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Meistens waren Elmer und Sharon gelassen wie ein Ehepaar, innig und vertraulich, und immer war er hingebungsvoll. Sharon aber war unberechenbar. Manchmal war sie Priesterin und düsteres Verhängnis, manchmal erschreckend in zupackender Leidenschaftlichkeit, dann wieder war sie ganz klein, ängstlich, und krümmte sich in traurigen Zweifeln an sich selbst, einmal war sie bleich, nonnengleich und still, ein andermal kalte Geschäftsfrau, oder aber sie war ein kleines Mädchen. In dieser letzten, ganz glaubwürdigen Rolle liebte Elmer sie zärtlich – es sei denn, sie spielte sie gerade, wenn sie hinausgehen und dreitausend Leute hypnotisieren sollte.
Dann bat er sie: »Ach, komm jetzt, Shara, bitte, sei gut! Bitte, hör auf zu maulen, geh raus und nimm dir die Leute vor.«
Sie stampfte mit dem Fuß auf, ihr Gesicht wurde ganz runde Kindlichkeit. »Nein! Ich will nicht. Ich will schlimm sein. Schlimm! Mit Sachen schmeißen. Ich möchte rausgehen und irgendwem einen Klaps auf die Glatze geben. Ich hab' genug von den Seelen. Ich möcht' ihnen allen sagen, sie sollen sich zum Teufel scheren!«
»Ach, herrjeh, bitte, Shara! Himmel, Herrgott, Donnerwetter! Sie warten auf dich! Adelbert hat die Strophe jetzt schon zweimal gesungen!«
»Das ist mir ganz gleich! Nochmal singen! Lieder, Lieder, dumme Lieder! Ich will schlimm sein! Hinausgehen und Adelbert Mäuse in seinen dicken Hals stecken – in seinen dicken Hals – in seinen dicken, frommen Hals!«
Doch plötzlich: »Ich wollte, ich könnt's. Ich wollte, man ließe mich wirklich schlimm sein. Ach, ich werd' so müde – alle langen nach mir, saugen mir das Blut aus und wollen, daß ich ihnen den Mut geb', den sie selber nicht kriegen können, weil sie zu kraftlos sind!«
Und eine Minute später stand sie vor dem Publikum, jubelte: »O meine Geliebten, der teure Herr hat heute abend eine Botschaft für euch!«
Und zwei Stunden später, im Taxi, in dem sie zum Hotel fuhren, schluchzte sie an seiner Brust: »Halt mich fest! Ich bin so einsam, ich hab' Angst und frier'.«
Unter seinen verschiedenen Beziehungen zu Sharon war Elmer auch ihr Angestellter. Und er ärgerte sich darüber, daß sie fünfmal so viel von dem Geld verdiente, für das er eine ehrfurchtsvolle Bewunderung hegte.
Als sie die ersten Pläne machten, hatte sie vorgeschlagen:
»Lieber, wenn alles gut geht, möcht' ich, daß du in drei bis vier Jahren dich mit mir in die Opfergaben teilst. Aber erst muß ich eine Menge sparen. Ich hab' Pläne – wenn sie auch noch ganz unsicher sind – eine große Zentrale für unsere Arbeit zu errichten, vielleicht mit einer Zeitschrift und einer Übungsschule für Evangelisten. Sobald das Geld dafür da ist, können wir beide ein Abkommen treffen. Aber vorläufig – wieviel hast du als Reisender verdient?«
»Ach, gegen dreihundert im Monat – so ungefähr dreieinhalb Tausend im Jahr.« Er hatte sie wirklich gern, er log nur um Fünfhundert hinauf.
»Dann will ich dich mit Dreitausendachthundert anfangen lassen, und in vier oder fünf Jahren, hoff ich, werden's Zehntausend sein, oder vielleicht auch doppelt so viel.«
Und nie wieder, in allen kommenden Monaten, redete sie von seinem Gehalt. Das irritierte ihn. Er wußte, daß sie über Zwanzigtausend im Jahr verdiente und aller Wahrscheinlichkeit nach bald Fünfzigtausend verdienen würde. Doch er liebte sie so restlos, daß er kaum öfter daran dachte, als drei oder viermal im Monat.
