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Erst im Dezember stellte Sharon Falconer Elmer als Assistenten an.
Als Cecil Aylston gehen mußte, sagte er, leise und in kaltem Ton: »Das wird das letztemal gewesen sein, meine liebe Prophetin und Glaubenshausiererin, daß ich den Versuch gemacht habe, anständig zu sein.« Es ist aber bekannt, daß er einige Monate lang versuchte, eine Rettungsmission in Buffalo zu leiten; und wenn er auf seinen Geisteszustand untersucht wurde, so geschah das nur, weil man beobachtet hatte, daß er viele Stunden dasaß und vor sich hinstarrte. Er wurde in einer Spielhöhle in Juarez umgebracht, und als Sharon davon hörte, war sie sehr traurig – sie sprach davon, seine Leiche zu holen, war aber zu sehr mit frommen Arbeiten beschäftigt.
Elmer stieß zu Beginn der Meetings in Cedar Rapids, Iowa, zu ihr. Er eröffnete die Meetings für sie, machte Ankündigungen, sprach Gebete, predigte, wenn sie zu müde war, und sang vor, wenn Adelbert Shoop, der Musikdirektor, indisponiert war. Er schuf ein Dutzend ordentlicher Predigten aus Exegese-Enzyclopädien, aus Handbüchern für Evangelisten und Leitfäden für Predigtentwürfe. Er hatte eine mächtige Ansprache, nur für die Männerandachten, über die Kraft und Wonne der vollständigen Keuschheit; er erzählte, wie Jim Leffingwell die Torheit der Lüste am Totenbett seiner Tochter einsah; und er hatte eine erhebende Ansprache für alle Gelegenheiten, über die Liebe als den Morgen- und den Abendstern.
Er unterstützte Sharon, wo Cecil sie gebremst hatte – so sagte wenigstens sie. Obgleich sie sich ihren poetischen Wortschatz bewahrte, ermutigte er sie gerade in jener derben und vulgären Anklage der Sünden, die Cecil schaudern gemacht hatte. Er sprach auch von Cecil als »Osric« – was sie sehr spaßhaft fand – als »Percy« und »Algernon«. Er redete ihr zu, die größten Städte zu bestürmen, die feinsten und die rohesten Auditorien, und sich nicht mit den lauen Hochkirchenphrasen anzukündigen, die Cecil für gut befunden hatte, sondern auf eine Weise, die für einen Zirkus paßte, eine Versammlung der Elchbrüder oder einen neuen Messias.
Unter Elmers Zureden wagte sie sich zum erstenmal in größere Städte. Sie fiel über Minneapolis her und riskierte, lediglich von Sekten wie der Bibelgemeinde, den Nazarenern, der Gotteskirche und den Wesleyaner-Methodisten unterstützt, ihre Ersparnisse für teure Pacht und zweispaltige Sechszollinserate.
Minneapolis begeisterte sich ebenso wie kleinere Ortschaften an Sharons Stimme und Augen, an ihren griechischen Gewändern, an ihrer goldweißen Altarpyramide; die Einnahmen waren zufriedenstellend. Danach schob sie Indianapolis, Rochester, Atlanta, Seattle, die beiden Portlands und Pittsburgh zwischen kleineren Städten ein. Zwei Jahre lang war das Leben für Elmer Gantry ein Wirbelwind.
Es hatte ein so rasendes Tempo, daß er in der Erinnerung keine Stadt von der anderen unterscheiden konnte. Das Ganze war ein Durcheinander aus glühenden Predigten, verzückten Bekehrten, Aufforderungen zum Zahlen, Zügen, dem Tadeln lässiger persönlicher Arbeiterinnen, Rügen für Adelbert Shoop wegen Betrunkenheit, dem Hinauswerfen von Adelbert Shoop, dem Zurückholen von Adelbert Shoop, wenn kein anderer so salbungsvoll frommer Tenor zu finden war.
Einer Pflicht wurde er nie müde: zu Nutz und Frommen heilsuchender Damen herumzustehen, Eindruck zu machen und sehr männlich auszusehen. Er pflegte sie zärtlich bei den Händen zu fassen und zu stöhnen: »Wollen Sie nicht hören, wie die Stimme unseres süßen Heilands ruft, Schwester?« Und alle, alte Jungfern in traurig vertrockneter Mädchenhaftigkeit und mißverstandene Frauen, hielten seine Hand fest und wurden der sorgfältig geführten Summe geretteter Seelen zugezählt. Sharon sah darauf, daß er sich für diese Rolle richtig kleidete – in doppelreihiges Dunkelblau mit schneidiger Krawatte im Winter, und im Sommer in weiße Anzüge und weiße Schuhe.
