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Die Glut Lulus, der Stolz auf die eigene Kirche in Schoenheim, das Vergnügen zusehen zu können, wie Frank Shallard, dieser schwache Mensch, auf der Draisine keuchte, alles das konnte Elmer nicht für die Langeweile entschädigen, unter der er in den Seminarkursen von Montag bis Freitag litt – jene Langeweile, die alle Geistlichen mit Ausnahme einiger jagdliebender Landpfarrer und einiger Leiter von Stiftungskirchen mit Fabrikbetrieb ihr ganzes Leben lang ertragen müssen.
Oft dachte er daran, abzudanken und Geschäftsmann zu werden. Da honigsüße Worte und ein wichtiges Auftreten im Geschäftsleben denselben Wert haben würden wie in der Kirche, widmete er die ehrfürchtigste Aufmerksamkeit der Vorlesung des Mr. Ben T. Bohnsoc, »Professors der Rhetorik und Literatur, Lehrers für Stimmbildung«. Bei ihm hatte Elmer ein immer goldeneres (doch stahlhartes) Kanzelbenehmen gelernt, ferner, coram publico keine Sprachfehler zu machen, und daß Hinweise auf Dickens, Victor Hugo, James Whitcomb Riley, Josh Billings und Michelangelo einer Predigt etwas sehr Elegantes, an Chicago Gemahnendes gäben.
Elmers Beredsamkeit wuchs wie ein Kürbis im August. Er ging in den Wald, um sich zu üben. Einmal kam ein kleiner Junge hinter ihm her und stellte sich in einer Lichtung auf einen Baumstumpf, als er aber mit den Worten »Ich führe Klage über die Greuel Eurer geilen und wollüstigen, äh, Greuel«, begrüßt wurde, entfloh er heulend und wurde nie wieder der sorglose Knabe von früher.
In den Augenblicken, da er überzeugt war, er könnte das leichte, aber stiere Leben des Geistlichen fortführen, achtete Elmer auf die Vorlesungen des Dekans Trosper über praktische Theologie und Homiletik. Dr. Trosper erzählte den strebsamen, frommen Priestern, was zu sagen wäre, wenn man zu Kranken gerufen würde, wie man es vermeiden sollte, von Chorsängerinnen kompromittiert zu werden, wie man sich erbaulicher oder erheiternder Anekdoten entsinnen könnte, indem man sie katalogisierte, wie man Predigten vorzubereiten hätte, wenn man nichts zu sagen wüßte, in was für Büchern die am besten vorgekauten Predigtentwürfe zu finden seien, und, höchst nützlich für alle, wie sich Geld eintreiben ließe.
Eddie Fislingers Kollegheft für praktische Theologie (das Elmer vor Prüfungen auch als Elmers Kollegheft betrachtete) war mit praktischer Theologie folgender Art angefüllt:
Seelsorgerbesuch:
Keine Parteilichkeit.
Dienstmädchen nicht übersehen, freundlich sein.
Unterhaltend sein, gefällige Manieren, Lachen, eventuell eine komische Geschichte, aber keinen Skandal oder Kritik anderer.
Nur 15-30 Minuten bleiben.
Fragen, ob Mitbeten erwünscht, nicht darauf bestehen.
An gute Gelegenheiten bei Krankheit, Kummer, Hochzeit denken.
Scherzend fragen, warum Gatte nicht öfter in der Kirche.
Die Hymnologie-Vorlesung fand Elmer erträglich; die Vorlesungen: Auslegung des Neuen Testaments, Kirchengeschichte, Theologie, Missionswesen und Vergleichende Religionswissenschaft ertrug er stumpfsinnig, verfluchte er hitzig. Wer zum Teufel scherte sich darum, ob Adoniram Judson durch die Lektüre seines Griechischen Neuen Testaments Baptist geworden sei? Wozu der ganze Blödsinn mit der Menge Prophezeiungen in der Offenbarung – er dachte nicht daran, über so neunmalkluge Sachen zu predigen! Und von ihnen zu erwarten, daß sie mit diesem Filioque-Beweis in der Theologie etwas anfangen könnten! Zu dumm!