Sharon brachte auch weiter ihre Truppe in Hotels unter, der Unabhängigkeit halber. Doch es kam zu einem unersprießlichen Mißverständnis. Elmer war, in einer geschäftlichen Besprechung, lange in ihren Zimmer geblieben, so lange, daß er zufällig am Fußende ihres Bettes in Schlaf fiel. Sie waren beide so müde, daß sie bis neun Uhr morgens durchschliefen, und erst wach wurden, als Adelbert Shoop anklopfte und in aller Unschuld hereinkam.
Sharon hob den Kopf und sah, daß Adelbert in sich hineinkicherte.
»Wie können Sie sich erlauben, ohne anzuklopfen in mein Zimmer zu kommen, Sie Lümmel!« raste sie. »Haben Sie kein Gefühl für Bescheidenheit und Anstand? Raus! Flegel!«
Als Adelbert einfältig lächelnd und » wahrhaftig, ich werd' nichts sagen« piepend, hinausgegangen war, fragte Elmer erschrocken: »Herr Gott, glaubst du, daß er uns erpressen wird?«
»O nein, Adelbert betet mich an. Wir Mädel müssen zusammenhalten. Aber es beunruhigt mich. Wenn's irgendein anderer Hotelgast gewesen wäre! Die Leute mißverstehen und kritisieren so gern. Ich will dir sagen, was wir tun müssen. Von jetzt an wollen wir in jeder Stadt ein großes möbliertes Haus für die ganze Mannschaft mieten. Da werden wir noch immer unsere Freiheit haben, aber ohne daß jemand in der Nähe ist, der uns bereden könnte. Und wahrscheinlich können wir auch immer ein feines Haus recht billig von irgendeinem Kirchenmitglied kriegen. Das war' nett! Wenn wir's satt haben, die ganze Zeit so schwer zu arbeiten, können wir 'ne kleine Unterhaltung, nur für uns selber, machen, und auch tanzen. Ich tanz' zu gern. Oh, natürlich schimpf ich in meinen Predigten über das Tanzen, aber ich bin der Meinung – wenn's Leute sind wie wir, die Verständnis haben, dann ist's nicht wie bei weltlichen Leuten, wo's zum Bösen führen würde. Eine Unterhaltung! Obwohl, Art Nichols würde sich bestimmt betrinken. Ach, lassen wir ihn! Er arbeitet so angestrengt. Und jetzt gehst du. Wart! Willst du mir keinen Gutenmorgenkuß geben?«
Sie sicherten sich Adelberts Treue, indem sie ihm schmeichelten, und der Pressechef bekam den Auftrag, in der Stadt, die sie als nächste aufsuchen wollten, ein großes möbliertes Haus zu suchen.
Das Mieten möblierter Häuser für Falconers Evangelistengesellschaft lieferte Stoff genug für neue Streitigkeiten mit den Lokalausschüssen, insbesondere, nachdem die Gesellschaft die betreffende Stadt verlassen hatte.
Es liefen Beschwerden der erzürnten Hauseigentümer ein, die heiligen Arbeiter müßten, wie ein Diakon es ausdrückte, »ganz einfach den Teufel losgelassen haben.«
Er versicherte, daß die Möbel mit Zigarettenstummeln verbrannt, daß Whisky auf die Teppiche gegossen und daß Stühle zerbrochen worden wären. Er stellte Schadenersatzansprüche an den Ortsausschuß; der Ausschuß leitete die Ansprüche an Sharon weiter; es gab eine Menge erbitterter Korrespondenz; und den Ansprüchen wurde nie Genüge geleistet.
Obgleich sich gewöhnlich alles erst herausstellte, wenn die Meetingsserie vorüber war, so daß die Rettung der Welt keine Störungen erlitt, führten diese Streitigkeiten über die Privatangelegenheiten der Evangelistenmannschaft doch zu höchst bedauerlichen Gerüchten. Die Gottlosen stießen ein lautes Hohngelächter aus. Liebliche gehemmte alte Jungfern zerbrachen sich ohne Ende den Kopf darüber, was denn in Wirklichkeit geschehen sein mochte, und überlegten gemeinschaftlich in köstlichem Entsetzen, ob es denn wirklich – äh – ob es denn wirklich etwas Schlimmeres – äh – als Trinken gegeben haben könnte.