Doch so laut auch die Röcke um ihn rauschten, Sharons gewaltiger Zauber war so groß, daß er ihr treu blieb.
Wenn er in diesen zwei Jahren eine Derwischgestalt war, so war sie eine Sternschnuppe; begeistert in ihren Predigten, leidenschaftlich mit ihm, dann wieder ein nichtsnutziges Kind, das lachte und sich sogar zur Predigtstunde weigerte, ernst zu sein; einmal voll edler Freigebigkeit, dann wieder ein Geizhals, der über zehn Cents für Marken ein Geschrei erhob. Immer, in jeder übersteigerten Laune, war sie seine Religion und sein Existenzgrund.
Als Sharon die größeren Städte attackierte und um die Unterstützung der reicheren Kirchen bat, mußte sie einige neue Methoden im Evangelistengeschäft ins Leben rufen. Die Kirchen waren mißtrauisch gegen Evangelistinnen – Frauen mochten ja ganz gut sein, um Kranke zu besuchen, für die Heiden zu stricken und Erdbeerwohltätigkeitsfeste zu geben, aber sie konnten nicht laut genug brüllen, um den Teufel aus Sündern herauszuschrecken. Allerdings wurden alle Evangelisten, männliche und weibliche, angegriffen. Vernünftige Kirchenleute da und dort fragten, ob es denn überhaupt von besonderem geistlichen Wert wäre, die Leute so zu erschrecken, daß sie auf dem Bauch kriechende Wahnsinnige werden müßten. Sie veröffentlichten Statistiken, die behaupteten, daß keine zehn Prozent der bei Wiedererweckungs-Meetings Bekehrten Kirchenmitglieder blieben. Sie waren sogar so kaufmännisch, die Frage aufzuwerfen, warum denn ein Pastor mit einem Jahresgehalt von zweitausend Dollars – wenn er es überhaupt bekam – sich abmühen sollte, um einem Evangelisten beim Verdienen von zehntausend, vierzigtausend zu helfen.
Allen diesen Zweiflern mußte geantwortet werden. Elmer überredete Sharon, ihren früheren vorausreisenden Manager zu entlassen – er war Geistlicher und Mitarbeiter bei frommen Zeitungen gewesen, bis zu seiner unglückseligen Affäre mit den Ölaktien – und einen richtigen Pressechef zu engagieren, dessen Vorbildung in Zeitungsarbeit, Zirkusreklame und Land- und Heimstättengründungen bestand. Elmer und der Pressechef waren es, welche die neue Technik des gefährlichen, aber Eindruck machenden Kampfes ausarbeiteten.
Im Gegensatz zu dem früheren Manager, der die Geistlichen und die reichen Laien der Städte, in die Sharon eingeladen zu werden wünschte, gebeten hatte, ihren geistlichen Wert anzuerkennen, und nervös in Hotels herumgesessen war, war der neue Heilshändler kurz angebunden:
»Ich kann meine Zeit und die Zeit des Herrn nicht vergeuden, indem ich warte, bis Sie zu einem Entschluß gekommen sind. Schwester Falconer hat an dieser Stadt besonderes Interesse, weil sie gehört hat, daß hier unterirdische Regungen zu verspüren sind, die Ihre Kirchen ganz einfach überfüllen würden, sobald ein richtiger Fachmann wie sie herkommt, um die Lunte in Brand zu stecken. Aber es gibt so viele andere Städte, die um ihre Dienste bitten, daß wir auf diese hören und Sie übergehen müßten, wenn Sie sich nicht schnell entschließen können. Tut mir leid, ich kann nur bis Mitternacht warten. Heute abend. Mein Platz im Pullman ist schon reserviert.«
Es gab genug Kirchenkörperschaften, die darauf antworteten, sie könnten gar nicht einsehen, warum er auch nur bis Mitternacht warten sollte, aber sobald sie einmal so eingeschüchtert waren, daß sie den Vertrag unterschrieben (einen ausgezeichneten Vertrag, den ein frommer Christian Science-Rechtsanwalt namens Finkelstein aufgesetzt hatte), waren sie genügend darauf vorbereitet, Sharon, sobald sie ankam, geistig und finanziell zu unterstützen.
Die Schönheiten des neuen Evangelistentums, die in so scharfem Gegensatz zu seinen früheren Zirkus- und Heimstättenarbeiten standen, packten den neuen Pressechef schließlich derart, daß er selbst bekehrt wurde und öfters, wenn er mit der Truppe zusammen in einer Stadt war, im Chor sang und in Y.M.C.A.-Räumen über Journalismus sprach. Aber selbst Elmers Argumente konnten ihn nie dazu bringen, eine verbissene trotzige Neigung zum Poker aufzugeben.
