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Der Reverend Jacob Trosper D.D., Ph.D., LL., TD., Dekan und Oberproctor des Mizpah-Seminars für Theologie, Professor der Praktischen Theologie und Homiletik, war ein streng aussehender Mann mit laut schallender Stimme. In seine Wangen waren zwei tiefe Rinnen eingegraben. Seine Augenbrauen waren schwer. Sein Haar, jetzt grau und borstig, mußte früher rostfarben gewesen sein, wie das Eddie Fislingers. Er hätte einen ausgezeichneten ersten Sergeanten abgegeben. Er sah durch die Studenten hindurch und ließ sie merken, daß er ihre Sünden und Trägheiten kannte, noch bevor sie sie beichteten.
Elmer hatte Angst vor Dekan Trosper. Als er am Morgen nach der intellektuellen Konferenz in Frank Shallards Zimmer zum Dekan ins Büro gerufen wurde, empfand er ein Gefühl des Unbehagens.
Er fand Frank beim Dekan.
»Herr Gott! Frank hat über meine Weibersachen geklatscht!«
»Bruder Gantry«, sagte der Dekan.
»Ja, bitte!«
»Ich habe ein Amt für Sie, bei dem Sie Erfahrungen sammeln und sich einen kleinen Zuschuß verdienen können. Es ist eine Landkirche draußen in Schoenheim, elf Meilen von hier, an der Zweiglinie der Ontario, Omaha und Pittsburgh. Sie werden reguläre Sonntagsmorgen-Andachten und Sonntagsschule halten; wenn Sie es außerdem zu Nachmittags- oder Abendandachten und Gebetsmeetings bringen können, um so besser. Die Entlohnung beträgt zehn Dollar für jeden Sonntag. Wenn's für Extraarbeit etwas extra geben soll – so ist das Ihre und Ihrer Herde Sache. Ich würde vorschlagen, daß Sie auf einer Draisine hinausfahren. Ich bin überzeugt, daß Sie den Sektionsrottenleiter hier dazu bringen können, daß er Ihnen eine leiht, da es für das Werk des Herrn ist und sein Bruder viel Gartenarbeit für uns macht. Ich werde Bruder Shallard mit Ihnen schicken, damit er die Sonntagsschule leitet und etwas Erfahrung bekommt. Er hat einen außerordentlichen Ernst – dem nachzueifern Ihnen nicht das geringste schaden würde – aber er ist etwas schüchtern, wenn er mit verstockten gewöhnlichen Leuten zusammenkommt.
»Nun, Jungens, es ist zwar nur eine kleine Kirche, doch vergeßt nie, daß es kostbare Seelen sind, die ich eurer Obhut anvertraue; und wer weiß, vielleicht könnt ihr dort ein Feuer entzünden, das eines Tages die ganze Welt erleuchten mag … vorausgesetzt, Bruder Elmer, daß Sie sich der weltlichen Neigungen entschlagen, denen Sie frönen, wie ich argwöhnen muß!«
Elmer war entzückt. Es war sein erstes richtiges Amt. In Kansas, im letzten Sommer, war er immer nur zwei oder drei Wochen für andere auf der Kanzel gestanden.
Er würde ihnen zeigen! Den paar Leuten, die dachten, daß er nur ein Maulheld wäre! Er würde ihnen zeigen, wie er eine Kirchengemeinschaft gründen, die Kollekten zustande bringen, wie er sie alle mit seinen beredten Worten aufrühren würde – und, natürlich, die Botschaft des Heils in verblendete Herzen tragen.
Es würde kolossal nützlich sein, diesen Zuschuß von Zehn in der Woche zu haben – und vielleicht sogar mehr, wenn er die Schoenheimer Diakone gut drankriegen könnte.
Seine erste Kirche … seine eigene … und Frank würde ihm Order parieren müssen.
In den jungfräulichen Tagen des Jahres 1905 begaben sich die Sektionsrotten zur Arbeit auf der Eisenbahnstrecke nicht mit Gasolinkraft, sondern auf einer Draisine, einer Plattform mit zwei Horizontalstangen, die auf und nieder bewegt wurden wie Pumpenhandgriffe.
Auf einer Draisine brachen Elmer und Frank Shallard zu ihrem ersten Amt auf. Sie sahen nicht allzu geistlich aus, als sie an den Handgriffen sägten; es war ein frostiger Sonntagsmorgen im November, und sie waren in abgetragene Wintermäntel gehüllt. Elmer hatte eine mottenzerfressene Samtkappe über die Ohren gezogen, Frank zeigte lächerliche Ohrenwärmer unter einem noch lächerlicheren steifen Hut, und beide hatten rote Flanellfäustlinge von der Sektionsrotte geborgt.
Der Morgen schimmerte eiskalt. Apfelgärten funkelten im Frost, und zwischen den vorbeiflitzenden Halmen des Unkrauts an den Zäunen pfiffen Wachteln.
Elmer fühlte seine Lungen frei vom Bücherstaub, während er pumpte. Er reckte seine Schultern, freute sich an seinem Schwitzen, fühlte, daß sein Dienst unter wirklichen Menschen, im lebendigen Leben begonnen hatte. Er bemitleidete den blassen Frank ein wenig und pumpte nur um so angestrengter … und ließ Frank um so angestrengter pumpen … auf und nieder, auf und nieder, auf und nieder. Jetzt, da es etwas wärmer wurde, schmerzte es ein wenig im Kreuz und in den Schultern, sich den Abhang hinaufzuarbeiten, wo das funkelnde Gleis sich in der Kurve den Durchstich durch den Kies entlangzog. Aber hügelabwärts, während sie bereiften Wiesen und dem Klang der Kuhglocken in der Morgensonne entgegenschossen, schrie er vor Entzücken und stimmte lärmend an:
Es liegt Stärke, Stärke, wundertu'nde Stärke
In dem Blut
Unsres Lamms –
Die Schoenheimer Kirche war eine schmutzigbraune Kiste mit einem Spielzeugturm, in einer Ansiedlung, die aus der Kirche, dem Bahnhof, einer Schmiedewerkstatt, zwei Kaufläden und einem halben Dutzend Häusern bestand. Aber mindestens dreißig Einspänner waren an der ausgefahrenen Straße und in dem Wagenschuppen hinter der Kirche versammelt: mindestens siebzig Menschen waren gekommen, um sich ihren neuen Pastor zu besehen; sie standen in gaffenden Kreisen umher und starrten zwischen naßkalten Halstüchern und Pelzkappen hervor.
»Ich hab' eine Todesangst!« murmelte Frank, als sie die einzige Straße von der Station hinaufschritten, doch Elmer fühlte sich gesund und stolz, strömte von Gefühlen über. Seine eigene Kirche, klein, aber irgendwie – irgendwie anders als diese gewöhnlichen Bethäuser auf dem Land – ein ganz hübsch geformter Turm – nicht so ein Blockhaus, das überhaupt keinen Turm hat! Und seine Leute, die ihn erwarteten, von denen ein Strom achtungsvoller Aufmerksamkeit in ihn floß und ihn aufblähte –
Er riß seinen Wintermantel auf, hielt ihn mit der majestätisch an die linke Hüfte gestemmten Hand zurück und ließ sie nicht nur den schwarzen Tuchanzug sehen, den er sich im letzten Sommer für seine Ordinierung gekauft hatte, sondern noch etwas Großartiges, das er sich seitdem zugelegt hatte – eine elegante weiße Einfassungsborte am Ausschnitt seiner Weste.