Aber immer argumentierte eine Majorität Getreuer logisch, daß Schwester Falconer und Bruder Gantry Gerechte wären, also nichts Unrechtes tun könnten, daß die Gerüchte daher vom Teufel eingeblasen, von Saloonwirten und Ungläubigen verbreitet seien; und angesichts dieser Verfolgung der Gottesleute standen die Anhänger der Falconer-Gesellschaft nur um so begeisterter bei.
Elmer lernte aus den Diskussionen über die Schadenersatzansprüche eine hübsche Methode, die Ausgaben herabzusetzen. Am Ende ihres Aufenthaltes bezahlten sie ganz einfach die Miete für ihr Haus nicht. Sie informierten den Lokalausschuß – nachdem sie gegangen waren – daß der Ausschuß versprochen hätte, Wohnquartiere zu beschaffen, und daß die Angelegenheit damit erledigt sei … Es gab eine Menge Korrespondenz.
Eine von Sharons Hauptsorgen war es, ihre Mannschaft ins Bett zu bringen. Wie die meisten Schauspieler waren sie nach der Vorstellung überdreht. Einige von ihnen waren zu nervös, um zu schlafen, bevor sie die Saturday Evening Post gelesen hatten; andere konnten erst nach dem Meeting essen, machten sich bis nach ein Uhr Spiegeleier und Rühreier, rösteten Toast und zankten wegen des Geschirrwaschens. Obwohl sie sich in der Öffentlichkeit erleuchtet gegen den Dämon Rum stellten, mußten einige der Mitwirkenden ihre Nerven mit einem gelegentlichen Quart Whisky aufputschen; und es gab Tanzereien und allerlei Lustbarkeiten.
Sharon zog es vor, obgleich sie ab und zu eine fürchterliche Strafpredigt hielt, im allgemeinen liebenswürdig blind zu sein; sie hatte auch zu viel Besprechungen mit Elmer, um den Unterhaltungen allzuviel Aufmerksamkeit zu schenken.
Lily Anderson, die blasse Pianistin, protestierte. Sie sollten alle, sagte sie, früh zu Bett gehen, um früh aufstehen zu können. Sie sollten, sagte sie, häufiger zu den häuslichen Gebetsandachten gehen. Die anderen bestanden darauf, daß dies zu viel verlangt sei von Leuten, die von ihren täglichen drei Arbeitsstunden erschöpft seien, doch sie erinnerte sie daran, daß sie das Werk des Herrn täten und bereit sein sollten, sich in diesem Dienst bis zum letzten Atemzug auszupumpen. Das würden sie auch tun, sagten sie; aber nicht heute abend.
Nach Tagen, an denen Art Nichols, der Hornist, und Adolph Klebs, der Geiger, um zehn Uhr morgens solche Köpfe hatten, daß sie etwas einnehmen mußten, pflegten Tage zu kommen, an denen sie alle, auch Art und Adolph, von hysterischer Frömmigkeit besessen waren; an denen sie ganz privatim beteten, bereuten und ihre Stimmen in zeterndem Geheul göttlicher Besessenheit erhoben, bis Sharon voller Wut erklärte, sie wüßte nicht, was ihr lieber sei: durch weltlichen Radau oder durch Hallelujahs aufgeweckt zu werden. Aber einmal kaufte sie ihnen ein Reisegrammophon und viele Platten, zur einen Hälfte rasende Tänze, zur anderen Hymnen.
Obgleich Sharons bloße Anwesenheit Elmer das Bedürfnis nach anderen Stimulantien nahm, nach Tabak, nach Alkohol und den meisten seiner Flüche, dauerte es ein Jahr, bis er alle Gedanken daran völlig aufgegeben hatte. Doch allmählich sah er sich seiner künftigen Macht und seines Beifalls als Geistlicher sicher. Sein Ehrgeiz wurde ihm wichtiger als der Kitzel des Alkohols, er fühlte sich sehr tugendhaft und zufrieden.