Sobald der Vertrag unterzeichnet war, erinnerte der Pressechef sich seiner früheren Zeitungsarbeiten und wurde für einige Tage rührend freundlich zu allen Reportern der Stadt. Es gab bis in die Nacht dauernde Abendunterhaltungen in seinem Hotel; die Hotelboys wurden oft ausgeschickt, um noch mehr Flaschen Wilson, White Horse und Green River zu holen. Der Pressechef gestand ein, daß er Miß Falconer wirklich für die größte Frau seit Sarah Bernhardt halte, und erzählte den Jungens Geschichten (unter dem Siegel der Verschwiegenheit) von ihrer Schönheit, dem Ruhm ihrer Familie, ihrer wunderbaren Kraft, Sünden oder Regen durch Gebet zu bannen, und der etwas ungenau angegebenen Zeit, da sie, als ganz junges Mädchen, von Dwight Moody als seine Nachfolgerin anerkannt worden wäre.
Südlich von der Mason- und Dixon-Linie war ihr Großvater ganz einfach Mr. Falconer, ein kriegerischer und frommer Mann; aber weit oben genug im Norden war er der General Falconer von »Ole Virginny«, der Ratgeber und Trost des Generals Robert E. Lee. Der Pressechef schrieb auch die Anschläge für den Geistlichen-Verband und warnte so den Satan rechtzeitig vor dem, was ihm bevorstand.
Wenn Sharon also mit ihrer Truppe ankam, waren die Zeitungen begierig, die Mauern und Schaufenster rot von Plakaten, die Stadt atemlos. Manchmal fanden sich bei ihrer Ankunft tausend Leute am Bahnhof ein.
Es gab immer einige Ungläubige, besonders unter den Reportern, die ihre Gaben bezweifelt hatten, aber wenn sie sie im Korridor des Wagens sahen, in einem langen weißen Mantel, wenn sie dort eine Sekunde mit geschlossenen Augen gestanden war, ins Gebet für diese neue Gemeinde vertieft, wenn sie langsam ihre weißen, nervösen Hände zum Gruß ausstreckte – dann war die Arbeit des Pressechefs hier zu zwei Dritteln getan, und er konnte weiter, neue Felder für die Ernte zu bearbeiten.
Doch immer gab es noch viel zu bereden, bevor Sharon alle Selbstsüchteleien überwunden hatte und imstande war, sich an ihre Arbeit des Lichtverbreitens zu machen.
Ortsausschüsse waren immer verbohrt, Ortausschüsse waren immer eifersüchtig, Ortsausschüsse waren immer träg, und das wurde den Ortsausschüssen immer mit Nachdruck vor Augen gehalten. Die Seele aller Argumente war das Geld.
Sharon gehörte zu den ersten Evangelisten, die ihre Einnahmen weder aus den Sammlungen, noch aus wöchentlichen Opfergaben zogen, sondern sich ganz auf einen einzigen Abend verließen, der freiwilligen »Dankopfern« für sie und ihre Mannschaft allein gewidmet war. Das sah selbstlos aus und brachte mehr ein; alle Frommen sparten für diese Gelegenheit; und es erwies sich als leichter, eine Fünfzig-Dollar-Gabe auf einmal zu erreichen, als zehn Dollars einzeln. Aber um diese Opfergaben entsprechend ersprießlich zu gestalten, dazu brauchte es vieler eifriger Vorbereitung – Ermahnungen, erteilt von den führenden Pastoren, Bankiers und anderen frommen Persönlichkeiten der Stadt, die Verteilung von Kuverts, über denen die Frommen während der ganzen sechs Wochen der Meetings brüten sollten, und unzählige Aufsätze in den Zeitungen über die Selbstaufopferung und die großen Spesen der Evangelisten.
Gerade bei diesen unschuldigen, notwendigen Vorsichtsmaßregeln bewiesen die Ortsauschüsse immer ihre niedrige Gesinnung. Sie wollten den Evangelisten nur eine Sammlung abtreten, wünschten aber nicht darüber zu sprechen, bevor für sie selbst Sorge getragen wäre – solange die Saalmiete oder die Kosten für den Bau des Heiligtums, für Heizung, Beleuchtung, Inserate und andere Ausgaben nicht bezahlt wären.