Ein schnurrbärtiger Mann mit rotem Gesicht schritt ihnen entgegen und begrüßte sie: »Bruder Gantry? Und Bruder Shallard? Ich bin Barney Bains, einer von den Diakonen. Freut mich, Sie kennenzulernen. Der Herr gebe Ihrer Botschaft Stärke. Schon einige Zeit her, daß wir hier Predigen gehört haben, und ich glaub', wir sind alle ziemlich verhungert nach geistiger Nahrung und dem wahren Evangelium. Ihr seid von Mizpah, da werden wir wohl nicht befürchten müssen, daß Ihr an diese freie Gemeinschaft glaubt!«
Frank hatte begonnen zu stammeln: »Also, ich bin der Überzeugung, daß –«, als Elmer ihn mit einem ziemlich schmerzhaften Rippenstoß unterbrach und in heiliger Freude sang:
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Bruder Bains. Oh, Bruder Shallard und ich sind ganz zuverlässig, sowohl was die Taufe durch Untertauchen angeht als auch die enge Gemeinschaft. Wir bauen darauf, daß Sie für uns beten werden, Bruder, auf daß der Heilige Geist bei unserem Werk heute zugegen sei, und auf daß alle die Brüder sich einer großen Erweckung und einer reichen Ernte erfreuen mögen!«
Diakon Bains und alle, die ihn hörten, murmelten, ein Heiliger zum andern: »Er ist noch recht jung, aber er hat richtige Vorstellungen. Ich bin sicher, wir werden 'ne ordentlich erbauliche Predigt haben. Aber vom Bruder Shallard halt' ich nicht viel. Ganz nett aussehender junger Bursch, aber dumm im Kopf. Steht da wie 'n Ochs auf 'nem Holzklotz. Na, er ist gut genug, um die Würmer in der Sonntagsschule zu unterrichten.«
Bruder Gantry schüttelte reihum die Hände. Seine heiligende Priesterweihe – oder vielleicht war es auch der letzte Sommer, in dem er von Kanzel zu Kanzel gehüpft war – hatte ihn derart erleuchtet, daß er sie ebenso imponierend und brüderlich begrüßen konnte wie ein Nähmaschinenagent. Er drückte die Hände mit festem Griff, er sah alle betagteren Schwestern an, als ob er versucht wäre, ihnen einen heiligen Kuß zu geben, er sagte das Richtige über das Wetter, und zufällig, oder dank einer Eingebung, war es der säuerlichste Frömmler in der Provinz Boone, dem er einen mörderischen Text aus Maleachi zitierte.
Während er an der Spitze seiner Herde durch das Kirchenschiff paradierte, keuchte er:
»Hab' sie schon! Ich kann's ja, diese Bauernschädel aufwecken, wo alte Weiber wie Frank oder Carp nur endlos herumfaseln würden. Wie könnt' ich nur in der vergangenen Woche so kopfhängerisch sein und so – äh – so sinnlich? Wollen mal auf die Kanzel!«
Sie blickten ihn aus harten, geraden Kirchenstühlen an, zottige Köpfe vor der braunen Wand und dem fichtenen Doppeltor, das geädert war, um Eiche vorzutäuschen; sie füllten erfreulich das Gebäude, und im Hintergrund standen scharrende junge Männer mit unrasierten Gesichtern und hellblauen Krawatten.
Er empfand seine Gewalt über sie, während er den Chor »Die Kirche im Urwald« anstimmte.
Sein Text war aus den Sprüchen: »Haß erreget Hader, aber Liebe deckt zu alle Übertretungen.«
Er packte die Seitenwände der Kanzel mit seinen kräftigen Händen, blickte die Gemeinde finster an, entschloß sich aber dann doch, wohlwollend dreinzuschauen, und legte los:
»Wie viele von uns, denke ich oft, mögen wohl im Hasten und Treiben des Alltagslebens Einhalt tun, um zu bedenken, daß wir in allem, was unser Höchstes und Bestes ist, nicht von unseren eigenen Bemühungen – und seien sie noch so tüchtig – geleitet werden, sondern von der Liebe? Was ist die Liebe – die göttliche Liebe, welche der – der große Sänger in den Sprüchen lehrt? Sie ist der Regenbogen, der nach der finsteren Wolke kommt. Sie ist der Morgenstern und sie ist auch der Abendstern, und diese beiden sind, wie ihr alle recht gut wißt, die strahlendsten Sterne, die wir kennen. Sie leuchtet über der Wiege des Kleinen, und wenn das Leben, ach, dahingegangen ist, um nicht wiederzukehren, findet man sie noch immer am stillen Grab. Was ist es, das alle großen Männer begeistert – seien sie nun Prediger oder Patrioten oder große Geschäftsleute? Was ist es, meine Brüder, denn die Liebe? Ah, sie erfüllt die Welt mit Melodien, mit solchen heiligen Melodien, wie wir eben zusammen eine gesungen haben, denn was ist Musik? Was, meine Freunde, ist Musik? Ah, was ist denn die Musik anderes als die Stimme der Liebe!«
Er erklärte, daß Haß gemein wäre.
Auf jeden Fall aber (den mehr ledernen und eifrigen Diakonen zuliebe, die vorne saßen) erlaubte er ihnen, alle Katholiken zu hassen, alle Menschen, die nicht an die Hölle und an die Taufe durch Untertauchen glaubten, und alle reichen Hypothekeninhaber, die sich an dem verführerischen Lächeln der Purpur- und Scharlachweiber letzten – deren jede in Seide gekleidet war und in ihrer ringgeschmückten Hand ein Rubinglas voll bösen Weines hielt.
Er schloß, indem er seine Stimme zu einem mütterlichen Flüstern herabsenkte und ein ganz aus der Luft gegriffenes, doch höchst erbauliches Erlebnis mit einem sündigen alten Herrn erzählte, der auf seinem Schmerzenlager zugegeben hätte – auf Elmers Drängen – daß er unverzüglich bereuen müßte, es aber immer noch aufschieben wollte und schließlich inmitten seiner tugendsamen, gramzerrissenen Töchter gestorben und höchstwahrscheinlich direkt in die Hölle gefahren wäre.
Als Elmer zur Tür hinuntergaloppiert war, um allen die Hand zu drücken, die nicht zur Sabbathschule zurückblieben, sagten tatsächlich sechzehn einzelne Zuhörer: »Bruder, das war eine sehr heilsame Predigt, und so zierlich gesprochen«; er schüttelte ihnen die Hände mit einer knabenhaften Dankbarkeit, die schön anzusehen war.
Diakon Bains klopfte ihn auf die Schulter. »Einen so jungen Prediger hab' ich noch nie so schöne Lehren sprechen gehört, Bruder. Das ist meine Tochter Lulu.«
Und sie war da, das Mädchen, nachdem er die ganze Zeit, seit er nach Mizpah gekommen war, ausgesehen hatte.
Lulu Bains war ein grauweißes Kätzchen mit einem rosa Bändchen. Sie war ganz hinten in der Kirche gesessen, vom Ofen verborgen; er hatte sie nicht gesehen. Durstig blickte er zu ihr hinunter. Seine Freude darüber, daß er mit seiner Predigt so viel Beifall eingeheimst hatte, war nichts im Vergleich zu der Freude über die Aussicht, daß er sie bei seinen künftigen geistlichen Arbeiten in seiner Nähe haben würde. Das Leben war etwas Verlockendes und Schimmerndes, während er ihre Hand hielt und sich Mühe gab, den Klang seiner Stimme nicht zu aufdringlich zärtlich werden zu lassen. »Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Schwester Lulu.«
Lulu war neunzehn oder zwanzig Jahre alt. Sie leitete in der Sonntagsschule eine winzig kleine Klasse von zwölfjährigen Buben. Elmer hatte vorgehabt, sich aus der Sonntagsschule zu drücken, Frank Shallard die Verantwortung zu überlassen und sich ein Plätzchen zu suchen, wo er in Ruhe seine Zigarre rauchen könnte, aber angesichts dieser neuen geistlichen Entdeckung blieb er da, strahlte vor heiliger Billigung des guten Werks und war männlich und brüderlich zu den kleinen Jungen in Lulus Klasse.
»Wenn ihr erwachsen und große Burschen werden wollt, richtige feste starke Kerls, dann hört euch nur an, was Miß Bains euch davon zu erzählen hat, wie Salomo seinen wundervollen großen alten Tempel erbaut hat«, sagte er ihnen sanft; und wenn sie sich in Schüchternheit wanden und kicherten, lächelte ihm doch Lulu zu … grauweißes Kätzchen mit süßen Kätzchenaugen … kleines weiches Kätzchen, das schnurrte: »O nein, Bruder Gantry, ich hab' ja solche Angst, daß ich mich kaum zu unterrichten trau'« … große Augen, die ihn in ihre Tiefen zogen, bis er sie lispeln hörte wie Engelsstimmen, Lerchen und ganze Orchester von Flöten.