Das waren große Tage, Freudentage, sonnige Tage. Er hatte alles, sein Mädchen, seine Arbeit, seinen Ruhm, seine Macht über Menschen. Als sie in Topeka Meetings abhielten, kam seine Mutter aus Paris, um sie zu hören, und als sie sah, daß ihr Sohn zu zweitausend Leuten sprach, waren alle schweren grabestraurigen Zweifel verschwunden, die nach seinem Abgang vom Mizpah-Seminar an ihr gezehrt hatten.
Er hatte jetzt ein Zugehörigkeitsgefühl. Die Evangeliumsmannschaft hatte ihn jetzt als ihren Vorgesetzten angenommen, als kühneren, stärkeren und schlaueren Mitarbeiter als alle außer Sharon, und sie folgten ihm wie Haushunde. Er träumte von einem Tag, an dem er Sharon heiraten, sie als Führerin absetzen – sie sollte natürlich ab und zu als etwas ganz Besonderes predigen – und einer der großen Evangelisten des Landes werden würde. Er wußte, wo er hingehörte. Wenn er Evangelistenkollegen kennenlernte, sie mochten noch so berühmt sein, war er erfreut, aber nicht verlegen.
Lernten Sharon und er nicht einen so hervorragenden Evangelisten wie Dr. Howard Bancock Binch kennen, den großen baptistischen Verfechter der wörtlichen Bibelauslegung, den Direktor der Wahren-Bibel-Übungsschule für Religionsarbeiter, der den Hüter des Weinberges herausgab und der Verfasser des Buches »Törichte Irrtümer der sogenannten Wissenschaft« war? Behandelte Dr. Binch Elmer nicht wie einen Sohn?
Dr. Binch hielt sich zufällig in Joliet auf, auf einer Reise zur Erlangung seines sechsten D. D. (vom Abner-College), während Sharon dort ihre Meetings abhielt. Er lunchte mit Sharon und Elmer.
»Welche Hymnen finden Sie am wirksamsten, Dr. Binch, wenn Sie an Ihren Aufruf nach Bekehrten herangehen?« fragte Elmer.
»Nun, ich will Ihnen sagen, Bruder Gantry,« sagte die Autorität, »ich finde, daß ›So wie ich bin‹ und ›Jesus, ich komme heim‹ auf wirklich einfache Herzen wirken wie nichts anderes.«
»Oh, es tut mir leid, daß ich nicht einer Meinung mit Ihnen sein kann«, widersprach Sharon. »Mir scheint – natürlich haben Sie weitaus mehr Erfahrung und Begabung als ich, Dr. Binch –«
»Durchaus nicht, meine liebe Schwester«, sagte Dr. Binch, mit einem Seitenblick, der Elmer vor Eifersucht rasend machte. »Sie sind jung, aber wir alle erkennen Ihr Genie an.«
»Ich danke Ihnen vielmals. Aber ich meine: die zwei von Ihnen genannten sind nicht lebhaft genug. Ich hab' das Gefühl, wir sollen Hymnen nehmen, die Schwung haben, Hymnen, die einen ganz einfach zur Armensünderbank hinauftanzen lassen.«
Dr. Binch machte eine Pause im Verschlingen seiner panierten Schweinskoteletts und streckte eine weiche, weiße, heilige Hand aus. »Oh, Schwester Falconer, es ist mir fürchterlich, daß Sie das Wort ›Tanzen‹ im Zusammenhang mit einem Evangelisten-Meeting gebrauchen! Was ist der Tanz? Der Weg, der zur Hölle führt! Auf wie viele unschuldige Mädchen haben im Tanzsaal die Verlockungen gewartet, die so viele unsagbare Laster nach sich ziehen!«
Zwei Minuten Unterricht über das Tanzen – erteilt in denselben Worten, deren Sharon sich oft selbst bediente – und Dr. Binch schloß mit dem herzlichen Ersuchen: »Deshalb bitte ich Sie, nicht mehr von einem ›zur Armensünderbank tanzen‹ zu sprechen!«
»Ich weiß, Dr. Binch, ich weiß, aber ich mein' es in seinem heiligen Sinn, so wie David vor dem Herrn getanzt hat.«
»Aber ich bin überzeugt davon, daß das ursprünglich eine ganz andere Bedeutung hatte. Wenn Sie nur den hebräischen Originaltext kannten – das Wort sollte eigentlich nicht übersetzt werden ›tanzte‹ – sondern ›wurde vom Geist bewegt‹.«
»Wirklich? Das wußt' ich nicht. Von jetzt ab werd' ich mich so ausdrücken.«
Sie sahen alle gelehrt drein.
