen. Der Ruf einer Eule; dann hüllte die freundliche, die flüsternde Luft sie ein.

»O mein Gott, es ist so schön – so schön!« seufzte er, während er ihre Hand suchte und sie zutraulich in die seine schlüpfen fühlte. Plötzlich wurde er grausam, zerstörte alles:

»Viel zu schön für mich, glaub' ich. Sharon, ich bin ein miserabler Taugenichts. Als Prediger bin ich nicht so schlecht, oder wär's wenigstens nicht, wenn ich die Möglichkeit hätte, aber ich – ich bin nicht gut. Ich hab' mit dem Trinken und Rauchen Schluß gemacht – für Sie – ich hab's wirklich getan! Aber früher hab' ich immer getrunken wie ein Loch, und bevor ich Sie gesehen hab', hab' ich immer geglaubt, außer meiner Mutter gibt es keine gute Frau. Ich bin nichts weiter als ein zweitklassiger Reisender. Ich bin aus Paris, Kansas, und nicht einmal für dieses Bauerndorf bin ich gut genug, weil die Leute dort hart arbeiten und anständig sind, und ich bin nicht einmal das. Und Sie – Sie sind nicht nur eine Prophetin, das sind Sie ganz sicher, eine richtige große Sache, Sie sind noch dazu eine Falconer. Familie! Alte Diener! Dieses alte Haus – ach, es hat gar keinen Sinn! Sie sind zu hoch für mich. Grad weil ich Sie liebe. Schrecklich. Weil ich Sie nicht anlügen kann!«

Er hatte ihre Hand losgelassen, aber langsam kam sie zu der seinen zurück, ihre Finger durchwanderten die Täler zwischen seinen Knöcheln, während sie murmelte:

»Sie werden groß sein! Ich werd' Sie dazu machen! Und, vielleicht bin ich eine Prophetin, ein klein wenig, aber ich bin auch eine tüchtige Lügnerin. Sie müssen wissen, ich bin keine Falconer. Es gibt gar keine! Ich heiße Katie Jonas. Ich bin in Utica geboren. Mein Vater hat in einer Ziegelei gearbeitet. Den Namen Sharon Falconer hab' ich angenommen, wie ich Stenotypistin war. Bis vor zwei Jahren hab' ich dieses Haus nie gesehen. Bis damals hab' ich diese alten Familiendiener nie gesehen – sie waren bei den Leuten, denen das alles hier gehört hat – und nicht einmal die waren Falconers, sie hatten den fabelhaft aristokratischen Namen Sprugg! Übrigens, für das Grundstück hier hab' ich noch nicht mal den vierten Teil bezahlt. Und doch bin ich keine Lügnerin! Ich bin's nicht! Jetzt bin ich Sharon Falconer! Ich hab' sie geschaffen – durch Beten und durch ein Recht darauf, sie zu sein! Und Sie werden aufhören, der arme Elmer Gantry aus Paris, Kansas, zu sein. Sie werden der Reverend Dr. Gantry sein, der große Seelenkapitän! Oh, ich bin froh, daß Sie nicht weiß Gott woher sind! Cecil Aylston – o ja, ich glaub', er liebt mich wirklich, aber ich hab' immer das Gefühl, daß er über mich lacht. Der Teufel soll ihn holen, er zählt die Sprachfehler, die ich mach', und nicht die Seelen, die ich rette! Aber Sie – Oh, Sie werden mir dienen – nicht wahr?«

»Auf immer!«

Und dann wurde nur wenig gesprochen. Sogar die Zustimmung, daß sie sich von Cecil befreien und Elmer zu ihrem ständigen Assistenten machen sollte, wurde ganz nebenbei erreicht. Er war fest davon überzeugt, daß es mit ihrer Macht aus wäre.

Doch als sie hineingingen, sagte sie ganz vergnügt, sie müßten früh ins Bett und am nächsten Tag früh aufstehen; und sie würde ihn beim Tennisspiel nur zehn Pfund leichter machen.