Als die Sonntagsschule aus war, könnt er sie nicht gehen lassen. Er mußte sie aufhalten –
»Ach, Schwester Lulu, kommen Sie und sehen Sie sich die Draisine an, auf der Frank und ich – Bruder Shallard und ich – herausgekommen sind. Die ist so nett! Sie werden sich einfach totlachen!«
Da die Sektionsrotte mindestens zehnmal in jeder Woche durch Schoenheim kam, dürften Draisinen nicht gerade überraschende Neuigkeiten für Lulu gewesen sein, aber sie trottete neben ihm einher, staunte nett und sang: »Ach, wirklich! Darauf sind Sie hergekommen? Nein, so was!«
Sie schüttelte beiden freundlich die Hände. Voll Eifersucht meinte er, daß sie zu Frank ebenso nett wie zu ihm wäre.
»Er sollte sich lieber in Acht nehmen und mir nicht mein Mädel verrückt machen!« dachte Elmer, als sie nach Babylon zurückpumpten.
Er gratulierte Frank nicht zu der Überwindung seiner Angst vor dummen Bauernzuhörern (Frank hatte immer in der Stadt gelebt) und auch nicht dazu, daß er den Tempel Salomos nicht einfach zu etwas Fürchterlichem gemacht hatte, das aus einem »Ellen« genannten Material bestand, sondern zu einem wirklichen Heiligtum, in dem ein wirkender und fürchterlicher Gott hauste.
Zwei Sonntage hatte Elmer sich nun Mühe gegeben, auf Lulu nicht nur als tüchtiger junger Prophet, sondern auch als begehrenswerter Mann Eindruck zu machen. Immer waren zu viel Leute in der Nähe. Nur einmal hatte er sie allein. Damals gingen sie eine halbe Meile weit, um eine kranke alte Frau zu besuchen. Auf dem Weg hatte Lulu vor Verlegenheit neben ihm gebebt (grauweißes Kätzchen mit einem kleinen Hut aus weichem flaumigem Grau, den er gern gestreichelt hätte).
»Sie langweilen sich wohl bei meinen Predigten zu Tod, nehm' ich an«, fischte er.
»O nnnnein! Ich find' sie einfach wundervoll!«
»Ja, wirklich?«
»Wirklich, ja!«
Er sah zu ihrem kindlichen Gesicht hinunter, bis er ihre Augen hatte, dann, scherzend:
»Oh, der Wind macht aber die kleinen Bäckchen und die schönen Lippen schrecklich rot! Oder vielleicht hat sie auch irgendwer vor der Kirche geküßt!«
»O nein –«
Sie sah bekümmert, fast erschrocken aus.
»Ho, brr!« riet er sich. »Du bist aufs falsche Gleis gekommen. Herr Gott, ich glaub' doch nicht, daß sie so 'ne Flausentrude ist, wie ich dachte. Sie ist wirklich ziemlich unschuldig. Armes Ding, 'ne Schande, sie so aufzuregen. Ach, verdammt noch einmal, wird ihr auch nichts schaden, wenn ihr mal bißchen gebildet der Hof gemacht wird!«
Hastig entfernte er den möglichen Flecken auf seinem Klerikerruf:
»Ach, ich hab' ja nur Spaß gemacht. Ich hab' gemeint – 's wär' eine Schande, wenn so ein hübsches Mädel wie Sie nicht verlobt sein sollte. Sie sind natürlich verlobt, was?«
»Nein. Ich hab' einen Burschen hier schrecklich gern gehabt, aber der ist nach Cleveland auf Arbeit gegangen, und ich glaub', er hat mich so ziemlich vergessen.«
»Oh, das ist aber wirklich zu schlimm!«
Nichts konnte stärker, zuverlässiger, tröstlicher sein als der Druck seiner Finger auf ihrem Arm. Sie sah ihn dankbar an; und als sie in das Krankenzimmer kam und Bruder Gantry beten hörte, lang, glühend und mit den auserlesensten Worten über den Tod, der weder wirklich wichtig wäre noch wirklich weh täte (die alte Frau hatte Krebs), da sah Lulu auch verehrungsvoll aus.
Auf dem Rückweg machte er die endgültige Probe:
»Aber auch wenn Sie nicht verlobt sind, Schwester Lulu, so gibt's hier doch sicher eine Menge junge Burschen, die ganz verrückt nach Ihnen sind.«
»Nein, es sind wirklich keine da. Ach, ich geh' bißchen mit einem Vetter zweiten Grads von mir – Floyd Naylor – aber, ach je! der ist so langsam, er ist gar nicht flott.«
Der Rev. Mr. Gantry hatte vor, Flottheit zu liefern.
Elmer und Frank waren am Samstag nachmittag hinausgefahren, um die Kirche für den Danksagungsgottesdienst zu schmücken. Um sich die Reise nach Babylon und wieder zurück zu ersparen, sollten sie die Nacht zum Sonntag im großen Farmhaus des Diakons Bains zubringen, und Lulu Bains und ihre ledige Cousine, Miß Baldwin, halfen beim Dekorieren – mit anderen Worten, sie dekorierten. Sie verkleideten den hinteren Teil des Raums mit Föhrenzweigen und arrangierten vor der Kanzel ein Erntemahl aus Kürbissen, gelbem Mais und sammetweichem Sumach.
Während Frank und die ledige Cousine der Bains' den künstlerischen Wert der Kürbisse diskutierten, meinte Elmer zu Lulu:
»Ich brauch' Ihren Rat, Lulu – Schwester Lulu. Glauben Sie nicht, daß es heilsam wäre, wenn ich in meiner Predigt morgen erklärte –«
(Sie standen Seite an Seite. Wie süß waren ihre kleinen Schultern, ihre weichen Miezekätzchenbäckchen! Er mußte sie küssen! Er mußte! Er neigte sich zu ihr. Der Teufel sollte Frank und dieses Baldwinweib holen! Warum scherten sie sich nicht hinaus?)
»– erklärte, daß alle diese Erntegüter, so wertvoll sie auch an sich und so notwendig fürs Essen sie sind – für die Festtafel, doch nur Symbole und Hinweise auf – Setzen Sie sich, Lulu; Sie sehen bißchen müd' aus. – auf die tieferen, geistlichen Segnungen sind, mit denen er uns gleichfalls überschüttet, und nicht nur zur Erntezeit, und das ist ein sehr wichtiger Punkt –«
(Ihre Hand streifte im Herabfallen sein Knie; lag ganz weiß, auf dem braungrauen Holz des Kirchenstuhls. Ihre Brüste waren jung und unverbraucht unter ihrer karierten Bluse. Er mußte ihre Hand anfassen. Seine Finger krochen auf sie zu, berührten sie zufällig, ganz sicher zufällig, während sie fromme Ergebenheit ausstrahlte und er Erhabenheit intonierte.)
»– ein sehr wichtiger Punkt, unbestreitbar; das ganze Jahr empfangen wir diese größeren seelischen Segnungen, und mehr für diese als für irgendwelche materiellen – äh, materiellen Gewinste sollten wir unsere Stimmen beim Danksagungsgottesdienst erheben. Glauben Sie nicht, daß es für uns alle von Wert sein könnte, wenn ich das vorbringen würde?«
»O ja! Ich glaub' wirklich! Ich find', das ist ein herrlicher Gedanke!«
(Es juckte ihn in den Armen. Er mußte sie um sie legen.)
Frank und Miß Baldwin hatten sich niedergesetzt und waren in einer unerträglich langen Debatte begriffen, darüber, was man mit dem schrecklichen kleinen Cutler-Jungen anfangen sollte, der gesagt hatte, er glaube nicht, daß die Raben Elias überhaupt Brot und Fleisch gebracht hätten, wenigstens nicht, wenn er etwas von diesen alten Krähen verstünde! Frank erklärte, daß er nicht wünsche, ehrlichen Zweifel zu tadeln; aber wenn dieser Junge sich hinstellte und ein regelrechtes Geschäft daraus machte, übermütig zu sein, und alberne Fragen zu stellen –
»Lulu!« sagte Elmer drängend. »Kommen Sie auf einen Augenblick mit mir in den anderen Raum nach hinten. Ich muß Sie wegen der Kirchenarbeit was fragen und will nicht, daß die's hören.«
Es gab zwei Räume in der Schönheimer Kirche: den Andachtsraum und eine große Kammer zur Aufbewahrung der Gesangbücher, Wischlappen, Besen, Klappstühle und Abendmahlskelche, die ihr Licht durch ein verstaubtes Fenster bekam.
