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Im Herbst seines ersten Jahres in Zenith begann Elmer mit seinen Munteren Sonntagabenden. Des Morgens, verkündete er, wolle er ihnen solides Religionsfleisch geben, um sie für die Woche zu ernähren, aber an den Sonntagabenden wolle er die besten crêmegefüllten Windbeutel liefern. Das Christentum sei eine freudige Religion, und er wolle es noch viel freudiger machen.
Es gab ein oder zwei gesunde, konservative, blutvolle Hymnen bei seinen Munteren Sonntagabenden, und eine kurze Predigt über Sonnenuntergänge, Schriftsteller oder das Spielen, aber den größten Teil der Zeit waren sie ganz einfach fröhliche Jungen und Mädchen. Er ließ sie »Die gute alte Zeit« und »Swanee River« singen, und alle balladesken Lieder, die man für unkirchlich gehalten hätte, wären sie nicht durch den Krieg geheiligt worden: »Tipperary«, »There's is a Long, Long Trail« und »Steck deine Sorgen in deinen alten Tornister und lach, lach, lach.«
Er ließ die Frauen »gegeneinander« singen; die jungen Leute gegen die Alten; und die Sünder gegen die Christen. Das gab eine Menge Spaß, weil einige der am sichersten geretteten Brüder, wie Elmer selbst, auf einen Augenblick so taten, als ob sie Sünder wären. Er ließ sie den Chor pfeifen, ihn summen und sprechen; er ließ sie singen und dazu mit den Taschentüchern, mit einer Hand oder mit beiden Händen winken.
Er sorgte auch für andere fesselnde Darbietungen. Es gab ein Ukulele-Solo vom Ukulelechampion der Winnemac-Universität. Ein kleines, dreijähriges Mädchen, das auf die Kanzel gestellt wurde, sang ein Lied. Es gab eine Mundharmonikakonkurrenz zwischen dem berühmten Harmonikaquartett der Higginbotham Sargfabrik und den vier besten Harmonikaspielern der B. & K.C. Eisenbahnwerkstätten; überraschenderweise gewonnen (laut Gemeindeabstimmung) von den unternehmenden und angenehmen jungen Eisenbahnern.
Wenn das vorüber war, kam Elmer vor und sagte – man würde niemals erraten haben, daß er Spaß machte, wenn man nicht nahe genug war, um sein Augenzwinkern zu sehen – er sagte: »Jetzt werden vielleicht paar von euch glauben, daß die Stücke, die die Jungs heute abend gespielt haben, wie ›Auf dem Marsch durch Georgia‹ und ›Mammy‹ sich nicht ganz für eine Methodistenkirche schicken, aber ich will euch mal zeigen, wie unser Freund und Bruder, Billy Hicks hier, auf der alten Mundharmonika eine richtig feine, fromme Hymne spielen kann.«
Und Billy spielte: »Ach du lieber Augustin«.
Wie lachten sie alle, sogar die ernsten alten Kirchendiener! Und wenn er sie in dieser Laune hatte, dann war der Reverend Mr. Gantry imstande, einige recht freimütige Wahrheiten mit aller Strenge zu verkünden über die entsetzliche Sünde, Kinder direkt auf den Weg zur Hölle zu bringen, indem man sie die kolorierten Witzbeilagen am Sonntagvormittag lesen ließ.
Einmal ließ er sie, um die Übel des Wettens zu illustrieren, wetten, welcher von zwei Fröschen zuerst springen würde. Einmal hatte er den Vertreter einer berühmten Traubensaftfabrik da, um die Überlegenheit temperenzlerischer Getränke gegenüber den Greueln des Alkohols zu beweisen. Und einmal hatte er auf der Tribüne ein jämmerlich verbeultes Automobil stehen, in dem drei Leute an einer Straßenkreuzung umgekommen waren. An diesem Beispiel zeigte er seiner Herde, daß das Automobilrasen nur ein Symptom des zunehmenden Wahnsinns, der Weltlichkeit und des Materialismus unseres Zeitalters sei, und daß dieser Wahnsinn nur durch die Rückkehr zur einfachen alten Religion, wie sie in der Wellspring-Methodistenkirche gepredigt werde, zu heilen sei.
Das Automobil brachte ihm sieben Spalten Publizität ein, mit Bildern von ihm selbst, dem Automobil und den verunglückten Automobilisten.
In der Tat, es gab nur wenige unter seinen neuen Pfaden zur Rechtschaffenheit, die nicht angemessene, respektvolle Aufmerksamkeit bei der Presse fanden.