»Was für Methoden«, fragte Elmer, »halten Sie für die erfolgreichsten, um die Leute zum Altar zu zwingen, wenn sie dem Heiligen Geist Widerstand leisten, Dr. Binch?«
»Ich fange immer damit an, daß ich die Leute, die wünschen, daß für sie gebetet wird, auffordere, die Hände aufzuheben.«
»Ich wieder halt' es für das Beste, sie aufstehen zu lassen, wenn sie das Gebet wünschen. Wenn man einen einmal auf die Füße gebracht hat, ist es dann um so leichter, ihn in den Gang hinaus und nach vorn zu bringen. Wenn er nur seine Hand hoch hält, kann er sie wieder runterziehen, bevor man festgestellt hat, wo er ist. Wir haben unsere Platzanweiser dazu erzogen, sofort, in dem Augenblick, wo einer aufsteht, hinzuspringen und zu sagen: ›Nun, Bruder, wollen Sie nicht nach vorn kommen, Schwester Falconer die Hand drücken und Ihren Kampf für Jesus aufnehmen?‹«
»Nein,« sagte Dr. Binch, »ich habe die Erfahrung, daß es viele ängstliche Leute gibt, die langsam geführt werden müssen. Sie zum Aufstehen aufzufordern, ist ein zu großer Schritt. Übrigens, wir haben wahrscheinlich beide recht. Meine Devise als Seelenretter – wenn ich es wagen darf, mir selbst einen so stolzen Titel beizulegen – ist: man soll jede Methode benutzen, die – wie man bei uns zulande sagt – sich bezahlt macht.«
»Ich glaube, das ist richtig«, sagte Elmer. »Hören Sie, Dr. Binch, sagen Sie, was machen Sie mit den Bekehrten, wenn sie zum Altar gekommen sind?«
»Ich trachte immer einen abgetrennten Raum für sie zu haben. Das schafft einem eine gute Möglichkeit, ihr neues Erlebnis zu vertiefen und zu verbreitern. Wenn man die Tür zumacht, gibt es kein Entrinnen für sie. Und dann ist auch nicht eine große Menge da, die sie anstarrt und in Verlegenheit bringt.«
»Das will mir nicht einleuchten«, sagte Sharon. »Ich bin der Ansicht, wenn die Leute, die nach vorn kommen, den Kampf für Christus aufnehmen, sollen sie bereit sein, den Menschen die Stirn zu bieten. Und es macht auch sehr viel Eindruck auf alle Ungeretteten, wenn sie eine Menge Heilsuchender auf der Armensünderbank sehen. Sie müssen zugeben, Bruder Binch – entschuldigen Sie, Dr. Binch – daß viele Leute, die zu einer Erweckungsversammlung nur kommen, um sich zu amüsieren, von der Bekehrung angesteckt werden, wenn sie andere davon gepackt sehen.«
»Nein, ich kann nicht Ihre Ansicht teilen, daß das ebenso wichtig ist, wie einen so tiefen Eindruck auf jeden einzelnen Bekehrten zu machen, daß der dann als Agent für Sie arbeitet. Aber jeder hat seine eigenen Methoden. Ich meine natürlich, solange wie der Herr bei uns und hinter uns steht.«
»Sagen Sie, Dr. Binch,« fragte Elmer, »wie zählen Sie Ihre Bekehrten? Paar von den Predigern in der letzten Stadt haben uns angeklagt, wir würden lügenhafte Angaben über die Anzahl machen. Nach welchem Prinzip zählen Sie sie?«
»Nun, ich zähle jeden (wir haben eine Registriermaschine), der vorkommt und mir die Hand drückt. Was liegt schon daran, wenn einige davon wirklich nur aufgewärmte alte Kirchenmitglieder sind? Ist es nicht genau so viel wert, denen neues geistiges Leben zu geben, die es schon hatten und verloren haben?«