Die Dozenten für das Neue Testament und für Kirchengeschichte waren Geistliche, die von bewundernden, doch gelangweilten Großstadtgemeinden die Treppe hinaufgeworfen worden waren. Zu beiden hatten höfliche Diakone gesagt: »Wir halten Sie im wesentlichen für einen Gelehrten, Bruder, mehr als für einen Seelsorger. Sie sind überaus gelehrt. Wir sind an der Arbeit, Ihnen die große Ehre zu verschaffen, die Ihnen zukommt – die Berufung auf den Lehrstuhl in einem unserer Baptistenseminare. Sie werden vielleicht ein etwas geringeres Gehalt bekommen, dafür aber um so mehr von den Ehren, die Sie in so hohem Ausmaße verdienen, und viel leichtere Arbeit haben, sozusagen.«
Die dankbaren Weisen hatten angenommen und verbrachten den Rest ihres Lebens damit, daß sie Meinungen aus fünfzehnter Hand lasen, friedliche Schläfchen machten und die gähnenden Studenten mit der blutlosen, weitschweifigen Bücherweisheit anödeten, die sie Wissenschaft nannten.
Doch die schlimmste von Elmers Plagen war die Vorlesung Dr. Bruno Zechlins, Professors für Griechisch, Hebräisch und Exegese des Alten Testaments.
Bruno Zechlin war Bonner Dr.phil. und Edinburgher S.T.D. Er war einer von dem Dutzend ernst zu nehmender Gelehrter, die es an sämtlichen theologischen Instituten Amerikas gibt, und zufällig war er ein völliger Versager. Er las stockend, er schrieb undeutlich, er konnte nicht von Gott reden, als ob er ihn persönlich kenne, und konnte nicht freundlich zu Dummköpfen sein.
Das Mizpah-Seminar gehörte zum rechten Flügel der Baptisten; es repräsentierte, was zwanzig Jahre später als »Fundamentalismus« bekannt werden sollte; und in Mizpah stand Dr. Zechlin unter dem Verdacht der Ketzerei.
Überdies hatte er einen lohfarbenen deutschen Bart und war nicht in Kansas oder Ohio geboren, sondern in einer Stadt, die lächerlicherweise Frankfort hieß.
Elmer verachtete ihn, weil er einen Bart trug, weil er von der hebräischen Syntax begeistert war, weil er keine nützlichen Tips für ehrgeizige, junge Berufspropheten wußte, und weil es ihm anscheinend besondere Freude bereitet hätte, Elmer in Griechisch durchfallen zu lassen.
Doch Frank Shallard liebte Dr. Zechlin, ihn als einzigen von den Mitgliedern des Lehrkörpers.
Frank Shallards Vater war ein freundlicher Baptistengeistlicher, gelehrt, gemäßigt liberal, nicht ohne Erfolg; seine Mutter stammte aus einer etwas heruntergekommenen Main-Line-Familie. Er war in Harrisburg geboren und in Pittsburgh aufgewachsen, immer unter dem Schatten der Kirche – in seinem Fall einem freundlichen, heiteren Schatten, obgleich sein Vater sich lange bei Familiengebeten aufhielt und seinen Jungen lehrte, alle weltlichen Unreinheiten zu vermeiden, wozu auch das Tanzen, das Theater und die frivolen Werke Balzacs gehörten.
Es war die Rede davon, Frank an die Brown-Universität oder nach Pennsylvanien zu schicken, aber als er fünfzehn Jahre alt war, erhielt sein Vater einen Ruf an eine große Kirche in Cleveland, und die Lehrer des Oberlin-Colleges in Ohio durften für Frank die Zeugnisse des Christentums, die in Plautus, Homer, dem Rechnen, Basketball und der Geschichte der französischen Revolution zu finden sind, interpretieren und verherrlichen.
Es steckte viel von einem geborenen Dichter in ihm, und, wie es bei Dichtern nicht allzu selten der Fall ist, etwas von forschendem und wissenschaftlichem Geist. Aber sowohl Phantasie wie Verstand waren in einer Frömmigkeit aufgegangen, in der Zweifel nicht nur sündhaft, sondern, viel schlimmer noch, taktlos war. Seine Gaben, die sich Rosen und dem Gesang hätten zuwenden können, fliegenden Fahnen und aufschneiderischer Bravour, oder auch Mitleid mit den hoffnungslosen Arbeitern, waren in Anspruch genommen von der schrecklichen Majestät des jüdischen Jehova, der wärmenden Gnade unseres Herrn, den Erzählungen von seiner Geburt – juwelengeschmückte Könige und das Lagerfeuer der Hirten, der strahlende Stern und das Kindlein in der Krippe; Mythen, schimmernd wie Emailleknospen – und er war bezaubert von den Mysterien der Offenbarung.