Sharon pflegte mit dem Ausschuß – einer Anzahl Geistlicher, einer Anzahl ihrer respektabelsten Diakone, einigen eckigen Sonntagsschulvorstehern und einigen tadelsüchtigen Weibern – in einem Kirchenbureau zusammenzukommen, und für diese Gelegenheit legte sie immer das graue Kostüm und eine Miene großstädtischer Festigkeit an und schwang einen Kneifer aus Fensterglas in der Hand. Während der Ausschußvorsitzende ihr im Vertrauen auseinandersetzte, daß die Ausgaben des Ausschusses sehr groß seien, pflegte sie zu lächeln, als wüßte sie etwas, das die anderen nicht erraten könnten, und legte dann eifrig los:
»Ich fürchte, hier liegt irgendein Irrtum vor! Ich weiß nicht, ob sie ganz in der Stimmung sind, alles Materielle außer acht zu lassen und sich wirklich in die selbstverleugnende Herrlichkeit einer heißen Seelencampaign zu stürzen. Ich weiß alles, was Sie sagen wollen – ja, Sie haben vergessen, von Ihren Ausgaben für die Aufsichtsorgane, für die Gesangbücher und die Miete von Klappstühlen zu sprechen!
»Aber Sie haben nicht Erfahrung genug, um meine Spesen würdigen zu können! Ich habe ein Personal zu unterhalten, das fast ebenso groß ist – es sind ja nicht nur Arbeiter und Musiker, sondern auch alle meine anderen Mitarbeiter, die Sie nie zu Gesicht bekommen – das fast ebenso groß ist, wie wenn ich eine Fabrik hätte. Und davon abgesehen habe ich noch meine Wohltätigkeitsanstalten. Da ist zum Beispiel das Heim für alte Damen, das ich ganz allein unterhalte – oh, ich will nicht viel darüber reden, aber wenn Sie nur sehen könnten, wie diese armen, alten Frauen mich aus ängstlichen Augen anblicken –!«
(Wo dieses Heim für alte Damen war, erfuhr Elmer nie.)
»Wir kommen ohne alle Garantien hierher; wir hängen ganz von den freiwilligen Opfergaben des letzten Tages ab; und ich fürchte, Sie wollen die Vorausgaben so anspannen, daß die Leute am letzten Tage keine Lust haben werden, auch nur so viel herzugeben, daß die Gehälter meiner Assistenten damit bezahlt werden könnten. Ich habe – wenn ich nicht das entsetzliche, charakterverderbende Laster des Spielens so verabscheute, würde ich sagen, mein Einsatz ist so entsetzlich hoch, daß es mich erschreckt! Aber es ist nun einmal so, und –«
Während Sharon sprach, schätzte sie diese neue Auswahl Geistlicher ab: die Verschrobenen, die eigensinnigen männlichen alten Jungfern, die reklamemachenden, betriebsamen Demagogen, die ganz gewöhnlichen Kanzelbeamten, die schwankenden jungen Liberalen; die wahrhaften Mystiker, die freundlichen Väter ihrer Herden, die Freunde der Rechtschaffenheit. Den sympathischesten erwählte sie zu ihrem Advokaten, und an ihn richtete sie den Schluß ihrer Ansprache:
»Wollen Sie mich ruinieren, so daß ich nie wieder imstande bin, den verzweifelten Seelen, die überall auf mich warten, nach meiner Hilfe rufen, die Botschaft, das Heil zu bringen? Haben Sie diese Absicht – Sie, die Erwählten, die Menschen, die auserlesen sind dazu, mir im Dienst unseres lieben Herrn Jesus zu helfen? Ist das Ihre Absicht? Ist sie das? Ist sie das?«
Sie begann zu schluchzen, und das war das Signal für Elmer, aufzuspringen und eine wunderbare neue Idee zu haben.
Er wüßte, sagte Elmer, daß die lieben Brüder und Schwestern diese Absicht nicht hätten. Sie wünschten nur praktisch zu sein. Nun, wäre es nicht ein guter Gedanke, daß der Ausschuß zu den wohlhabenden Kirchenmitgliedern gehen und ihnen diese beispiellose Situation auseinandersetzten sollte; ihnen sagen, es sei das Werk des Herrn, und, ganz abgesehen von den außer Frage stehenden geistlichen Vorteilen, die Wiedererweckungsversammlung würde so viel Gutes tun, daß die Verbrechen aufhören und, infolgedessen die Steuern sich vermindern würden; die Arbeiter würden sich von der Agitation ab- und höheren Dingen zuwenden, zum selben Lohn besser arbeiten. Wenn sie von den Reichen genügende Sicherheit für die laufenden Ausgaben hätten, würden diese nicht den Meetings zur Last fallen, und die Leute könnten mit Leichtigkeit dazu gebracht werden, für das »Dankopfer« am Schluß zu sparen; brauchten nicht gequält zu werden, mehr als Kleingeld bei den allabendlichen Sammlungen herzugeben.