»Schwester Bains und ich gehen die Tabellen mit den Sonntagsschulaufgaben durchsehen«, rief Elmer laut und schallend.
Daß sie es nicht ableugnete, band sie im geheimen aneinander. Er saß auf einem umgekehrten Eimer; sie hockte auf einer Stehleiter. Es war schön, in ihrer Gegenwart klein zu sein und zu ihr aufzusehen.
Was das »was wegen der Kirchenarbeit« war, worüber er sie befragen sollte, davon hatte er keine Ahnung, aber Elmer war ein sehr schlagfertiger Redner in Anwesenheit junger Frauen. Er schoß los:
»Ich brauch' Ihren Rat. Ich hab' noch nie jemand gesehen, in dem gewöhnlicher Menschenverstand und seelische Werte so vereint wären wie in Ihnen.«
»Oh, nein, Sie schmeicheln mir ja nur, Bruder Gantry!«
»Nein, das tu' ich nicht. Wirklich nicht! Sie wissen sich selber nicht zu würdigen. Das kommt daher, daß Sie immer in dem kleinen Flecken da gelebt haben, aber wenn Sie in Chicago wären oder irgendeiner anderen großen Stadt, dann würde man schon zu schätzen wissen, glauben Sie mir, was an Ihrer, äh, an Ihrem wunderbaren Sinn für seelische Werte und so weiter ist.«
»Oh – Chicago! Herrje! Ich würde ja Todesängste ausstehen!«
»Na, ich werd' Sie einmal dorthin mitnehmen und Ihnen die Stadt zeigen müssen! Ich glaub', dann würden die Leute über ihren schlimmen alten Prediger aber zu reden anfangen!«
Sie lachten beide von Herzen.
»Aber ernsthaft, Lulu, was ich wissen möcht' – äh – Oh! Was ich Sie fragen wollte: Meinen Sie, ich sollte rauskommen und Mittwoch-Gebetsmeetings abhalten?«
»Ach, ich glaub', das wär' schrecklich nett.«
»Aber, sehen Sie, ich muß auf der alten Draisine herauskommen.«
»Das ist wahr.«
»Und Sie können keine Ahnung haben, wie angestrengt ich jeden Abend im Seminar studieren muß.«
»O ja, das kann ich mir vorstellen!«
Sie seufzten beide in Mitgefühl, er legte seine Hand auf die ihren, dann seufzten sie wieder, und er entfernte seine Hand fast spröde.
»Aber natürlich möcht' ich mich in keiner Weise schonen. Es ist das Vorrecht des Pastors, sich für seine Gemeinde zu opfern.«
»Ja, das ist wahr.«
»Aber andererseits, bei den Straßen, wie sie hier sind, besonders im Winter und überhaupt, und wo die meisten von der Gemeinde weit draußen auf Farmen leben und überhaupt – da ist es schwer für sie, hereinzukommen, was?«
»Das ist wahr. Die Straßen werden schlecht. Ja, ich glaub', Sie haben recht, Bruder Gantry.
»Ach! Lulu! Und ich ruf Sie immer bei Ihrem Vornamen! Sie werden noch machen, daß ich mir schrecklich ungezogen vorkomm', wenn Sie mich so zurechtweisen und nicht Elmer nennen!«
»Aber Sie sind doch der Geistliche, und ich bin ganz einfach niemand.«
»Oh, doch, Sie sind schon wer!«
»O nein, ich bin niemand.«
Sie lachten recht herzlich.
»Hören Sie, Lulu, Kindchen. Denken Sie dran, daß ich noch immer 'n Junge bin – genau fünfundzwanzig in diesem Monat – nur so fünf oder sechs Jahre älter als Sie. Jetzt versuchen Sie, mir Elmer zu sagen, und probieren Sie, wie's klingt.«
»Oh, je! Das würd' ich mich nicht trauen!«
»Also, versuchen Sie's!«
»Ach, ich könnte nicht! Sich das nur vorzustellen!«
»Angsthase!«
»Das bin ich nicht.«
»Jawohl sind Sie's!«
»Nein, ich bin's nicht!«
»Ich will's haben!«
»Na – Elmer, also! So, jetzt!«
Sie lachten vertraulich, und in dieser ungestümen Fröhlichkeit ergriff er ihre Hand, preßte sie und rieb sie an seinem Arm. Er ließ sie nicht los, aber es war nichts anderes als ein sehr, sehr freundschaftlicher und kaum intensiver Druck, mit dem er sie festhielt, während er säuselte:
»Sie haben wirklich keine Angst vor dem armen alten Elmer?«
»Ja, doch, ein ganz klein wenig!«
»Ja, warum denn?«
»Ach, Sie sind so groß und stark und würdig, als ob Sie viel, viel älter wären, und dann haben Sie so eine dröhnende Stimme – ach, ich hör' sie ja gern, aber ich krieg' immer Angst dabei – ich glaub' immer, Sie müssen auf mich losfahren und sagen, ›Sie schlimmes kleines Mädel‹, und daß ich dann beichten muß. Ja! Und dann sind Sie auch noch so schrecklich gebildet, Sie wissen solche lange Wörter, und Sie können alle die Sachen mit der Bibel erklären, die ich nie begreifen kann. Und außerdem sind Sie natürlich ein richtiger geweihter Baptistengeistlicher.«
»Mm, äh – aber verhindert mich das, außerdem noch ein Mann zu sein?«
»Ja, das tut's! Bißchen!«
Dann war nichts Spielerisches mehr, sondern ein finsteres Drängen in seiner Stimme:
»Dann können Sie sich also nicht vorstellen, daß ich Sie küss'? … Schauen Sie mich an! … Schauen Sie mich an, sag' ich Ihnen! … So! … Nein, schauen Sie nicht wieder weg. Nanu, Sie werden ja rot! Sie liebes, armes, herziges Ding! Sie können sich vorstellen, daß ich Sie küss' –«
»Ich sollt' aber nicht!«
»Schämen?«
»Ja!«
»Hören Sie, Liebe. Sie halten mich für so schrecklich erwachsen, und natürlich muß ich auch auf alle Leute Eindruck machen, wenn ich auf der Kanzel steh', aber Sie können das ja durchschauen und – ich bin wirklich nur ein großes schüchternes Kind und hab' Ihre Hilfe so notwendig. Wissen sie, Liebe, Sie erinnern mich an meine Mutter –«
Frank Shallard redete im Schlafzimmer auf Elmer ein, während sie sich vor dem Abendessen wuschen – sie waren das erstemal allein, seitdem Lulu und Miß Baldwin sie zur Bains-Farm gefahren hatten, wo sie die Nacht vor dem Danksagegottesdienst schlafen sollten.
»Hören Sie, Gantry – Elmer. Ich glaub', es hat nicht gut ausgesehen, wie Sie Miß Bains in der Kirche ins Hinterzimmer genommen und dort behalten haben – es muß eine halbe Stunde gewesen sein – und wie ich hineingekommen bin, seid Ihr beide aufgesprungen und habt schuldbewußt ausgesehen.«
»Huhu, unser kleiner Freund Franky ist also richtig ein altes Weib, das sich in alles hineinmischt!«
Der Raum, in dem sie die Nacht verbringen sollten, war eine große dämmerige Höhle unter dem Dach. Der Krug auf dem schwarzen Nußbaumwaschtisch war goldgetüpfelt und überreichlich mit den unmöglichsten Knöspchen geschmückt. Elmer stand da und glotzte, seine kräftigen Unterarme waren nackt und trieften, er spritzte seine Finger über dem Teppich aus, bevor er nach dem Handtuch griff.