Er war nicht nur in Theologie eingehüllt worden, seine ganze Erfahrung stammte aus Büchern, statt aus den Worten arbeitender Menschen. Im College war er ein Einsiedler gewesen, heiter, aber anspruchsvoll, von der Manierlosigkeit und dem rohen Lachen seiner Klassengefährten angewidert.
Sein Denken war nach innen gewendet, von jeder Untersuchung der Menschen als Säugetiere abgekehrt und einem Leid zugeführt worden: daß sündige und leidende Seelen nicht mehr voller Bereitschaft die Sicherheit eines mystischen Prozesses suchten, der als Bekehrung, Reue und Erlösung bekannt war und, wie ihm die edelsten und gelehrtesten Männer seines Bekanntenkreises versicherten, zuversichtlich allem Weh abhelfen sollte. Seine eigene Erfahrung bestätigte das nicht durchaus. Auch nachdem er schon mit ziemlicher Begeisterung gerettet worden war, mußte er sich dabei ertappen, daß er noch immer über die Zudringlichkeit von Bauernflegeln in stille Wut geriet, noch immer heimliche, neugierige Blicke auf gerundete Mädchenkörper warf. Aber das, versicherte er sich, geschah nur, weil er noch nicht »zur Vollkommenheit gelangt war«.
Es gab Zweifel. Die Gewohnheit des alttestamentarischen Gottes, die blutige Niedermetzelung eines jeden zu verlangen, der ihm nicht schmeichelte, erschien ihm ziemlich antisozial, und er mußte darüber nachdenken, ob all die wollüstigen Worte im Hohenlied Salomos sich wirklich auf das Treueverhältnis zwischen Christus und der Kirche bezögen. Es schien so unähnlich den Tagungen der Oberlinkapelle und der Miller-Avenue-Baptistenkirche von Cleveland, Ohio. Sollte es möglich sein, daß Salomo vielleicht Beziehungen zwischen weltlicheren, frivoleren Geschöpfen meinte?
Die Verstandeskräfte, die Frank hatte, widmete er nicht der Untersuchung der Heiligen Schrift, an der sein Zweifel vieles auszusetzen hatte, sondern der Untersuchung und Verscheuchung des Zweifels selbst. Für ihn war es ein Axiom, daß der Zweifel etwas Verruchtes sei, und er konnte sich einer ziemlich beträchtlichen Begabung für seine Zweifelaustreibung erfreuen. Er fand ein gutes Teil Selbstachtung und Vergnügen in den purpurverbrämten Doppeldeutigkeiten der Religion.
Daß er Geistlicher werden sollte, war stets selbstverständlich gewesen. Er hatte keinen so deutlichen und ekstatischen Ruf wie Elmer erlebt, wußte aber seit jeher, daß er sich immer mit Theorien über die Eucharistie herumschlagen und den Menschen den Weg zu den auf keiner Karte verzeichneten Hochebenen weisen würde, die da heißen Gerechtigkeit, Idealismus, Ehrlichkeit, Aufopferung, Schönheit, Erlösung.
Mit seinem flachsfarbenen Haar, der blühenden Hautfarbe, der schönen Nase, den braunen Hundeaugen und seiner aufrechten Haltung war Frank mit dreiundzwanzig Jahren, in seinem Seniorenjahr im Mizpah-Seminar, ein hübscher junger Mann.
Er stand bei Dekan Trosper und dem Professor für Auslegung des Neuen Testaments in Gunst; seine Noten waren gut, sein Betragen respektvoll, er versäumte keine Vorlesung. Aber sein geliebter Meister unter den Lehrern war der stammelnde und strauchelnde Bruno Zechlin, dieser bärtige Advocatus der hebräischen Syntax, der im Geruch stand, ein Opfer des deutschen Biers und des deutschen Rationalismus zu sein, und Frank war der einzige Student unter seinen Altersgenossen, den Dr. Zechlin zu seinem Vertrauten erwählte.