Noch andere Widerwärtigkeiten waren mit dem Ortsausschuß zu besprechen. Warum, pflegte Elmer zu fragen, hätten sie nicht für genügend Ankleideräume im Bethaus gesorgt? Schwester Falconer brauche Abgeschiedenheit, öfters habe sie kurz vor dem Meeting wichtige Besprechungen mit ihm abzuhalten. Warum hätten sie nicht mehr freiwillige Platzanweiser geliefert? Er müsse sie sofort haben, um sie einzuüben, denn die Platzanweiser seien es, die, richtig eingepaukt, kämpfenden Seelen den Weg zum Altar leichter machten, wo die erfahrenen Fachleute dann das ihre tun könnten.
Hätten sie daran gedacht, große Delegationen von der Ortsindustrie einzuladen – von der Smith Brothers Saucenfabrik, von den Stellmachereien, vom Packhof? O ja, sie müßten daran denken, diese Institute aufzurütteln; jedem einzelnen von diesen würde ein Abend gewidmet werden, die Vertreter würden beieinander sitzen und sich beim Singen ihrer Lieblingslieder sehr wohl fühlen.
Jetzt war der Ortsausschuß bereits ein wenig benebelt und gestand alles zu; er sah fast überzeugt aus, wenn Sharon heiter schloß:
»Sie alle müssen einem Zeit- und Geldopfer während dieser Meetings entgegensehen, und zwar freudig entgegensehen. Wir sind zu einem großen Opfer hergekommen und zu nichts anderem da, als um Ihnen zu helfen.«
Die Nachmittags- und Abendpredigten – das waren die Höhepunkte der Meetings, wenn Sharon laut, mit ausgestreckten Armen, rief: »Freilich ist der Herr an diesem Ort, und ich wußte es nicht«, »All unsere Rechtschaffenheit ist wie schmutzige Lumpen«, »Wir haben gesündigt und gehen der Herrlichkeit Gottes verlustig«, »Oh, daß der Mensch sich in mir erhebt, daß der Mensch, der ich bin, aufhören möchte zu sein«, »Macht eure Rechnung mit Gott« und »Ich schäme mich nicht des Evangeliums Christi, denn es ist die Kraft Gottes zum Heile«.
Aber schon bevor diese garantierten Anrufungen sündige Herzen erreichen konnten, hieß es die Gefühlsbewegungen des Publikums vorbereiten, und zu diesem Zweck war viel zu erledigen, bevor Sharon mit ihrer Redekunst in Aktion trat, ebenso, wie Garderoben, Coulissenschieber und Eintrittskassen vor der Wahnsinnsszene der Lady Macbeth ihre Arbeit tun müssen. Ein großer Teil dieser Vorbereitungen gehörte zu Elmers Obliegenheiten.
Sobald Sharon ihn eingeübt hatte, nahm er sich der »persönlichen Arbeit« an. Die Mädchen überließ er der Direktrice für persönliche Arbeit, einer jungen Frau, die gern tanzte und eine Schwäche für Glasschmuck hatte, es aber trefflich verstand, den Bekenntnissen alter Jungfern zu lauschen. Seine Arbeiter waren Bankkassengehilfen, Buchhalter von Kolonialwarengeschäften, Kommis aus Schuhläden, Handfertigkeitslehrer. Sie nahmen sich Läden, Lagerhäuser und Fabriken vor und hielten in Bureaux Mittagsandachten ab, bei denen sie erklärten, auch die allergrößte Fertigkeit im Stenographieren bewahre einen nicht vor der Wahrscheinlichkeit der Hölle. Elmer erklärte nämlich, die Bekehrungsaussichten seien größer, wenn die Leute in gehöriger Furcht zu den Meetings kämen.
Wenn es ihnen gestattet wurde, gingen die Arbeiter von Tisch zu Tisch und sprachen mit jedem Opfer einzeln über die heimlichen Sünden, die ja mit einiger Gewißheit bei jedem vorauszusetzen waren. Und sowohl Arbeiter wie Arbeiterinnen mußten die bescheideneren Häuser aufsuchen und sich erbieten, mit der verlegenen mehlbestäubten Frau, dem pfeifeschmauchenden, schuhlosen Mann niederzuknien und zu beten.
Über alle statistischen Daten der persönlichen Arbeit – soundsoviel Seelen eingeladen, zum Altar zu kommen, soundsoviel Ansprachen an Arbeiter bei ihren Essenkannen, soundsoviel Hausgebete und ihre Länge – wurde von Elmer und der Direktrice für persönliche Arbeit Buch geführt und daraus mit einiger Phantasie die Bilanz gezogen, die Sharon als Bericht nach den Meetings und als Ausgangspunkt für die Chancen künftiger Meetings war.