Es war vielleicht nicht ein einziger Prediger in Zenith, auch den liberalen Unitarianergeistlichen und den mächtigen katholischen Bischof nicht ausgenommen, der die jungen Herren von der Zeitung nicht gern gehabt hätte. Von den Zeitungen Zeniths waren Angriffe auf die Religion ebenso zu erwarten, wie Angriffe auf die Warenhäuser. Aber von allen Geistlichen war keiner so herzlich, so freundschaftlich, so brüderlich zu den Reportern wie der Reverend Elmer Gantry. Seine Pfarrerrivalen waren zu den Quellen der Publizität lediglich freundlich, wenn diese einen Besuch machten. Elmer machte selbst seine Besuche.
Sechs Monate nach seiner Ankunft in Zenith begann Elmer eine Predigt vorzubereiten: »Arbeit und Mission großer Zeitungen«. Er unterrichtete die Chefredakteure von seinem Plan, er wurde persönlich durch die Betriebe geführt und dem Redaktionsstab der Advocate-Times, dessen Schwesterblatts, des Evening Advocate, der Press, der Gazette und des Crier vorgestellt.
Nach diesen Besuchen pflegte er den Verkehr mit mindestens zehn bis zwölf Reportern. Und er lernte den großartigen Oberst Rutherford Snow, den Besitzer des Advocate kennen, einen weißhaarigen, lästernden, religiösen, schurkischen alten Herrn, dessen gesellschaftliche Stellung in Zenith so hoch war wie die eines Bankdirektors oder eines hervorragenden Industriesyndikus. Elmer und der Oberst erkannten ineinander kühnen Unternehmungsgeist, und der Oberst war der Kirche und ihrer Arbeit zur Erhaltung der freien und demokratischen amerikanischen Institutionen so gewogen, daß er der Pilger-Kongregationalistenkirche regelmäßig mehr als ein Zehntel dessen gab, was er mit Inseraten für Patentmedizinen verdiente – Krebsheilungen, Bruchheilungen, Tuberkuloseheilungen und die Anzeigen des alten Dr. Bly. Der Oberst war freundlich zu Elmer und ordnete an, daß über seine Predigten mindestens einmal im Monat berichtet werden solle, ohne Rücksicht auf das Geschrei der übrigen Geistlichkeit nach Beachtung.
Aber irgendwie war Elmer nicht imstande, sich die Freundschaft Bill Kingdoms, jenes außerordentlich hartgekochten Reporterveteranen der Advocate-Times zu erhalten. Er tat, was er konnte; er nannte Bill beim Vornamen, er gab ihm eine Fünfundzwanzig-Cent-Zigarre, er sagte »verdammt«, aber Bill sah uninteressiert aus, wenn Elmer mit der saftigsten Tanzsaalgeschichte zu ihm kam. In bekümmertem und rechtschaffenem Grimm wendete Elmer seine Reize jüngeren Mitgliedern der Advocate-Redaktion zu, die noch neu genug waren, um sich am kameradschaftlichen Umgang mit einem Prediger, der »verdammt« sagen konnte, zu erfreuen.
Besonders wohlwollend war Elmer zu einer Miß Coey, Reporterin der Evening Gazette, die ein begeistertes Mitglied seiner Kirche war. Sie war eine Spalte wöchentlich wert. Er flüsterte immer nach der Kirche mit ihr.
Lulu tobte: »Es ist schwer genug für mich, hier im gleichen Kirchenstuhl mit deiner Frau zu sitzen und ihr nie vorgestellt zu werden, weil du sagst, daß es nicht sicher wär'! Aber wenn ich seh', wie du diese Coey bei der Hand hältst, das ist 'n bißchen zu viel!«
Doch er erklärte, daß er Miß Coey für eine Gans halte, daß es ihn davor ekle, sie anzufassen, daß er nur nett zu ihr sei, weil er Publizität bekommen müsse; und Lulu sah ein, daß das alles ganz in der Ordnung und wirklich edel von ihm war … sogar, wenn er in den Kirchenanzeigen, die er allwöchentlich für die allgemeine Verteilung schrieb, jubelte: »Wir alle wollen Schwester Coey, die auf so glänzende Weise die schönen Künste unter uns repräsentiert, gratulieren zu ihrem ausgezeichneten Beitrag in der letzten Nummer der Gazette über die betrunkene Frau, die von der Heilsarmee gerettet wurde. Euer Pastor fühlte, wie ihm während des Lesens die Tränen in die Augen stiegen, und das ist ein Zeichen für Schwester Coeys Gewalt des Ausdrucks. Und es bereitet ihm immer Freude, mit der Heilsarmee sowie mit allen anderen Zweigen der wahren Protestantischen Evangelischen Universalkirche auf gutem Fuß zu stehen. Wellspring ist eine Stätte der Liberalität, solange diese nicht die Moral oder die erwiesenen Grundsätze biblischen Christentums bedroht.«
Ebenso wichtig wie die Publizität war für Elmer die ermüdende Geldjagd.