In Franks erstem Jahr in Mizpah verhielten Zechlin und er sich lediglich höflich gegeneinander; sie beobachteten einander, achteten einander und blieben einander fern. Frank empfand vor Dr. Zechlins Gelehrsamkeit Scheu, und schließlich war Zechlin es, der Freundschaft anbot. Er war ein einsamer Mann. Er war Junggeselle und verachtete alle Kollegen, die er nicht fürchtete. Einen ganz besonderen Abscheu hatte er davor, von aktiven, langbeinigen, brüllenden Predigern aus dem Urwald »Bruder Zechlin« genannt zu werden.
Zu Beginn seines zweiten Jahrs in Mizpah klagte Frank einmal in der Exegesevorlesung: »Professor Zechlin, ich möchte Sie bitten, mir etwas anscheinend Widerspruchsvolles aus der Bibel zu erklären. Es heißt bei Johannes – irgendwo im ersten Kapitel, glaub' ich, steht es – ›Niemand hat je Gott gesehen‹, und dann wird bei Timotheus von Gott ausdrücklich gesagt, ›welchen kein Mensch gesehen hat, noch sehen kann‹, und doch haben in Exodus Vierundzwanzig Moses und mehr als siebzig andere ihn gesehen, mit Boden unter seinen Füßen, Isaias und Amos sagen, sie hätten ihn gesehen, und Gott richtete es eigens für Moses ein, daß er einen Teil von ihm sehen könnte, und auch da – Gott sagte zu Moses, niemand könnte es ertragen, sein Angesicht zu sehen, und am Leben bleiben, und doch hat Jakob tatsächlich mit Gott gerungen, ihn von Angesicht zu Angesicht gesehen und trotzdem weitergelebt. Wirklich, Professor, ich suche nicht Zweifel zu erwecken, aber hier scheint doch ein Widerspruch zu stecken, und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn ich die richtige Erklärung dafür finden könnte.«
Dr. Zechlin sah ihn mit seltsam verwirrter Freude an. »Was verstehen Sie unter einer richtigen Erklärung, Shallard?«
»Etwas, womit wir diese Dinge jungen Leuten, die davon gequält werden könnten, zu erklären imstande sind.«
»Nun die Sache ist ziemlich kompliziert. Wenn Sie heute abend nach dem Essen in meine Wohnung kommen wollen, werde ich versuchen, es Ihnen klarzumachen.«
Doch als Frank voll Schüchternheit seinen Besuch machte (Dr. Zechlin hatte übertrieben, als er von seiner »Wohnung« sprach, denn er hatte nur ein Studierzimmer, in dem überall Bücher herumlagen, mit einem Alkoven für das Bett, im Haus eines Osteopathen) versuchte er keineswegs, es klarzumachen. Er machte Andeutungen, um hinter Franks Ansichten über das Rauchen zu kommen, und gab ihm eine Zigarre; er begrub sich in einem muffigen Lehnstuhl und fragte:
»Empfinden Sie überhaupt manchmal einen kleinen Zweifel über die buchstäbliche Auslegung unseres Alten Testaments, Shallard?«
Sein Ton war freundlich, sehr verständnisvoll.
»Ich weiß nicht. Ja, ich glaube. Ich nenne es nicht gern Zweifel –«
»Warum nicht Zweifel? Zweifeln ist ein sehr gesundes Zeichen, insbesondere an jungen Menschen. Begreifen Sie nicht, daß Sie sonst den ganzen Unterricht ungekaut verschlingen würden, und sind Sie nicht auch der Meinung, daß kein menschlicher Lehrer immer recht haben kann?«
So begann es – begann eine Unterredung, stets vorsichtig, immer offener werdend, die bis Mitternacht dauerte. Dr. Zechlin lieh ihm (unter Beschwörungen, die Bücher keinem einzigen Menschen zu zeigen) Renans »Jesus« und »Die Religion eines reifen Verstandes« von Coe.
Frank kam wieder in Dr. Zechlins Zimmer, sie gingen spazieren, bummelten gemeinsam durch süßduftende Apfelgärten und merkten in ihrem Eifer, über die Bestimmung des Menschen und über die neidischen Götter, nicht einmal etwas vom Altweibersommer.