Als er flüsterte: »Wo ist Ihr Zimmer, Liebe?« lachte sie kalt und unpersönlich: »Das werden Sie nie wissen, Sie armes Schaf!«

Der kühne, der unternehmende Elmer trappte in sein Zimmer und zog sich langsam aus; sehnsüchtig stand er an seinem Fenster, seine Seele fuhr aus auf der Dunkelheit zu unfaßbaren Reisezielen. Er sprang ins Bett und fiel langsam in Schlaf, zu müde vom Kampf gegen ihren Widerstand, um an Möglichkeiten der nächsten Tage zu denken.

Er hörte ein schwaches kratzendes Geräusch. Es schien ihm, daß der Türgriff sich drehte. Zitternd setzte er sich auf. Das Geräusch hörte auf, begann aber wieder, ein schwaches Scharren; der untere Rand der Tür bewegte sich langsam über den Teppich. Der fahle Lichtstreifen aus dem Korridor wurde größer, und, sich streckend, konnte er sie sehen, aber nur wie einen Geist, einen weißen Hauch.

Verzweifelt streckte er seine Arme aus, und bald stolperte sie dagegen.

»Nein! Bitte!« Sie hatte die Stimme einer Schlafwandlerin. »Ich bin nur hereingekommen, gute Nacht sagen und Sie ins Bett bringen. So ein gequältes, unglückliches Kind! Ins Bett. Ich geb' Ihnen einen Gutenachtkuß und geh' wieder.«

Sein Kopf bohrte sich ins Kissen. Ihre Hand berührte leicht seine Wange, doch aus ihren Fingern, glaubte er zu fühlen, kam ein Strom, der ihn in Schlaf lullte, in einen augenblicklichen, aber tiefen, befriedigenden Schlaf.

Mit Anstrengung sagte er: »Sie auch – Sie brauchen Trost, vielleicht brauchen Sie auch einen Herrn über sich – wenn ich mal meine Scheu vor Ihnen überwunden hab'.«

»Nein. Ich muß meine Einsamkeit allein tragen. Ich bin anders, ob's nun ein Fluch oder ein Segen ist. Aber – einsam – ja – einsam.«

Mit einem Ruck wurde er munter, als ihre Finger seine Wange hinaufkrochen, über die Schläfe, in sein schwarzes Haar.

»Ihr Haar ist so dick«, sagte sie mit schwerer Stimme.

»Ihr Herz schlägt so. Liebe Sharon –«

Plötzlich, seinen Arm packend, rief sie: »Komm! Es ist der Ruf!«

Voll Verwirrung folgte er ihr, sie schritt voraus, in ihrem am Hals mit weißem Pelz eingefaßten Nachtgewand, aus dem Zimmer hinaus, den Korridor entlang, eine steile, kleine Treppe zu ihren Zimmern hinauf; seine Verwirrung wuchs, als es aus diesem freundlichen Korridor mit den Vergißmeinnichttapeten und den steifen Porträts von virginischen Würdenträgern weiterging, in einen Glutofen aus Scharlach.

Ihr Schlafzimmer war genau so wahnsinnig wie eine orientalische Koseecke von 1895 – ein hohes Sofa auf geschnitzten Elfenbeinfüßen, bedeckt mit einem Mandarinenmantel; dunkle Messinglampen in der Form von Moscheen und Pagoden; an den Wänden vergoldetes Papiermaché; ein großer Toilettetisch mit einer Unzahl Schönheitsmittel in absonderlich geformten Pariser Flaschen; hohe Leuchter, in denen gedrehte Zierkerzen brannten; und über allem eine Ahnung von Weihrauch.