Elmer hatte mit Adelbert Shoop, dem schmachtenden, einfältigen Tenor, der mit der Musikleitung betraut war, täglich eine Zusammenkunft, um die Hymnen auszuwählen. Manchmal mußte man singen: »Sanft und zärtlich rufet Jesus«, um das Publikum in Zutrauen einzulullen, manchmal war es notwendig, ein Gefühl primitiver Brüderlichkeit in ihnen zu erwecken; dann sang man:
»Es ist die gute alte Religion –
Sie war gut genug für Paul und Silas
Und ist gut genug für mich –;«
und manchmal hatte man sie mit Melodien wie »Am Kreuze« oder »Vorwärts, christliche Soldaten« anzufeuern. Adelbert machte sich Gedanken über etwas, was er »Anbetung durch Lieder nannte,« doch Elmer war der Ansicht, der wahre Zweck des Singens sei, das Publikum in eine geistige Verfassung zu bringen, in der es alles tun muß, was man von ihm verlangt.
Er lernte, auf der Schreibmaschine mit zwei Fingern Briefe zu schreiben, und erledigte Sharons Post – das heißt, was sie ihn davon sehen ließ. Er führte auf Scheckbuch-Kontrollblättern Buch für sie, salopp, aber hinreichend. Er schrieb allabendlich die Geschichte ihrer Predigten, die von den Zeitungen zusammengestrichen und zwischen Berichte von bemerkenswerten Bekehrungen hineingestopft wurde. Er redete mit Kirchensäulen, die so reich und moralisch waren, daß ihre eigenen Pastoren Angst vor ihnen hatten. Und er erfand ein neues Hilfsmittel zum Heil, das bis zum heutigen Tage bei den mehr evangelistischen Meetings in Gebrauch ist; allerdings wird es Adelbert Shoop zugeschrieben.
Adelbert verstand sich auf die meisten Belustigungen, die im Schwange waren. Er trieb Männer und Frauen an, »gegeneinander« zu singen. In dem spannenden Augenblick, da Sharon nach Bekehrten rief, sprang Adelbert zwischen den Bänken entlang, dick, aber behend, rosig und schüchtern lächelnd, klopfte den Leuten auf die Schulter, sang mitten unter ihnen den Chor eines Liedes mit und kehrte oft mit drei oder vier durch das Schwert des Herrn Gefangenen zurück, seine dicken Arme schwingend und jubelnd: »Sie kommen – sie kommen« – dann entstand immer eine wilde Jagd zum Altar.
Adelbert, in seiner mädchenhaften Begeisterung, konnte fast ebensogut wie Sharon oder Elmer verkünden: »Heute abend sollt ihr alle Evangelisten sein, jeder einzelne von euch! Drückt Eurem Nachbarn zur Rechten die Hand und fragt ihn, ob er gerettet ist.«
Er weidete sich an ihrer Verlegenheit.
Er hatte wirklich Talente. Nichtsdestoweniger war es Elmer, nicht Adelbert, der den »Halleluja-Ruf« erfand.
Elmer erinnerte sich seines College-Rufs, besann sich darauf, wie dieser ihn angespornt hatte, dem gegnerischen Stürmer das Knie in den Leib zu stoßen oder den feindlichen Zenter gegen das Knie zu treten, und sagte sich: »Warum sollen wir hier nicht auch Rufe haben?«
Er selbst schrieb den ersten in der Geschichte bekannten.
Halleluja, lobet Gott, hal, hal, hal!
Halleluja, lobet Gott, hal, hal, hal!
Schon fühle ich mich stärker,
Hal, hal, hal,
Zur Errettung der Nation –
Aaaaaaaaaaaa-men!
Das ließ sich hören, wenn Elmer vorsang; wenn er vor allen einhertanzte, seine starken Arme schwenkte und brüllte: »Noch einmal! Zwei Yards noch! Zwei Yards für den Heiland! Vorwärts, Jungens und Mädels, unsere Mannschaft! Wollt ihr sie im Stich lassen? Nicht ums Verrecken! Vorwärts also, ich will sehen, daß das alte Dach von eurem Singen einstürzt! Hal, hal, hal!«
So mancher zaudernde junge Mensch, den die intensive Weiblichkeit von Sharons Beschwörungen ein wenig angewidert hatte, wurde auf diese Weise zur Tribüne gebracht, um mit Elmer einen Händedruck zu tauschen und die Segnungen der Religion kennenzulernen.