»Ich bin kein Mensch, der sich in alles hineinmischt, das wissen Sie, Gantry. Aber Sie sind der Priester hier, und es ist Ihre Pflicht, wegen der Wirkung auf die anderen, auch den Anschein des Bösen zu vermeiden.«
»Schlimm für den, der Schlimmes denkt. Vielleicht haben Sie das auch schon mal gehört!«
»O ja, Elmer, ich glaube, ich werd's wohl schon gehört haben!«
»Ein argwöhnischer, schmutzig denkender Puritaner, das sind Sie, wenn Sie Böses sehen, wo nicht einmal daran gedacht worden ist.«
»Die Leute hassen die Puritaner nicht, weil ihr Argwohn ungerechtfertigt ist, sondern weil ihr Argwohn nur zu verdammt berechtigt ist. Hören Sie jetzt, Elmer. Ich will nicht unangenehm sein –«
»Das sind Sie aber!«
»– aber Miß Bains – sie sieht ja bißchen knutschig und kokett aus, aber ich bin felsenfest davon überzeugt, daß sie so anständig ist wie nur möglich, und ich hab' nicht vor, daneben zu stehen und zuzuschauen, wie Sie probieren, mit ihr zu, äh, zu liebeln.«
»Na, Sie Obergescheiter, und wenn ich sie heiraten wollte?«
»Wollen Sie?«
»Wenn Sie so gut zu schimpfen wissen, müßten Sie auch das wissen, ohne zu fragen!«
»Wollen Sie?«
»Ich hab' nicht gesagt, daß ich will.«
»Ihre Rhetorik ist zu kompliziert für mich. Ich will annehmen, daß Sie's vorhaben. Das ist schön! Ich werde Diakon Bains von Ihren Absichten verständigen.«
»Den Teufel werden Sie! Jetzt passen Sie mal auf, Shallard! Ich werd' mir nicht gefallen lassen, daß Sie Ihre große Nase in meine Angelegenheiten stecken, und weiter gibt's da nichts, verstanden?«
»Ja, wenn Sie ein Laie wären und ich nicht amtlich mit diesen Leuten zu tun hätte. Ich halt' nicht allzuviel davon, sich hinzustellen und für andere Leute moralisch zu sein. Aber Sie sind der Priester hier – Sie sind ordinierter Geistlicher – und ich bin mit Ihnen verantwortlich für die Wohlfahrt dieser Kirche, und verdammt will ich sein, wenn ich zusehen werd', wie Sie das erste Mädel verführen, das Sie unter Ihre dreckigen Pfoten kriegen – ach, Sie brauchen gar nicht die Fäuste zu ballen. Selbstverständlich könnten Sie mich verprügeln, aber Sie werden nicht. Ganz besonders nicht hier, im Haus des Diakons. Sie würden sich im Dienst zugrunde richten … Du mein lieber Gott, und solche Leute wie Sie lassen wir freundlich in den Baptistendienst! Ich hab' gesagt: Ich hab' nicht vor, mir anzusehen, wie Sie Ihre Verführungsversuche –«
»Also jetzt, bei Gott, wenn Sie glauben, daß ich mir gefallen lassen werd' – ich will Ihnen sagen, gleich jetzt auf der Stelle, Sie sind die ärgste Dreckseele, von der ich in meinem Leben gehört hab'! Wie kommen Sie dazu, zu denken, daß ich auch nur eine einzige Sekunde vorhab', was anderes als bloß freundlich, offen und aufrichtig mit Lulu zu sein – mit Miß Bains – ach, Sie Dummkopf, wie ich dort drin war, hab' ich mir von ihr erzählen lassen, wie sie in einen verliebt war, der dann davongegangen ist, nach Chicago, und sie sitzen gelassen hat, und das war alles, und was für einen Grund haben Sie, zu glauben –«
»Ach, stellen Sie sich doch nicht so dumm an, Gantry! Wenn Sie in meinem Zimmer im Sem sitzen und prahlen, wenn Sie und Zenz damit prahlen, wieviel Geschichten Sie gehabt haben –«
»Also, es ist das letztemal gewesen, daß ich in Ihrem verdammten Zimmer gesessen bin!«
»Ausgezeichnet!«
»Denken Sie sich, was Sie wollen. Und gehen Sie zum Teufel! Und selbstverständlich laufen Sie klatschen, bei Pop Trosper und dem ganzen anderen Lehrkörper!«
»Na, das wär' gar keine so schlechte Idee, Gantry. Vielleicht mach' ich's noch. Aber heute abend werd' ich Lulu – Miß Bains und Sie beobachten. Armes, liebes Ding, das sie ist! So nette Augen!«
»Huhu, junger Shallard, Sie haben also auch herumgeschnuppert!«
»Mein Gott, Gantry, Sie sind wirklich ein vollendetes Musterexemplar!«
Diakon und Mrs. Bains – er war ein freundlicher, energischer, wackerer Mann mit schwarzem Schnurrbart, sie eine dicke, kleine Person – legten es darauf an, Frank und Elmer gleichzeitig als Verkünder der heiligen Mysterien und als zwei hungrige Jungen zu behandeln, die in Mizpah kurz gehalten würden und heute abend alles nachholen sollten. Brathühner, Sahnenbraten, selbstgemachte Würste, Essiggurken und Fleischpasteten, in denen Elmer dankbar unerlaubten Brandy argwöhnte, waren nur ein Teil der kräftigen Tischarbeit, die von den jungen Propheten verlangt wurde. Mr. Bains brüllte dem angeschwollenen, unglücklichen Frank alle drei Minuten zu: »Unsinn, Unsinn, Bruder, Sie haben ja noch gar nicht angefangen zu essen! Was ist denn los mit Ihnen? Geben Sie Ihren Teller rüber, damit Ihnen noch was aufgelegt wird.«
Miß Baldwin, die alte Jungfer, zwei weitere Diakone mit ihren Frauen und ein junger Mann von einer benachbarten Farm, ein gewisser Floyd Naylor, waren da, und man erwartete von der Geistlichkeit auch, daß sie belehrend wirkte. Man nahm an, daß sie für kein anderes Thema als Theologie und die Kirche Interesse hätten, und zweitens, daß eine derartige Unterhaltung bei dem lustigen Geschäft, sich am Schlafen, Einspännerfahren und Essen zu erfreuen und doch in den Himmel zu kommen, wohltätig und heilsam wäre.
»Sagen Sie, Bruder Gantry«, erkundigte sich Mr. Bains, »was für eine Baptistenzeitung lesen Sie am liebsten daheim? Ich hab's eine Zeit lang mit dem Watchman Examiner probiert, aber mir scheint, daß der die Campbelliten nicht so runtermacht, wie er sollte, und auch den Katholiken nicht genug auf den Kopf gibt, wie's ein wirklich ernsthaftes christliches Blatt tun sollte. Jetzt hab' ich mit Word and Way angefangen. Das ist mal 'ne grundanständige Zeitung, die sich kein Blatt vor den Mund nimmt, und wirklich fein geschrieben – gerade recht für mich. Die sagen einem schlankweg, wenn man nicht an die unbefleckte Empfängnis, an die Auferstehung des Fleisches und das Sühnopfer und die Taufe durch Untertauchen glaubt, dann kommt's gar nicht auf die sogenannten guten Werke und die Wohltätigkeit und so weiter an, weil man dann gerichtet ist und schnurstracks in die Hölle fahren muß, und in keine Scheinhölle, sondern ein richtiges gottsmiserables Marterbett aus anständigen Kohlen! Jawohl, mein Bester!«
»Ach hören Sie, Bruder Bains!« protestierte Frank Shallard. »Sie wollen doch nicht sagen, daß der Herr Jesus nicht eine einzige Menschenseele retten wird, die nicht orthodoxer Baptist wäre?«
»Also, ich behaupt' ja nicht, selbst das alles zu wissen, wie wenn ich ein unterrichteter Prediger war'. Aber ich denk' mir's so: O ja, vielleicht wenn einer nie Gelegenheit gehabt hat, das Licht zu sehen – sagen wir, er ist als Methodist oder Mormone erzogen worden und hat nie von einem richtigen waschechten Baptisten die ganze Wahrheit erklärt gehört, dann kann Gott ihm vielleicht vergeben, weil er unwissend war. Aber eins weiß ich ganz sicher: Alle die ›fortgeschrittenen Denker‹ und ›höheren Kritiker‹ kommen in das heißeste Loch in der Hölle! Was meinen Sie dazu, Bruder Gantry?«
»Persönlich neige ich sehr dazu, Ihnen zuzustimmen«, sagte Elmer gewichtig. »Aber wir können es getrost Gottes Barmherzigkeit überlassen, sich mit Wankenden, mit Feiglingen und Phrasendreschern, wie diesen sogenannten fortgeschrittenen Denkern, zu befassen. Wenn sie unsere Bemühungen, hier auf unserem Acker Seelen zu retten, hinterlistig durchkreuzen wollen, große Diskussionen und Debatten loslassen und überall mit dummen Spekulationen herumschusseln, die bei dem großen Werk, armen leidenden Seelen den Frieden zu bringen, auch nicht das geringste Gute stiften, ja, dann hab' ich zu viel zu tun, um meine Zeit an sie zu verschwenden, das ist alles, und es wär' mir auch ganz egal, wenn sie mich hörten und es wüßten! Tatsache, das ist das einzige Unglück mit Bruder Shallard hier – ich weiß, er trägt die Gnade Gottes im Herzen, aber er wird seine Zeit daran verschwenden, sich mit einer Menge von Lehren herumzuschlagen, wo doch alles in der Baptistentradition niedergelegt ist und man mehr nicht zu wissen braucht. Ich möchte, daß Sie darüber nachdenken, Frank –«
Elmer hatte sich erholt. Es machte ihm Freude, Blitzen zu trotzen, vorausgesetzt, daß die Blitze nicht gewaltiger waren als die, welche Frank zu schleudern imstande war. Er sah Frank in die Augen … Seit ihrem Gespräch im Schlafzimmer war vielleicht eine halbe Stunde vergangen.