Er hatte eine in ihrer einfachen Genialität erhabene Entdeckung gemacht – die beste Methode, Geld zu bekommen, sei, es zu verlangen, zäh genug und oft genug. Reiche Männer zu besuchen, Sonntagsschulklassen miteinander konkurrieren zu lassen, darauf zu sehen, daß alle Sammlungskuverts bekamen – all das war höchst nützlich, und er betrieb es ernsthaft. Aber nichts war nützlicher, als der Gemeinde jeden Sonntag auseinanderzusetzen, wie enorm viel Gutes Wellspring und der Pastor täten, und wieviel Gutes mehr sie tun könnten, wenn sie mehr Betriebskapital hätten, und um ihre Unterstützung, jetzt, in dieser Minute, zu bitten.
Sein Kuratorium sah mit Entzücken, daß die Sammlungen fast schneller wuchsen als die Zuhörerschaft. Sie bestanden darauf, daß der Bischof ihnen Elmer auf ein weiteres Jahr lasse – ja, auf viele Jahre – und erhöhten Elmers Gehalt auf viertausendfünfhundert Dollars.
Und im Herbst bewilligten sie ihm zwei Untergebene – den Reverend Sidney Webster, B. A., B. D., als Hilfspastor und Mr. Henry Wink, B. A., als Direktor für religiöse Erziehung. Mr. Webster war Sekretär bei Bischof Toomis gewesen und hatte Aussicht, eines Tages Sekretär eines der mächtigen Kirchenausschüsse zu werden – des Ausschusses für Schrifttum, des Missionsausschusses, des Ausschusses für Abstinenz und Sittlichkeit. Er war ein Mann von achtundzwanzig Jahren; er hatte an der Bostoner Universität zu den hervorragendsten Basketballspielern gehört; er hatte einen verkniffenen Mund wie ein neuenglischer Präsident, war leistungsfähig wie eine Rechenmaschine und kalt wie das Herz eines Bürokraten. Liebte er Gott und die Menschheit im allgemeinen mit strenger Frömmigkeit, so liebte er kein menschliches Individuum; haßte er die Sünde, so hatte er zu viel Verachtung für jeden leibhaftigen Sünder, um ihn zu hassen – er wandte lediglich sein eiskaltes Gesicht ab und sagte ihm, er solle zum Teufel gehen. Er hatte keine Laster. Er war auch tüchtig. Er konnte predigen, Bettler loswerden, still andächtig bei Sterbegebeten sein, die Kirchenausgaben verringern und die Dreifaltigkeit erklären.
Henry Wink hatte einen kleinen Sprachfehler und erzählte süßliche, einfältige Geschichtchen, war aber bewundernswert in der Leitung der Sonntagsschule, der Ferien-Bibelschulen und der Epworth Ligen.
Jetzt, da Mr. Webster und Mr. Wink Elmer den größten Teil der kleinlicheren Kirchenarbeiten abnahmen, wurde er nicht weniger, sondern mehr beschäftigt. Er lud das Publikum nicht mehr ein, er galoppierte hinaus und schleifte es herein. Er schalt nicht mehr auf die Sünde. Er machte ihr auf erbauliche Weise ein Ende.
Als Elmer eindreiviertel Jahre in Zenith war, organisierte er das Komitee für öffentliche Sittlichkeit und veranstaltete seine Razzien in verrufenen Stadtvierteln.
Er hatte den Eindruck, daß er an Publizität verlöre. Sogar sein Freund, Oberst Rutherford Snow, der Besitzer der Advocate-Times, erklärte, Dinge ganz einfach zu sagen, könne auf die Dauer keine Neuigkeit sein; eine Neuigkeit sei im wesentlichen ein Bericht über getane Dinge.
»Schön, ich werd' was tun, jetzt, wo ich Webster und Wink hab', und die sich um die Vergnügungen für die Brüder kümmern können!« gelobte Elmer.