»Aber selbstverständlich. Das ist auch unsere Ansicht. Und in dieser dummen Stadt hat man uns einen Vorwurf daraus gemacht! Wir haben – das heißt, Schwester Falconer hier hat eine Sache probiert, die neu für uns war. Wir sind auf einige der schlimmsten Lasterhöhlen und Kneipen namentlich losgegangen. Wir haben sogar die Straßennummern angegeben. Dieser Angriff hat kolossale Sensation gemacht; die Leute sind nur so hereingeströmt, weil sie hofften, daß wir auch andere Lokale angreifen würden. Ich halte das für eine gute Politik. Hier werden wir's in der nächsten Woche damit versuchen. Es bringt den Sündhaften Gottesfurcht bei und füllt die Versammlungen.«
»So etwas ist nicht ungefährlich«, sagte Dr. Binch. »Ich kann es nicht empfehlen. Das Malheur ist, daß Sie bei einem solchen Angriff Gefahr laufen, einige von den führenden Kirchenmitgliedern zu beleidigen – also die Leute, die eigentlich das meiste Geld einbringen. Sie sind oft die Besitzer von Häusern, die von skrupellosen Menschen zu unmoralischen Zwecken mißbraucht werden, und wenn sie auch natürlich diesen unglückseligen Mißbrauch ihres Eigentums bedauern, sobald Sie solche Lokale namentlich angreifen, riskieren Sie es, die Unterstützung dieser Leute zu verlieren. Es erscheint mir weiser und christlicher, das Laster im allgemeinen anzugreifen.«
»Wie stark ist Ihr Orchester, Dr. Binch?« fragte Sharon.
»Ich nehm', so viel ich kriegen kann. Außer meinem Solisten führ' ich eine Pianistin, einen Geiger, einen Trommler und einen Hornisten mit mir.«
»Aber finden Sie nicht, daß manche Leute etwas gegen die Musik einzuwenden haben?«
»O ja, aber das red' ich ihnen aus, indem ich sage, daß ich es nicht für richtig halte, dem Teufel ein Monopol für alle diese künstlerischen Sachen zu lassen«, sagte Dr. Binch. »Außerdem bin ich der Ansicht, daß eine gute Melodie, so eine hübsche, künstlerische, langsame, bißchen traurige, die Leute in eine Stimmung bringt, in der sie leichter kommen, mit den Herzen und mit den Beiträgen. Übrigens, da wir gerade davon reden, wie ist es euch in der letzten Zeit mit dem Geldeintreiben gegangen? Und was für Methode haben Sie?«
»Es geht recht gut bei uns – und ich brauch' auch eine Menge, weil ich ein Waisenhaus erhalte«, sagte Sharon. »Wir halten uns an den Gedanken des freiwilligen Dankopfers am letzten Tag. So kriegen wir mehr Geld, als uns irgendeine Stadt im voraus garantieren würde. Wenn der Aufruf für die freiwilligen Opfergaben eindringlich genug gehalten ist, erzielen wir im allgemeinen recht hübsche Resultate.«
»Ja, ich habe dieselbe Methode. Aber ich habe die Ausdrücke ›freiwillige Opfergabe‹ und ›Dankopfer‹ nicht gern. Sie sind von bloß zweitklassigen Evangelisten so viel gebraucht worden – die (und es bereitet mir Kummer sagen zu müssen, daß es solche Leute gibt) ihren eigenen Vorteil vor den Dienst am Reich stellen – so viel, daß diese Ausdrücke einen ganz geschäftlichen Klang bekommen haben. Bei meinen Aufrufen zur Sammlung gebrauche ich den Ausdruck ›Liebesgaben‹.«
»Das verdient, überdacht zu werden, Dr. Binch,« seufzte Sharon, »aber, ach, wie traurig ist es, daß wir, mit unserer Heilsbotschaft – wenn nur die traurige Welt darauf hören wollte, könnten wir alle ihre Kümmernisse und Schwierigkeiten lösen – daß wir, mit dieser Botschaft, praktisch sein und Geld für unsere Ausgaben und Wohltätigkeitsverpflichtungen einnehmen müssen. Ach, die Welt weiß uns Evangelisten nicht zu schätzen. Zu denken, was wir für einen ortsansässigen Geistlichen tun können! Diese Prediger, die immer von ihren eigenen Wiedererweckungsversammlungen reden, machen mich krank! Sie wissen nichts von der richtigen Technik. Das Leiten von Erweckungsversammlungen ist ein Beruf. Man muß alle Tricks kennen. In aller Bescheidenheit, ich meine ganz genau zu wissen, was Bekehrte bringt.«