Zweimal öffnete Frank den Mund und schloß ihn wieder. Dann war es zu spät. Diakon Bains überwältigte ihn schon mit der Wiedergeburt und mit Fleischpastete.
Lulu saß am anderen Ende des Tisches, Elmer war ziemlich erleichtert. Er verachtete Franks Schwäche, aber er war nie – wie bei Eddie Fislinger – sicher, was Frank tun oder sagen würde, und beschloß, auf der Hut zu sein. Ein- oder zweimal warf er Lulu einen vertraulichen Blick zu, aber alles, was er sagte (und er gab sich, um von Lulu bewundert zu werden, Mühe, es gelehrt und doch mannhaft klingen zu lassen) richtete er an Mr. Bains und die anderen Diakone.
›So!‹ reflektierte er. ›Jetzt muß der verdammte Idiot, der Shallard, sehen, daß ich nichts mit dem Kind vorhab' … Wenn er sich irgendwas ausrutschen läßt, zum Beispiel, was ich für Absichten mit ihr hab', werd' ich ganz einfach erstaunt sein, Mr. Frank Shallard seine Schlechtigkeit vorhalten und ihn mitsamt seinen dreckigen hinterlistigen Vermutungen zum Teufel schicken!‹
Aber: ›Herr Gott, ich muß sie haben!‹ rief alles von Ungestüm Flammende in den untersten Schichten seines Bewußtseins: darauf antwortete er lediglich mit einem vorsichtigen: ›Aufpassen! Achtgeben! Dekan Trosper würde dich fliegen lassen! Der alte Bains würde sein Schießeisen nehmen … Achtgeben! … Warten!‹
Erst eine Stunde nach dem Essen, als die anderen über den Maisröster gebeugt waren, fand er Gelegenheit ihr zuzuflüstern:
»Trauen Sie dem Shallard nicht! Er gibt sich als Freund von mir aus – ich dürft' ihm kein falsches Fünfcentstück anvertrauen, muß Ihnen von ihm erzählen. Ich muß! Passen Sie auf! Schleichen Sie herunter, wenn die anderen oben schlafen gegangen sind. Ich werd' hier sein. Sie müssen!«
»Oh, ich kann nicht! Cousine Adeline Baldwin schläft bei mir.«
»Gut! Tun Sie so, als ob Sie ins Bett gehen wollten – fangen Sie an und machen Sie Ihr Haar oder so was – und dann kommen Sie herunter nachschauen, ob das Feuer in Ordnung ist. Ja?«
»Vielleicht.«
»Sie müssen! Bitte! Liebe!«
»Vielleicht. Aber ich kann nur eine Sekunde bleiben.«
Höchst tugendhaft, höchst priesterlich: »Oh, selbstverständlich.«
Sie saßen alle nach dem Essen im Wohnzimmer. Die Bains' waren stolz darauf, gesellschaftlich so weit zu sein, daß sie ihre Abende nicht in der Eßküche verbrachten. Das Wohnzimmer hatte die Einfachheit eines neu-englischen Farmhauses; ein in schwachen Farben gestreifter Lappenteppich, ein wundervoller Patentschaukelstuhl mit korinthischen Knäufen und Drachenfüßen aus Messing, große Kreidedrucke, ein Tisch, auf dem Farm and Fireside und Modern Priscilla aufgehäuft lagen, und der ungeheure Band mit den Bildern von der Weltausstellung in Chicago. Es war kein Kamin da, der Ofen war ein lustiges Ungeheuer aus Nickel und Marienglas, mit einer herzigen Messingkrone, die goldener war als Gold, und mit einer Kette aus Glassaphiren, Glassmaragden und Glasrubinen um den glühenden Bauch.
Neben der schimmernden Gemütlichkeit des Ofens drehte Elmer seinen Geisteshahn auf und arbeitete darauf hin, entzückend zu sein.
»Jetzt dürft ihr mir aber heute abend kein Wort mehr von Kirchensachen reden! Jetzt will ich kein Prediger sein – ich will ganz einfach ein junger Mensch und auf der Weide übermütig sein, nach diesem herrlichen Essen, und ich erklär' feierlich, wenn ich nicht wüßte, daß sie eine tugendsame Mutter in Zion ist, würd' ich mit Mutter Bains tanzen – ich könnte wetten, daß sie ebenso nett ein Tanzbein schwingen kann wie irgendeine von den Kunsttänzerinnen im Theater!«
Und sie um die weiche, wogende Taille fassend, drehte er sie dreimal herum, wobei sie rot wurde und kicherte: »Nanu, aber auf so was zu kommen!« Die andern applaudierten, ohne ihre vom Pflug harten Hände zu schonen und taten den zarten Ohren Frank Shallards weh.
Frank war immer als außerordentlich liebenswürdiger Junge bekannt gewesen, aber heute abend war er sauer wie Alaun.
Elmer war es, der ihnen Geschichten vom alten Kansas erzählte, das er vom Lesen so gut kannte. Elmer war es, der sie veranlaßte, im Stubenofen Mais zu rösten, als sie ihre erste Scheu davor überwunden hatten, vor Gottesmännern Menschen zu sein. Während dieser Lustbarkeit, als sogar der züchtigste Diakon kicherte und Mr. Bains vermahnte, »He, wen stoßen Sie da, Barney?« gelang es Elmer, der Öffentlichkeit zu entrinnen und seine Verabredung mit Lulu zu treffen.
Noch fröhlicher als vorher und von dem gebutterten Röstmais etwas glänzend, trieb er sie zum Harmonium, auf dem Lulu in unschuldiger Freude und ohne allzu große Kenntnisse herumarbeitete. Aus Respekt gegen das geistliche Gewand mußten sie das Singen mit »Selige Zuversicht« beginnen, aber bald hatte er sie so weit, daß sie sich an »Mit Nelly auf dem Heimweg« und »Neger-Joe« erfreuten.
Die ganze Zeit bebte er vor Wonne in der Erwartung des zärtlichen Abenteuers, das ihm blühte.
Sein Entzücken wurde nur um so größer, als er bemerkte, daß der junge Nachbarsfarmer Floyd-Naylor – ein Verwandter der Bains-Familie, ein großer, aber linkischer junger Mann – Lulu ebenfalls anhimmelte, sehnsüchtig, aber schüchtern.
Sie schlossen mit »Beulah-Land«, Lulu spielte, und seine Stimme klang sehr beruhigend, sehr rührend und zärtlich:
O Beulah-Land, mein Beulah-Land,
(Du süßer Liebling!)
Wenn ich auf deinem höchsten Berge steh',
(Wenn ich ein bißchen traurig ausseh', ob sie mich dann wohl streicheln würde?)