Er bekam eine Offenbarung, in der ihm gesagt wurde, daß ganz plötzlich, aus nicht näher angeführten Gründen, »die Zustände in Zenith so schlecht geworden seien, die Sittenlosigkeit sich bei hoch und niedrig so breit mache, die Moral der Jugend, alles Heiligen und der Häuslichkeit derart bedrohe, daß die Geistlichkeit sich nicht damit begnügen könne, im Hintergrund zu stehen und die Übeltäter zu verwarnen, sondern die Pflicht hätte, aus ihrer würdevollen Abgeschiedenheit hervorzutreten und persönlich den Krieg gegen die Mächte des Bösen zu führen.«
Er sagte diese aufregenden Dinge auf der Kanzel, er sagte sie in einem Interview, und er sagte sie in einem Brief an die wichtigsten Geistlichen der Stadt; in diesem Schreiben lud er sie zu einer Zusammenkunft ein, in der ein Komitee für öffentliche Sittlichkeit gebildet und offener Krieg beschlossen werden sollte.
Der Teufel mußte Angst bekommen haben. Auf jeden Fall sagten die Zeitungen, schon die bloße Drohung mit der Bildung des Komitees habe zur Folge gehabt, daß »eine Anzahl wohlbekannter Verbrecher und übelberüchtigter Frauen die Stadt verlassen hätten«. Wer diese Schurken waren, sagten die Blätter nicht.
Das Komitee sollte sich zusammensetzen aus den Reverends Elmer Gantry und Hickenlooper, Methodisten; G. Prosper Edwards, Kongregationalist; John Jennison Drew, Presbyterianer; Edmund St. Vincent Zahn, Lutheraner; James F. Gomer, von den Jüngern; Kooperator Matthew Smeesby, Katholik; Bernard Amos, Jude; Hosea Jessup, Episkopalist; und Irving Tillish, von der Christian Science; dazu Wallace Umstead, der Sekretär der Y.M.C.A., vier moralische Laien und ein Rechtsanwalt, T. J. Rigg.
Sie versammelten sich in einem Privatspeisesaal im palastartigen Gebäude des Zenith Athletic Club. Da sie Geistliche waren und beweisen mußten, daß auch sie Blut in den Adern hätten, taten sie sich, als sie vor dem Lunch in der Halle des Clubs zusammenkamen, ganz besonders in Zurufen an vorüberkommende Bekannte, Blumenhändler, Ärzte und Großinstallateure, hervor. Einem gewissen George Babbitt, einem Grundstückmakler, rief Dr. Drew, der Presbyterianer, zu: »He, Georgie! Haben Sie 'ne Flasche bei sich? Ich lunch' mit 'nem Haufen Geistlicher, die werden wahrscheinlich was zu trinken haben wollen!«
Es gab große Bewunderung von Seiten Mr. Babbitts und Gelächter bei den Geistlichen, außer dem Episkopalisten Mr. Täte und Mr. Tillish von der Christian science.
Der Privatspeisesaal im Club war ein kleiner roter Raum mit einem Bild, auf dem zwei junge Indianermädchen litauischer Abstammung in Eingeborenenkostümen, die viel von ihren Beinen zeigten, unter einer zerzausten Föhre vor einem Hintergrund außerordentlich hoher Bäume saßen. Im Privatspeisesaal A, nebenan, fand ein Lunch des Verbandes der Herrenartikelgeschäfte statt, bei dem S. Garrison Siegel aus Neuyork eine Ansprache hielt: »Das Frackverleihgeschäft, und wie man es vornehm gestalten kann.«
Das im Entstehen begriffene Komitee für öffentliche Sittlichkeit saß an einem langen schmalen Tisch auf Wiener Stühlen, in denen sie sich immer vergebens anzulehnen versuchten. Ihr Tisch ließ nicht an Schwelgereien und den Dämon Rum denken. Es standen nur kalte und nackt aussehende Krüge mit Eiswasser darauf.
Sie lunchten, düster ernsthaft, Consommé, Sellerie, Lammbraten, der ziemlich kalt, Kartoffelpüree, das arktisch, Sprossenkohl, der zerkocht, und Eiscrême, die warm war; dazu große Tassen Kaffee und kein Rauchen nach Tisch.
Elmer begann: »Ich weiß nicht, wer der Älteste unter uns ist, aber bestimmt ist niemand in diesem Zimmer, der erlesener und vornehmer im Christendienst ausgebildeter wäre als Dr. Edwards von der Pilger-Kongregationalisten, und ich weiß, daß Sie alle sich mir anschließen werden, wenn ich ihn bitte, vor dem Essen das Tischgebet zu sprechen.«
Die Tischunterhaltung war weniger erbaulich als der Segen.