Sie öffnete einen Wandschrank, warf ihm ein Gewand zu, rief: »Für den Dienst am Altar!« und verschwand in ein Ankleidezimmer. Schüchtern, sich einigermaßen wie ein Narr vorkommend, zog er das Gewand an. Es war aus purpurrotem Sammet, mit schwarzen Symbolen bestickt, die er nicht kannte, mit einem Kragen aus schweren Goldfäden. Er war nicht ganz sicher, was er tun sollte, und wartete gehorsam. Sie stand theatralisch in der Tür, er staunte. Sie war ganz schlank und hoch, ihre Hände – den Rücken nach oben, die Finger gekrümmt – bewegten sich neben ihr wie Lilien auf einem Strom. Sie sah phantastisch aus, in einem purpurroten Gewand, das mit goldenen Sternen, Halbmonden, Gnostiker- und Antoniuskreuzen geschmückt war; ihre Füße staken in Silbersandalen; und auf dem Haar hatte sie eine Tiara aus Silbermonden, mit Stahlflittern besetzt, die im Kerzenlicht funkelten. Ein Nebel von Weihrauch umflutete sie, schien von ihr aufzusteigen, und als sie langsam die Arme hob, fühlte er in kindlichem Entsetzen, daß sie wirklich eine Priesterin war.

Wieder war ihre Stimme unter dem Bann des Schlafwandels, als sie seufzte: »Komm! In die Kapelle.«

Sie ging auf eine Tür zu, die zum Teil vom Sofa verdeckt war, und führte ihn in einen Raum –

Jetzt war er nicht mehr zum Teil verliebt, zum Teil neugierig, er verspürte nichts als Unruhe.

Was für einen Hokuspokusbau man da ausgeführt hatte, begriff er nicht; vielleicht war nur der Fußboden über diesem kleinen Zimmer entfernt worden, so daß es sich über zwei Stockwerke erstreckte; aber auf jeden Fall war es da – ein Heiligtum, das unten hell strahlte, sich aber durch Dunkelheit bis in den Himmel zu erheben schien. Die Wände waren mit schwarzem Sammet verhängt, es gab keine Stühle; der Brennpunkt des ganzen Raums war ein großer Altar. Es war ein grotesk wahnsinniger Altar, drapiert mit chinesischen Tüchern, purpurrot, aprikosenfarben, smaragdgrün, gold. Zwei Stufen aus blaßrotem Marmor. Über dem Altar hing ein riesiges Kruzifix, auf dem der Christus aus den Nagelmälern und der Seitenwunde blutete; und auf der oberen Stufe standen Gipsbüsten der Jungfrau Maria, der Heiligen Theresa, der Heiligen Katharina, ein kitschiges Heiliges Herz, ein sterbender St. Stephanus. Aber auf der unteren Stufe stand ein wahnsinniger Haufen von Dingen, die Elmer »heidnische Götzen« nannte: Götter mit Affenköpfen, Götter mit Krokodilsköpfen, ein Gott mit drei Köpfen und ein Gott mit sechs Armen, ein Buddah aus Jade und Elfenbein, eine nackte Venus aus Alabaster, und im Zentrum aller dieser die schöne, entsetzliche, furchtbare, lockende Statuette einer Silbergöttin mit dreifacher Krone und einem Gesicht, das ebenso schmal und lang und leidenschaftlich war wie das Sharon Falconers. Vor dem Altar lag ein langes Sammetkissen, sehr dick und weich. Hier kniete Sharon plötzlich nieder, zog ihn auf die Knie und rief:

»Es ist die Stunde! Heilige Jungfrau, Mutter Hera, Mutter Frigga, Mutter Ishtar, Mutter Isis, hehre Mutter Astarte mit den bewegten Armen, deine Priesterin ist es, sie ist es, die nach Jahrhunderten der Blindheit und Jahren des Umhertappens der Welt kund tun wird, daß ihr eins, daß ihr alle in mir geoffenbart seid, und daß in dieser Offenbarung allgemeiner Friede und Weisheit kommen wird, das Geheimnis der Sphären und der Brunnen des Erkennens. Ihr, die ihr euch über mich gebeugt und eure unsterblichen Finger auf meine Lippen gedrückt habt, nehmt diesen meinen Bruder an eure Brust, öffnet seine Augen, befreit seinen gefesselten Geist, macht ihn den Göttern gleich, auf daß er mit mir die Offenbarung weitertrage, nach der die Welt tausend mal tausend kummervolle Jahre geseufzt hat.