Schau' ich weit hinaus über die See,
(Oh, ich will gut sein – nicht zu weit gehn.)
Wo Häuser sind für mich bereitet,
(Ihre Gelenke, während sie spielt – küssen möcht' ich sie!)
Und seh' die Küste, die sich strahlend breitet,
(Ich werd's auch tun, verdammt noch einmal! Heute abend!)
Mein Himmel, mein Heimatstrand für immerdar.
(Ob sie wohl im Schlafrock runterkommt?)
»Ich möcht' doch zu gern wissen,« sagte die Frau des einen Diakons, eine empfindsame, lebhafte Dame, »an was Sie während dem Singen gedacht haben, Bruder Gantry?«
»Ja – ich hab' dran denken müssen, wie glücklich wir alle sein werden, wenn wir einmal gereinigt und friedvoll im Beulah-Land sind.«
»Je, ich hab' doch gewußt, daß es was mit Religion war – Sie haben so – so glücklich und begeistert gesungen. Na! Wir müssen gehen. Es war ein so reizender Abend, Schwester Bains. Wir wissen wirklich nicht, wie wir Ihnen und Bruder Bains danken sollen, ja, und Bruder Gantry auch, für die wunderschöne Unterhaltung. Ach, und Bruder Shallard, natürlich. Komm, Charley.«
Charley war, ebenso wie die anderen Diakone, hinter Bruder Bains in die Küche verschwunden. Es gab ein hohles Geräusch, wie wenn man einen Krug öffnet, während die Damen und die Geistlichen laut redeten und duldsam aussahen. Die Männer tauchten in der Tür auf, sich den Mund mit dem haarigen Tatzenrücken wischend.
Nach dem rührenden Abschied schlug Elmer dem gähnenden Hausherrn vor: »Wenn's Ihnen und Schwester Bains nicht unangenehm ist, möcht' ich noch paar Minuten hier unten am Feuer bleiben und meine Notizen für die morgige Predigt fertig machen. So werd' ich auch Bruder Shallard nicht im Schlafen stören.«
»Schön, schön – eaaaah – 'tschuldigen Sie – ich bin so schläfrig. Das Haus gehört Ihnen, mein Junge – Bruder. G'Nacht.«
»Gute Nacht! Gute Nacht, Bruder Bains. Gute Nacht, Schwester Bains. Gute Nacht, Schwester Lulu … 'Nacht, Frank.«
Das Zimmer war viel geräuschvoller, als er allein darin geblieben war. Es knackte und lärmte. Er ging auf und ab, sich nervös auf die linke Handfläche schlagend, blieb aufgeregt stehen, um zu lauschen … Die Zeit schleppte … Sie würde nicht kommen.
Ein Rascheln wie von schleichenden Mäusen auf der Treppe, zögernde Fußspitzen im Vorzimmer.
Sein ganzer Oberleib dehnte sich vor Sehnsucht. Er schleuderte die Arme zurück, die Fäuste an den Seiten hinunter, das Kinn hoch, wie die Statue von Nathan Hale. Aber als sie schüchtern hereinkam, war er ganz der freundliche starke Pastor, einen Ellbogen auf der Ecke des Harmoniums, mit zwei Fingern an seiner massiven Uhrkette spielend, mit einer wohlwollenden und ein wenig belustigten Miene.
Sie war nicht im Schlafrock; sie hatte das selbe blaue Kleid an wie vorher. Aber sie hatte ihr Haar aufgemacht, dessen helle Seidigkeit um ihren Hals schimmerte. Sie sah ihn flehend an.
Sofort änderte er seine Pose und stürzte mit einem kleinen jungenhaften Schrei auf sie zu.
»Ach, Lu! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich Frank gekränkt hat!«
»Was? Was?«
Ganz selbstverständlich, mit einer höchst natürlichen Vertraulichkeit, legte er seinen Arm um ihre Schulter, und seine Fingerspitzen erfreuten sich an ihrem Haar.
»Es ist schrecklich! Frank sollte mich kennen, aber was meinen Sie, daß er gesagt hat? Ach, er hat sich nicht getraut, richtig damit 'rauszukommen und 's zu sagen – mir nicht – aber er hat Andeutungen gemacht und Winke und so rumgeredet, daß Sie und ich uns in der Kirche schlecht benommen hätten, wie wir miteinander geredet haben. Und Sie wissen doch noch, wovon wir geredet haben – von meiner Mutter! Und wie schön und hübsch sie früher war, und wie ähnlich Sie ihr sehen! Finden Sie das nicht gemein von ihm?«
»Oh, und ob! Ich find's ganz einfach fürchterlich. Er hat mir von Anfang an nicht gefallen!«
In ihrem Mitleid hatte sie gar nicht daran gedacht, aus seinem Arm zu schlüpfen.
»Kommen Sie, setzen Sie sich neben mir auf das Sofa, Liebe.«
»Ach, ich darf nicht« – während sie sich mit ihm auf das Sofa zu bewegte – »ich muß sofort wieder hinauf. Cousine Adeline, die ist so argwöhnisch.«
»Wir werden beide hinaufgehen, jetzt gleich. Aber das hat mich so aufgeregt! Das hätten Sie nicht gedacht, daß so ein großer Bär wie ich ein so sentimentaler Schafskopf sein kann, was?«
Er zog sie näher an sich. Sie schmiegte sich an ihn, widerstandslos, und seufzte:
»Oh, das kann ich verstehen, Elmer, und ich glaub', es ist niedlich, ich mein', es ist hübsch, wenn ein Mann so groß und stark sein und doch schöne Gefühle haben kann. Aber, wirklich, ich muß gehen.«
»Muß gehen, Lieber.«
»Nein.«
»Ja. Ich laß Sie nicht weg, bevor Sie's sagen.«
»Ich muß gehen, Lieber!«
Sie war aufgesprungen, aber er hielt ihre Hand fest, küßte ihre Fingerspitzen und sah mit kläglicher Zärtlichkeit zu ihr auf.
»Armer Junge! Hab' ich alles gutgemacht?«
Sie hatte ihre Hand weggezogen, sie hatte ihn rasch auf die Schläfe geküßt und war entflohen. Ganz verdreht lief er hin und her, bald voll stolzen Triumphs, bald voll trauriger Sehnsucht.
Während der Rückkehr auf der Draisine nach Babylon und ins Seminar hatten Elmer und Frank einander wenig zu sagen.
»Seien Sie doch nicht so ein Brummbär. Wirklich, ich hab' gar keinen Unsinn mit der kleinen Lulu machen wollen«, knurrte Elmer keuchend, während er am Handgriff pumpte, grotesk aussehend in Mütze und Halstuch.
»Schön. Vergessen wir's«, sagte Frank.
Bis Mittwoch hielt Elmer es aus. Zwei Tage lang war er von Plänen gemartert worden, wie er sich Lulu verschaffen sollte. Die Pläne waren so deutlich in ihm geworden, daß sie ihm zu leben schienen, während er sich auf der Kante seines Feldbettes wand, mit geballten Fäusten und abwesenden Blicken … In seinem Traum verschwendete er ganze zweieinhalb Dollars für eine »Mietskarre« am Abend nach Schoenheim. Er ließ sie an der großen Eiche, eine Viertelmeile vom Bains'schen Farmhaus. Im Mondlicht konnte er den runden, ausgehöhlten Eichenstamm sehen, dort wo ein Ast abgeschnitten war. Er schlich sich zum Farmhof, vom Maisschuppen gedeckt, kalt, aber aufgeregt. Sie kam mit einer Schüssel Wasser an die Tür – stand mit der Seite zu ihm im Licht, ihr Gingan-Arbeitskleid schmiegte sich an die Kurve zwischen Schulter und Brust. Er pfiff ihr; sie erschrak, kam zögernden Schritts auf ihn zu, schrie vor Freude auf, als sie sah, wer es war.
Sie konnte nicht bei ihm bleiben, bevor die Arbeit getan war, aber sie bestand darauf, daß er im Stall wartete. Dort war die Wärme der Kühe, ihr süßlicher Geruch und ein Heuduft. Er saß im Dunkeln auf der Kante einer Krippe, voller Entzücken, doch so begierig, daß er zitterte wie in Angst. Die Stalltür ging auf, ein Strahl des Mondlichts fiel herein; sie kam auf ihn zu, zögernd, bezaubert. Er rührte sich nicht. Sie bewegte sich, gebannt, geradeswegs in seine Arme; sie saßen miteinander auf einem Bündel Heu, steif vor Leidenschaft, ohne ein Wort zu sprechen, seine Hand streichelte ihre Fessel.