Sie alle verachteten einander. Jeder wußte von irgendeinem Fall, in dem alle anderen ihm irgendein Pfarrkind gestohlen, oder mindestens den Versuch dazu gemacht, dessen Glauben verdorben und sich die Beiträge angeeignet haben sollten. Dr. Hickenlooper und Dr. Drew hatten beide inseriert, daß sie die größte Sonntagsschule in der Stadt hätten. Alle Protestanten wollten Kooperator Smeesby vernichtende Fragen über die Unbefleckte Empfängnis an den Kopf werfen, und Kooperator Smeesby, ein lächelnder, brünetter Mann von vierzig Jahren, hatte, für den Fall, daß sie die katholische Kirche angreifen sollten, die Geschichte von der Ameise in petto, die zu dem Elefanten sagte: »Geh weiter, was glaubst du denn, wen du da stößt?« Sie alle, außer Mr. Tillish, wollten Mr. Tillish fragen, wie er sich denn von dieser Quacksalberin Mary Baker Eddy habe einwickeln lassen können, und sie alle, außer dem Rabbiner, wollten Rabbi Arnos fragen, warum die Juden so vernagelt seien, nicht dem christlichen Glauben beizutreten.
Sie waren fürchterlich herzlich. Sie sorgten dafür, daß ihre Stimmen sanft klangen, lächelten zu oft und hörten einander nie an. Elmer sah voll Entsetzen, daß sie noch vor Schaffung einer Organisation auseinanderlaufen würden, wenn er sie nicht aneinander bände. Und was war das einzige, woran sie alle freudig interessiert waren? Das Laster, natürlich! Er würde mit der Lasterkiste gleich jetzt beginnen, statt bis zum geschäftlichen Teil nach dem Lunch zu warten.
Er schlug auf den Tisch und fragte: »Die meisten von Ihnen sind länger in Zenith als ich. Ich gestehe meine Unwissenheit ein. Wohl habe ich einige schreckliche, schreckliche Fälle geheimer Sünde an den Tag gebracht. Aber Sie, meine Herren, die Sie die Stadt so viel besser kennen – Habe ich recht? Sind die Zustände so entsetzlich, wie ich sie mir vorstelle, oder übertreibe ich?«
Alle atmeten auf und begannen, Elmer plötzlich doch für einen wirklich netten Menschen haltend, glückselig von ihren schmerzlichen Entdeckungen zu erzählen … Der das Blut gerinnen machende Unglücksfall des Vaters, der in dem Täschchen seiner sechzehn Jahre alten Tochter unsaubere Bilder gefunden hatte. Der Verdacht, daß bei einem Dinner von Kriegsteilnehmern im Leroyhaus eine junge Dame getanzt habe, die tatsächlich bloß mit Pantoffeln und einem Hut bekleidet gewesen sei.
»Ich weiß alles von dem Dinner – ich hab' die Einzelheiten von einem Herrn in meiner Kirche – ich kann Ihnen darüber berichten, wenn Sie meinen, daß Sie es erfahren sollten«, sagte Dr. Goomer.
Sie sahen aus, als meinten sie, sie sollten es erfahren. Er schilderte ausführlich Einzelheiten, und als er fertig war, ächzte Dr. Jessup: »Ja, dieses Leroyhaus ist entschieden eine Lasterhöhle! Es müßte ausgehoben werden!«
»Freilich sollte es das! Ich glaube nicht unmenschlich zu sein«, rief Dr. Zahn, der Lutheraner, »aber wenn man mir meinen Willen ließe, würde ich den Besitzer dieser Spelunke am Pfahl rösten!«
Sie alle wußten von empörend obszönen Vorfällen in der ganzen Stadt zu erzählen – alle außer Kooperator Smeesby, der zurückgelehnt dasaß und lächelte, dem Episkopalisten Dr. Tate, der zurückgelehnt dasaß und gelangweilt aussah, und Mr. Tillish, dem Heiler, der zurückgelehnt dasaß und eine frostige Miene zeigte. Es sah in der Tat so aus, als ob trotz ihrer eigenen Anstrengungen und der Bemühungen tausend anderer inspirierter und höchst gebildeter christlicher Geistlicher, die seit der Gründung der Stadt gearbeitet hatten, Zenith ein zweites Sodom wäre. Doch die entsetzten Apostel schienen nicht so bekümmert zu sein, wie sie taten. Sie lauschten mit nahezu liebevoller Aufmerksamkeit, während Dr. Zahn mit seinem deutschen Akzent von entsetzlichen Orgien unter den der besseren Gesellschaft angehörigen Mädchen erzählte, die er so gut von den alljährlichen Dinners bei seinem reichsten Pfarrkind kannte.