»O Rosenkreuz und mystischer Turm von Elfenbein –

»Erhöre mein Gebet.

»O erhabener Aprilmond –

»Erhöre mein Gebet.

»O höchst treffliches Schwert aus untadeligem Stahl –

»Erhöre du mein Gebet.

»O Schlange mit den unergründlichen Augen –

»Erhöre mein Gebet.

»Ihr Verschleierten und ihr Strahlenden – in Höhlen vergessen, die Gipfel der Zukunft, das klirrende Heute – vereinigt euch in mir, erhebet ihn, empfanget ihn, hehre Namenlose; ja, erhebet uns, Mysterium auf Mysterium, Sphäre über Sphäre, Reich auf Reich, bis zum Thron!«

Sie nahm eine Bibel auf, die neben ihr zu Füßen des Altars auf dem langen Sammetkissen lag, drückte sie ihm in die Hand und rief: »Lies – lies – rasch!«

Das Hohelied Salomos war aufgeschlagen, und verwirrt psalmodierte er: »Wie schön ist dein Gang in den Schuhen, du Fürstentochter! Deine Lenden stehen gleich an einander wie zwo Spangen, die des Meisters Hand gemacht hat. Deine zwo Brüste sind wie zwei junge Rehzwillinge. Dein Hals ist wie ein elfenbeinener Turm. Das Haar auf deinem Haupt ist wie der Purpur des Königs, in Falten gebunden. Wie schön und wie lieblich bist du, du Liebe voller Wonne!«

Sie unterbrach ihn, mit hoher, etwas schriller Stimme: »O mystische Rose, o höchst ausgezeichnete Lilie, o bewunderungswürdige Einheit; o Heilige Anna, Unbefleckte Mutter, Demeter, Wohltätige Mutter, Lakshmi, Allerleuchtendste Mutter; siehe, ich bin sein, und er ist Dein, und Du bist mein!«

Als er weiterlas, erhob sich seine Stimme zur Gewalt eines triumphierenden Priesters:

»Ich sprach: Ich muß auf den Palmbaum steigen, und seine Zweige ergreifen –«

Diesen Vers brachte er nicht zu Ende, denn sie fiel, vor dem Altar kniend, zur Seite und sank in seine Arme, mit geöffneten Lippen.

4

Mittags saßen sie auf dem Hügel und sahen hinunter ins Tal, verschlafen plaudernd, bis er auffuhr: »Warum willst du mich nicht heiraten?«

»Nein. Einige Jahre lang wenigstens nicht. Ich bin zu alt – zweiunddreißig gegen deine – wieviel ist es, acht oder neunundzwanzig? Und ich muß frei sein für den Dienst unseres Herrn … Weißt du, daß es mir ernst damit ist? Ich bin wirklich geweiht, wie immer es auch aussehen mag!«

»Schatz, natürlich weiß ich's! O ja.«

»Aber nicht heiraten. Ab und zu ist es ja gut, bloß menschlich zu sein, aber meistens muß ich wie eine Heilige leben … Außerdem glaub' ich, männliche Bekehrte kommen eher, wenn sie wissen, daß ich nicht verheiratet bin.«

»Verdammt noch einmal, hör' mich an! Hast du mich ein bißchen lieb?«

»Ja. Ein bißchen. Oh, ich hab' dich so gern, als ich nur jemand außer Katie Jonas gern haben kann! Armes Kind!«

Sie ließ ihren Kopf an seine Schulter fallen, ganz gleichgültig jetzt, in dem bienendurchschwärmten Obstgarten, und sein Arm zog sie an sich.

Am Abend sangen sie gemeinsam heilige Hymnen, zur Erbauung der alten Familiendiener, die ihn Doktor zu nennen anfingen.


 << zurück weiter >>