Die Evangeliumsmannschaft konnte ihre Bekehrten nie als menschliche Wesen, etwa als Kellner, Maniküremädchen oder Eisenbahner, sehen, aber sie hatte an ihnen dasselbe berufliche Interesse, wie Chirurgen an Patienten, Kritiker an Autoren, Fischer an Forellen.
In Terre Haute wurden sie von einem Alten geplagt, der sich jeden lieben Abend während der Meetings bekehren ließ. Vielleicht war er verrückt, vielleicht war er immer völlig betrunken, aber Abend für Abend kam er, sah verrotzt und völlig unbekehrt aus; jeden Abend erwachte er während der Predigt zu höheren Bedürfnissen; und wenn der Ruf nach Bekehrten erklang, sprang er auf, brüllte: »Hallelujah, ich hab's!« und galoppierte vorwärts, wirkliche und wertvolle Heilsuchende aus dem Gang verdrängend. Die Mannschaft wartete auf ihn, wie man im Lager auf die Moskitos wartet.
In Scranton hatten sie außergewöhnlich aufreizende Fälle. Schon vor ihrer Ankunft hatten einige andere Evangelisten Scranton gerettet; es war fast ganz unempfindlich geworden. Zehn Nächte schwitzten sie über dem Auditorium, ohne daß auch nur ein einziger Sünder nach vorn gekommen wäre; Elmer mußte sich aufmachen und ein halbes Dutzend überzeugender Bekehrter mieten.
Er fand sie in einer Mission nahe am Fluß und setzte ihnen auseinander: wenn sie den Nachlässigen ein gutes Beispiel gäben, würden sie das Werk Gottes tun, und wenn das Beispiel gut genug ausfalle, wolle er jedem von ihnen fünf Dollars bezahlen. Der Missionar selbst kam während dieser Besprechung herein und machte das Angebot, sich für zehn bekehren zu lassen, aber er war so gut bekannt, daß Elmer ihm die zehn Dollars geben mußte, um ihn zum Wegbleiben zu bewegen.
Seine Rotte von Bekehrten war sehr imponierend, aber nachher war kein Mitglied der Evangelistentruppe sicher. Tag und Nacht belagerten die professionellen Christen das Zelt. Sie wollten wieder gerettet werden. Als sie zurückgewiesen wurden, erboten sie sich, neue Bekehrte zu fünf Dollars für die Person zu liefern – drei Dollars für die Person – fünfzig Cents und eine anständige Mahlzeit. Doch mittlerweile erschienen genug echte, freiwillige Enthusiasten, und obgleich diese sehr eifrig waren, fanden sie nicht Geschmack daran, in Gesellschaft übelriechender Landstreicher gerettet zu werden. Als die sechs Strohmänner von Elmer und Art Nichols mit Brachialgewalt hinausgeworfen waren, begannen sie zu den Meetings zu kommen und zu pfeifen, so daß man ihnen für den Rest der Serie allabendlich einen Dollar bezahlen mußte, um sie fernzuhalten.
Nein, Elmer konnte die Bekehrten nicht als Menschen sehen. Manchmal, wenn er unten im Publikum war und den bezwingenden Helden spielte, den Judson Roberts einst ihm gegenüber gespielt hatte, blickte er zur Tribüne hinauf, wo eine Reihe von Männern in der Bekehrung kniete, die Arme auf Stühle gelegt, die großen Sohlen der Menge zugewandt, und dann hätte er am liebsten aufgelacht und irgend etwas angestellt. Aber fünf Minuten später war er wieder dort oben, kniete neben einem Nähmaschinenagenten, der Katzenjammer hatte, legte die Arme um die Schulter seines Klienten und flehte in den Tönen einer Mutterkuh: »Können Sie sich nicht Christo ergeben, Bruder? Wollen Sie nicht alle die schrecklichen Gewohnheiten aufgeben, die Sie ruinieren – am Erfolg verhindern? Hören Sie! Gott wird Ihnen zum Erfolg helfen! Und wenn Sie einsam sind, alter Junge, denken Sie daran, daß er da ist und darauf wartet, mit Ihnen zu reden!«
Im allgemeinen brachten sie es gegen Ende der Meetings zu erfreulichen Stimmungen. Oft knieten junge Frauen da, mit ausdruckslosen Augen, die Lippen in Ekstase weit geöffnet. Manchmal, wenn Sharon in ganz besonderem Feuer war, erzielte sie tatsächlich die Phänomene der großen Erweckungsversammlungen von 1800. Die Leute zuckten und bekamen die heilige Fallsucht, alte Leute sprachen in Pfingsterleuchtung in unbekannten – völlig unbekannten – Zungen; Frauen streckten sich besinnungslos aus, mit heraushängenden Zungen; und einmal ereignete sich, was Kenner für das höchste Beispiel religiöser Begeisterung halten. Vier Männer und zwei Frauen krochen auf allen vieren um eine Säule und bellten wie Hunde, sie »bellten den Teufel aus dem Baum heraus«.