»Ich bin überzeugt davon, Schwester Falconer«, antwortete Binch. »Sagen Sie, finden Sie und Bruder Gantry Gefallen an Union-Wiedererweckungsversammlungen?«
»Selbstverständlich«, sagte Bruder Gantry. »Wir würden keine Wiedererweckung leiten, ohne die vereinigte Unterstützung aller evangelischen Prediger in der Stadt zu haben.«
»Ich glaube, Sie begehen einen Irrtum, Bruder Gantry«, sagte Dr. Binch. »Ich finde, daß ich die erfolgreichsten Meetings mit nur ganz wenigen Kirchen habe, die aber natürlich alle ganz tadellos sind. Wenn man mit allen Predigern arbeitet, hat man eine Menge mit diesen Bauernpredigern zu verhandeln, die Kirchen von der Größe eines Holzschuppens haben und vielleicht Elfhundert im Jahr verdienen, aber trotzdem glauben, daß sie ein Recht haben, Vorschläge zu machen! O nein! Ich will meine Geschäfte mit den großen Predigern von der inneren Stadt machen, die gewohnt sind, Angelegenheiten großzügig zu erledigen, und nicht außer sich geraten, wenn man eine anständige Portion Gaben aus der Stadt davonträgt!«
»Ja, dafür läßt sich allerhand sagen«, meinte Elmer. »Das hat uns auch der muntere Gesangsevangelist – Sie wissen, Bill Buttle – einmal erzählt.«
»Ich will doch hoffen, daß Sie nichts für Bruder Buttle übrighaben!« protestierte Dr. Binch.
»O nein! Wenigstens hab' ich nichts für ihn übriggehabt«, sagte Sharon – ein weiblicher Seitenhieb für Elmer.
Dr. Binch schnaubte: »Er ist ein Schurke! Es gehen Gerüchte um, daß seine Frau ihn verlassen wird. Wie kommt es nur, daß es in einem so erhabenen Beruf wie unserem so viele Schufte gibt? Nehmen Sie Dr. Mortonby! Er selber nennt sich einen waschechten Literalisten, und dazu seine Beziehungen zu dem jungen Weib, das für ihn singt – ich würde Sie beleidigen, Schwester Falconer, wenn ich Ihnen erzählte, was für einen Verdacht ich habe.«
»Ach, ich weiß. Ich hab' ihn nicht kennengelernt, aber ich höre fürchterliche Sachen«, klagte Sharon. »Und Wesley Zigler! Es heißt, daß er trinkt! Ein Evangelist! Na, wenn irgend jemand, der mit mir zu tun hat, auch nur einen einzigen Schluck trinken sollte, schon geht er!«
»Das ist recht, das ist recht. Ist es nicht entsetzlich!« trauerte Dr. Binch. »Und nehmen Sie diesen Charlatan, Edgar Edgars – diesen ekelhaften Exspieler mit seiner empörend ordinären Sprache! Ach! Der Heuchler!«
Voller Freude wiesen sie einander nach, daß dieser Rivale im Evangelistentum ein Ignorant sei, jener ein Scheckschwindler, der dritte wieder nicht ganz zuverlässig hinsichtlich der Lehre von der praemillenialen Wiederkunft; voller Freude zogen sie den Schluß, die einzigen intelligenten und moralischen Evangelisten in Amerika seien Dr. Binch, Schwester Falconer und Bruder Gantry; und der Lunch endete in einer wahren Orgie von Danksagungen.
»Das ist der schlimmste Hohlkopf und Aufschneider in ganz Amerika, dieser Binch, wegen Jona schwankt er, und außerdem hab' ich gehört, daß er Tabak kaut – und dann sein ganzes feines, kultiviertes Getue. Trau ihm nicht«, sagte Sharon nachher zu Elmer, und: »Ach, Lieber, Lieber!«