Erst nach drei Monaten gestand Zechlin ein, daß er Agnostiker sei, und erst nach einem weiteren Monat, daß Atheist vielleicht eine angemessenere Bezeichnung für ihn wäre als Agnostiker.
Schon bevor Zechlin seinen Doktor der Theologie gemacht hatte, war es ihm klar gewesen, daß es ebenso unmöglich sei, die Mythen des Christentums buchstäblich zu nehmen, wie die Mythen des Buddhismus. Doch viele Jahre lang hatte er seine Ketzereien rationalisiert. Diese Mythen, tröstete er sich, sind Symbole, welche die Herrlichkeit Gottes und die Führerschaft von Christi Genius darstellen. Er hatte eine zufriedenstellende Parabel zustande gebracht: Der Buchstabengläubige, sagte er, versichert, daß eine Fahne etwas Heiliges sei, etwas, wofür man sterben müßte, nicht symbolisch, sondern an sich. Der Ungläubige, am andern Ende der Stufenleiter, behauptet, die Fahne sei ein Fetzen aus Wolle, Seide oder Baumwolle, mit ziemlich unästhetischen Zeichen bedruckt, viel unnützer, deshalb auch weniger heilig und weniger romantisch als ein Hemd oder eine Bettdecke. Für den vorurteilsfreien Denker jedoch, für ihn selbst, sei sie ein Symbol, geheiligt einzig durch die Suggestion, deshalb aber um nichts weniger geheiligt.
Nach nahezu zwei Dekaden wußte er, daß er sich selbst zum Narren gehalten hatte; daß er in Wirklichkeit Jesus nicht als alleinigen Führer bewunderte; daß die Lehren Jesu einander widersprächen und von früheren Rabbinern entlehnt seien; und daß die Lehren des Christentums, wenn sie passende Flaggen, Symbole, Philosophien für die meisten der herumschreienden Prediger seien, die er kennenlernte und verachtete, für ihn notwendigerweise die Flaggen, die Symbole des Feindes sein müßten.
Jedoch, er blieb weiter Baptistengeistlicher und unterrichtete weiter junge Prediger.
Das versuchte er Frank Shallard zu erklären, ohne daß er sich allzusehr zu schämen schien.
Erstens, meinte er, sei es hart für jeden Menschen, besonders für einen fünfundsechzig Jahre alten Lehrer, der Philosophie untreu zu werden, die er sein ganzes Leben lang gelehrt hatte. Das ließe das Leben zu jämmerlich nutzlos erscheinen.
Außerdem liebe er es ungemein, theologische Labyrinthe zu durchwandern.
Und, gestand er ein, als sie einmal in der Winterdämmerung heimwärts stapften, er habe Angst, die Wahrheit zu bekennen, weil er unweigerlich seine Stellung verlieren würde.
Er sei wohl ein Mann von Wissen, aber ein zu kläglicher Prediger, um von einer liberalen Religionsgesellschaft aufgenommen zu werden, ein zu schwerfälliger Schreiber, um sich dem Journalismus zuzuwenden; und außerhalb der Welt des frommen Schmarotzertums (seine eigenen Worte) habe er keine Möglichkeit, sich zu ernähren. Wenn er aus dem Seminar flöge, müßte er verhungern.