Sharon hatte Freude an diesen Wundern. Sie bewiesen ihr Talent; sie waren handgreifliche Manifestationen der göttlichen Kraft. Doch manchmal brachten sie die Meetings in schlechten Ruf, und Zyniker brachten sie außer Fassung, indem sie von »heiligen Epileptikern« sprachen. Wegen dieser Schlechtigkeiten und wegen der Aufregung, die ihr derart vom heiligen Geist begünstigte Meetings bereiteten, mußte Elmer sie nachher ganz besonders trösten.
Alle Mitglieder der Evangelistenmannschaft beschäftigten sich mit Arbeiten, die ein noch strahlenderes Licht auf Sharon werfen sollten. Fieberhaft wurde über die Kostüme diskutiert. Adelbert hatte das weiße Gewand mit dem Gürtel ersonnen, in dem sie als Priesterin erschien, und wünschte, sie solle es immer tragen. »Sie sehen so köööniglich drin aus«, winselte er. Aber Elmer bestand auf Abwechslung und wollte, daß dieses Gewand für entscheidende Meetings aufbewahrt würde; Sharon trug bestickte, goldene Samtkleider und, bei Meetings für Geschäftsfrauen, smarte weiße Flanellkostüme.
Sie standen ihr auch bei der Vorbereitung neuer Predigten bei. Ihre »Botschaft« entstand unter einer Gefühlssuggestion, ohne Zusammenhang mit ihrem wirklichen Leben. Bald Portia, bald Ophelia, bald Francesca, zog sie die Männer an, tat mit ihnen, was sie wollte. Ein anderes mal wieder erblickte sie in sich die wahrhaftige Gottesgeißel. Doch, so überreichlich sie auch Inbrunst verbreiten konnte, so entflammt sie sich auch der exotischesten Worte und der kompliziertesten Gedanken bediente, sobald sie ihr von jemand beigebracht worden waren, aus sich selber vermochte sie keinen tieferen Gedanken hervorzubringen als: »Ich bin unglücklich.«
Seitdem Cecil Aylston gegangen war, las sie nichts außer der Bibel und den Inseraten evangelistischer Konkurrenten in den Anzeigen des Moody-Bibel-Instituts.
Cecil fehlte, und es war die verzweifelte Angelegenheit aller, Sharon mit neuen Predigten zu versehen, wenn sie es müde wurde, die alten vorzutragen. Adelbert Shoop lieferte die Poesie. Er war ein Freund der Poesie. Er las Ella Wheeler Wilcox, James Whitcomb Riley und Thomas Moore. Er war auch ein Jünger der Philosophie: er konnte Ralph Waldo Trine ganz verstehen; er lieferte für Sharons Predigten sowohl die Liedchen über Haus und Kinder, wie die philosophischen Aussprüche über Willenskraft, Sätze wie »Gedanken sind Dinge, Liebe ist Schönheit, Schönheit ist Liebe, Liebe ist alles.«
Die Direktrice für persönliche Arbeiten zeigte ein unvermutetes Talent im Verfassen von Anekdoten über die Sterbestunden von Trunkenbolden und Agnostikern; Lily Anderson, die hübsche blutarme Pianistin, war früher Schullehrerin gewesen und hatte ein oder zwei Bücher über Gelehrte gelesen, sie war also in der Lage, Daten zu liefern, mit denen Sharon die modern werdende Evolutionslehre widerlegte; und Art Nichols, der Hornist, lieferte derben, aber moralischen Neu-England-Humor, Geschichten vom Pferdehandel, Diebereien und gegorenem Apfelwein, die alle sehr geeignet waren, skeptische Geschäftsleute zu beschwatzen. Aber Elmer, mit seiner theologischen Erziehung, mußte alle diese Elemente – Dogma, Poesie mit der Tendenz, daß alle Sonnenuntergänge schon auf Gottes Palette gewesen seien, ehe denn die Welt begonnen hätte, Bekenntnisse der armen Verdammten und Geschichten von Tänzen in Scheunen – zu einem klingenden Ganzem verweben.
Und mittlerweile waren, außer der Reverend Schwester Falconer und dem Reverend Mr. Gantry, die so zusammen arbeiteten, Sharon und Elmer da, und eine Menge ganz menschlicher Leute, die ihre Nöte hatten, miteinander reisten, mit einander lebten – und nicht immer im Stande glücklicher Unschuld.