Und ein andermal wieder, in seinen Phantasien, war es die Kirche, in der sie sich ihm gab; aus irgendeinem Grund, der unklar blieb, war er ohne Frank dort, an einem Wochentagsabend, und sie saß neben ihm in einem Kirchenstuhl. Er konnte sich selbst ihr zureden hören, daß sie ihm vertrauen müßte, daß ihre Liebe ein Teil der göttlichen Liebe wäre, auch während er sie koste.
Aber – wenn auf sein Pfeifen der Diakon Bains käme und ihn im Hof bei den Ställen herumschleichen sähe? Wenn sie sich weigerte, in Kuhställen romantisch zu werden? Und was für eine Ausrede hatte er denn dafür, abends mit ihr in der Kirche zu sein?
Aber – immer und immer wieder, auf seinem Feldbett sitzend, im Halbschlaf liegend, das Bettzeug wild packend, hatte er seine Phantasieerlebnisse, bis er es nicht mehr ertragen konnte.
Erst am Mittwoch vormittag kam der Reverend Elmer Gantry auf den Gedanken, daß er nicht schleichen und herumlungern müßte, daß ihn nichts dazu zwang, was immer er auch für Gewohnheiten gehabt hätte, und daß es nichts gab, was ihn daran hindern könnte, sie offen zu besuchen.
Er gab auch keine zweieinhalb Dollars für einen Wagen aus. Trotz seiner Pracht und Herrlichkeit war er in Wirklichkeit ein sehr armer junger Mann. Er ging nach Schoenheim (diesmal nicht im Traum, sondern wirklich), er brach um fünf Uhr nachmittags auf und nahm ein Schinkenbrot zum Abendessen mit; er ging die Eisenbahnstrecke entlang, die kalten Schwellen hallten unter seinem schweren Tritt.
Um acht Uhr kam er an. Er war sicher, daß ihre Eltern, da er so spät anlangte, nicht aufbleiben und ihm höchstens eine Stunde zur Last fallen würden. Es war anzunehmen, daß sie ihn auffordern würden, über Nacht zu bleiben, und diesmal würde keine schnüffelnde Cousine Adeline Baldwin in der Nähe sein.
Mr. Bains öffnete auf sein Klopfen.
»Nanu, nanu, nanu, Bruder Gantry! Was bringt Sie um diese Nachtzeit in unsere Gegend? Kommen Sie herein! Kommen Sie herein!«
»Ich hab' gemeint, ich könnte einen langen Spaziergang gut brauchen – ich hab' zu viel studiert – und gehofft, daß Sie mich auf einen Augenblick reinkommen und wärmen lassen.«
»Na, mein Lieber, bei Gott, Bruder, ich wär' wild geworden wie'n Bulle, wenn Sie nicht bei mir vorgesprochen hätten! Das ist Ihr Haus, und wir haben immer was, was für Sie noch auf den Tisch gestellt werden kann. Jawohl! Schon Nachtmahl gegessen? Belegtes Brot? Genug? Unsinn! Die Weiberleute werden im Handumdrehen was für Sie hergerichtet haben. Die Frau und Lulu, sie sind beide noch draußen in der Küche. Lu-lu!«
»Ach, ich darf mich nicht aufhalten – es ist so schrecklich weit zurück in die Stadt und so spät – ich hätt' nicht so weit gehen sollen.«
»Sie werden heute nacht Ihren Fuß nicht aus diesem Haus heraussetzen, Bruder! Sie bleiben ganz einfach hier!«
Als Lulu ihn sah, sagten ihre verzückten Augen: »Und diesen ganzen Weg bist du für mich gekommen?«
Sie war noch lieblicher und begehrenswerter, als er sich gedacht hatte.
Gewärmt, von Rühreiern und Bewunderung angeschwollen, saß er mit ihnen im Wohnzimmer und erzählte von mehr oder weniger möglichen Ereignissen während seines Bekehrungsfeldzuges in Kansas, bis Mr. Bains zu gähnen begann.
»Weiß Gott, zehn Minuten nach neun! Ich begreif' gar nicht, wie's so spät geworden ist. Ma, ich glaub', es ist Zeit, ins Bett zu kriechen.«
Elmer machte einen mutigen Vorstoß:
»Schön, Sie können schlafen gehen, aber wir jungen Leute werden noch aufbleiben und uns allerhand erzählen! An Wochentagen bin ich kein Prediger – da bin ich nichts weiter als ein Student, bei Gott!«
»Schön – wenn Sie das einen Wochentag nennen. Mir kommt's vor wie eine Wochennacht, Bruder!«
Alles lachte.
Sie lag in seinen Armen, auf dem Sofa, bevor ihr Vater sich noch die Treppe hinaufgegähnt und gehustet hatte; sie lag in seinen Armen, schlaff, ohne zu denken, als es Mitternacht geworden war; nachdem in dem kaltgewordenen Zimmer langes Schweigen geherrscht hatte, setzte sie sich um zwei Uhr hastig auf und fingerte an ihrem zerrauften Haar herum.
»Oh, ich hab' so Angst!« klagte sie.
Er versuchte sie tröstend zu tätscheln, aber jetzt war nicht mehr viel Herz in ihm.
»Aber es macht nichts. Wann heiraten wir?« fragte sie zitternd.
Und dann war überhaupt kein Herz mehr in ihm, sondern nur ein Klumpen Angst.
Ein oder zweimal in seinen Wachträumen hatte er daran gedacht, er könnte in die Gefahr kommen, sie heiraten zu müssen. Er hatte überlegt, daß diese Heirat jetzt sein Fortkommen in der Kirche behindern würde, und daß er überhaupt nicht dieses hirnlose dumme kleine Huhn heiraten wollte, das ihm nicht im geringsten dabei helfen könnte, reichen Pfarrkindern zu imponieren. Doch diese Vorsicht hatte er in der Aufregung ganz vergessen, ihre Frage war wirklich eine Überraschung, ein entsetzlicher Choc. So wirbelten seine Gedanken durcheinander, auch während er murmelte:
»Ja – ja – das können wir wohl noch nicht endgültig entscheiden. Wir müssen warten, bis ich nach meinem Schlußexamen Zeit hab', mich umzuschauen, und in einer guten Pfarre niedergelassen bin.«
»Ja, wir werden wohl müssen«, sagte sie wehmütig zu ihrem Mann, dem besten, gelehrtesten, stärksten und weitaus interessantesten Menschen, den sie überhaupt kannte.
»Du darfst also mit niemand davon reden, Lu. Nicht einmal mit deinen Leuten. Sie würden vielleicht nicht verstehen, wie du, wie schwer es für einen Geistlichen ist, seine erste richtige Kirche zu kriegen.«
»Ja, mein Herz. Ach, gib mir einen Kuß!«
Und er mußte sie ungezählte Male küssen, in diesem gräßlich kalten Zimmer, bevor er in seine Kammer entrinnen konnte.
Mit einer Miene, als ob ihm übel wäre, saß er auf seinem Bett und jammerte: »Teufel, ich hätt' nicht so weit gehen sollen! Ich hab' gemeint, sie würde länger Widerstand leisten. Aaah! Das war das ganze Risiko nicht wert. Aaaaah! Sie ist blöd wie eine Kuh. Armes kleines Ding!« Sein Mitleid gab ihm wieder ein Gefühl der Güte. »Sie tut mir leid. Aber, du lieber Gott, sie ist so nichtswertig! Ihre Schuld, wirklich, aber – aaah! ich war ein Dummkopf! Na, man muß immer aufrecht bleiben und sich seine Schuld ehrlich eingestehen. Das mach' ich. Ich entschuldige mich nicht. Ich hab' keine Angst davor, meine Fehler zuzugeben und zu bereuen.«
Das gab ihm die Möglichkeit, voll Bewunderung für seine eigene Tugendhaftigkeit zu Bett zu gehen und ihr fast zu verzeihen.