»So!« sagte er finster. »Es wäre mir fürchterlich, wenn Sie all das durchmachen müßten, Frank.«
»Aber – aber – aber – was soll ich tun, Dr. Zechlin? Meinen Sie, ich soll aus der Kirche heraus? Jetzt, solange es noch Zeit ist?«
»Sie haben mit der Kirche gelebt. Ohne sie würden Sie sich wahrscheinlich einsam vorkommen. Vielleicht sollten Sie drin bleiben … um sie zu zerstören!«
»Aber würden Sie denn wünschen, daß sie zerstört wird? Selbst wenn einige Einzelheiten des Dogmas nicht wahr sind – oder sogar alle – bedenken Sie, was für ein Trost die Religion und die Kirche für die schwache Menschheit sind!«
»Sind sie das? Ich weiß nicht! Haben fröhliche Agnostiker, die wissen, daß sie tot sein werden, wenn sie einmal gestorben sind, es nicht viel leichter als gute Baptisten, die sich Sorgen darüber machen, ob ihre Söhne, Vettern und Geliebten auch in den baptistischen Himmel kommen werden – oder, was noch schlimmer ist, sich den Kopf darüber zerbrechen, ob sie nicht vielleicht falsch geraten haben – ob Gott nicht vielleicht doch ein Katholik, ein Mormone oder ein Sabbat-Adventist ist, und nicht ein Baptist, und dann kommen sie alle selber in die Hölle! Trost? Nein! Aber – bleiben Sie in der Kirche. Bis Sie hinauswollen.«
Als er im Seniorenjahr war, hatte er viele von Dr. Zechlins eingeschmuggelten Büchern gelesen: Davenports »Primitive Züge bei religiösen Erweckungsversammlungen,« aus dem er lernte, die Schreie, das Schäumen und die Zuckungen bei Erweckungsversammlungen seien um nichts heiliger als andere barbarische Religionshysterien; Dods und Sunderland über den Ursprung der Bibel, worin er den Nachweis bekam, daß die Bibel nicht heiliger oder unfehlbarer sei als Homer; Nathaniel Schmidts revolutionäres Leben Jesu, »Der Prophet von Nazareth«, und Whites »Geschichte des Kriegs der Wissenschaft gegen die Theologie«, worin die Religion als Feind, nicht als Förderer des menschlichen Fortschritts geschildert wurde. Er war tatsächlich – in einem Baptistenseminar! – ein Musterexemplar des »durch gottlose Erziehung verdorbenen jungen Manns«, den die baptistischen Zeitschriften so gern schilderten.
Aber er blieb.
Er hing an der Kirche. Sie war sein Land, sein Patriotismus. Nebelhaft, ziemlich unpraktisch und völlig elend machte er Pläne, sein Leben einem Projekt zu widmen, das er »die Liberalisierung der Kirche von innen« nannte.
Nach seinen Sophistereien war es eine Erleichterung für ihn, ein so lebendiges Gefühl wie seinen schönen, klaren, gesunden Haß gegen Bruder Elmer Gantry zu verspüren.
Frank hatte immer Widerwillen empfunden gegen Elmers Stumpfheit und Glätte, gegen seine Zoten und seine Unfähigkeit, die allerelementarste Abstraktion zu begreifen. Doch Frank war für gewöhnlich kein großer Hasser, und als sie aufbrachen, um die Herde in Schoenheim zu hüten, gefiel ihm Elmer in seiner kraftvollen Erregung fast – in der schönen irdischen Erregung eines Athleten.
Für Frank war Lulu Bains ein Biskuitpüppchen, er hätte sie streicheln können wie irgendein zehnjähriges Kind in seiner Sonntagsschulklasse. Er sah Elmers ganzen Körper beim Anblick Lulus steif werden. Und er konnte nicht das geringste tun.
Er fürchtete, wenn er mit Mr. Bains, oder auch nur mit Lulu, spräche, müßte Elmer sie in der ersten Aufregung heiraten, und plötzlich war der Frank, der immer »die heilige Institution der Ehe« akzeptiert hatte, überzeugt, daß für ein Fohlen wie Lulu jedes wilde Ausschlagen besser sein würde, als vor Elmers schmutzigen Pflug gespannt zu werden.
Franks geistlicher Vater und seine Mutter gingen über Weihnachten nach Kalifornien, er selbst verbrachte den Feiertag bei Dr. Zechlin. Die beiden feierten den Heiligen Abend, und es war wirklich ein sehr glänzender, behaglicher, wunderschöner deutscher Weihnachtsabend. Zechlin hatte eine Gans herbeigeschafft, die Frau des Osteopathen dazugebracht, sie zuzubereiten, mit Würstchen zur Füllung und preißelbeergefüllten Eierkuchen zur Garnierung. Er braute einen Punsch, der nichts weniger als baptistisch war, der schäumte, göttlich roch und Frank Visionen brachte.
Sie saßen in alten Stühlen zu beiden Seiten des runden Ofens, schwenkten behaglich ihre Punschgläser und sangen:
Stille Nacht, heilige Nacht,
Alles schläft, einsam wacht
Nur das traute hochheilige Paar,
Holder Knabe im lockigen Haar,
Schlaf in himmlischer Ruh,
Schlaf in himmlischer Ruh.
»Ach ja,« meditierte der alte Mann, »das ist der Christus, von dem ich noch träume – das Kind mit dem schimmernden Haar, das liebe deutsche Christkind – das schöne Märchen – und euer Dekan Trosper macht Jesus zu einem Ungeheuer, das Jugend und Lachen verabscheut – Wein, Weib und Gesang. Der Arme! Wie unglücklich war er doch, dieser Christus, daß er beim Hochzeitsfest nicht den guten Trosper bei sich hatte, um sich erklären zu lassen, daß er das Wasser nicht in Wein verwandeln dürfte. Chk! Chk! Ob ich schon zu alt bin, um mir eine kleine Farm mit einem großen Weinberg und sieben Büchern zuzulegen?«
Elmer Gantry machte immer Witze über Dr. Bruno Zechlin. Manchmal nannte er ihn »alter Fußelkopf«. Manchmal sagte er: »Der alte Idiot muß ja Hebräisch lehren, er sieht selber aus wie 'ne Seite Jiddisch.« Elmer verstand sich auf solche Dinge. Der Beifall Eddie Fislingers, der in Korridoren und Toiletten gesagt haben sollte, Zechlin fehle es an Idealismus, ermutigte Elmer zu seinem Meisterstück.
Vor der Exegese-Vorlesung schrieb er mit verstellter Schrift an die schwarze Tafel:
»Ich bin der Fußelkopf Zechlin, der Obergescheite, der mehr weiß als Gott. Wenn Jake Trosper dahinter käme, was ich wirklich über die Offenbarung der Schrift denke, würde er mich bei meinem dreckigen deutschen Genick packen und hinausschmeißen.«
Die versammelten Studenten wieherten, sogar Bruder Karkis, der Hinterwäldler-Calvin.
Dr. Zechlin kam lächelnd in den Kollegsaal getrottet. Er las die Inschrift auf der Tafel. Er sah ungläubig aus, dann erschrocken, er starrte seine Klasse an wie ein alter Hund, nach dem Rohlinge Steine geworfen haben. Er drehte sich um und ging hinaus, begleitet vom Gelächter der Brüder Gantry und Karkis.
Wie dieser Zwischenfall Dekan Trosper zu Ohren kam, ist nicht bekannt.
Er ließ Elmer holen. »Ich habe den Verdacht, daß Sie das auf die Tafel geschrieben haben.«
Elmer dachte zu leugnen, dann platzte er heraus: »Ja, ich war's, Dekan. Ich sage Ihnen, es ist eine Schande – ich will durchaus nicht behaupten, ein Stadium christlicher Vollkommenheit erreicht zu haben, aber ich geb' mir schwer Mühe, und es ist meiner Ansicht nach ein Skandal, wenn jemand vom Lehrkörper es darauf anlegt, uns unsern Glauben durch versteckte Andeutungen und Spötteleien zu nehmen; das ist meine Meinung.«
Dekan Trosper antwortete bissig: »Ich glaube nicht, daß Sie sich um irgend jemand bekümmern müssen, der Ihnen neue Möglichkeiten des Sündigens vor Augen führt, Bruder Gantry. Aber es ist einiges berechtigt an dem, was Sie sagen. Jetzt gehen Sie hin und sündigen Sie nicht mehr. Ich glaube noch immer, das Sie eines Tages vielleicht zu Verstand kommen und aus Ihrer Lebenskraft ein Gnadenmittel für Viele, eventuell auch für Sie selbst, machen. Ist gut.«
Dr. Bruno Zechlin wurde zu Ostern plötzlich pensioniert. Er zog zu seiner Nichte. Sie war arm, spielte gern Bridge und wollte ihn nicht haben. Er verdiente etwas Geld durch Übersetzungen aus dem Deutschen.
Bevor zwei Jahre um waren, starb er.
Elmer Gantry erfuhr nie, wer ihm dreißig Nickel, eingepackt in ein Traktätchen über Frömmigkeit, geschickt hatte, noch warum. Aber er fand die Gedanken im Traktätchen nützlich für eine Predigt, und die dreißig Zehncentstücke gab er für lustige Photographien von Operettendämchen aus.