Sie waren in der Tat alle dermaßen für das Laster interessiert, daß es Elmer wohltat.
Aber als es an der Zeit war, etwas zu tun, Entschlüsse zu fassen, Unterkomitees zu ernennen und Programme zu entwerfen, zogen sie sich zurück.
»Können wir nicht alle zusammenkommen – unsere Bemühungen vereinen?« sprach Elmer. »Was immer auch die konfessionellen Unterschiede zwischen uns sein mögen, wir verehren entschieden alle den gleichen Gott und befürworten den gleichen Moralkodex. Ich würde dieses Komitee gern zu einer ständigen Organisation gemacht sehen, und schließlich, wenn die Zeit reif ist – denken Sie, wie das die Stadt aufrütteln würde! Wir alle werden uns zu Spezialpolizisten und Stadtsheriffs ernennen lassen und persönlich auf diese Greuel losgehen, die blutschuldigen Missetäter verhaften und an einen Ort bringen, wo sie keinen Schaden tun können. Vielleicht werden wir unsere Kirchenmitglieder im Kreuzzug anführen! Bedenken Sie das!«
Sie bedachten es, und sie waren entsetzt.
Kooperator Smeesby redete. »Meine Kirche, meine Herren, hat wahrscheinlich eine starrere Theologie als Ihre, aber ich glaube, wir sind nicht ganz so über die Entdeckung der Tatsache entsetzt, die sie zu erstaunen scheint, der Tatsache, daß Sünder häufig sündigen. Die katholische Kirche mag größere Anforderungen an den Glauben stellen, aber es läßt sich leichter mit ihr leben.«
»Meine Organisation«, sagte Mr. Tillish, »könnte nicht daran denken, sich an einer wilden Hexenjagd zu beteiligen, mit mehr Kraft, als wir an unsere unparteiischen Liebeswerke wenden. Sowohl für die mit Armut Geschlagenen wie für die Lasterhaften –« er produzierte ein leise pfeifendes Geräusch zwischen seinen schönen falschen Zähnen und fuhr in eiskalter Güte fort: »Für alle diese ist die Wahrheit klar und deutlich in ›Wissen und Gesundheit‹ ausgesprochen, bei allen unseren Meetings wird sie verkündet – die Wahrheit, daß Laster und Armut, ebenso wie Krankheit, unwirklich, daß sie Irrtümer sind, von denen man sich befreien muß, indem man begreift, daß Gott das All ist; daß Krankheit, Tod, Übel und Sünde das Gute, den allmächtigen Gott, das Leben leugnen. Nun! Wenn diese sogenannten Leidenden sich nicht die Mühe machen, die Wahrheit, die ihnen so schön geboten wird, anzunehmen, ist das unser Fehler? Ich begreife Ihr Mitleid mit den Unglücklichen, aber Sie werden nicht Unwissenheit durch Feuer austreiben.«
»Weiß Gott, ich muß auch einen Zurückzieher machen«, kicherte Rabbi Amos. »Wenn Sie wirklich einen lasterbekämpfenden Rabbi haben wollen, dann holen Sie sich einen von den neunmalklugen jungen Liberalen aus der Cincinnatischule – und die werden höchstwahrscheinlich zu viel Mitleid mit den Sündern haben, um Ihnen überhaupt zu helfen. Auf jeden Fall ist meine Gemeinde so schrecklich anständig, daß sie ihren Rabbi an die Luft setzen würden, wenn er etwas anderes täte, als in seinem Studierzimmer sitzen und gelehrt aussehen.«
»Und ich«, sagte Dr. Willis Fortune Tate von der St. Colomb Episkopalistenkirche, »wenn Sie mir gestatten wollen, mich so auszudrücken, ich kann ein Projekt, welches vorsieht, daß wir uns wie Polizisten benehmen und uns mit diesen Übeltätern persönlich einlassen, für nichts anderes als vulgär sowohl wie nutzlos halten. Ich habe Verständnis für Ihre hohen Ideale, Dr. Gantry –«
»Mr. Gantry.«
»– Mr. Gantry, und muß sagen, daß sie Ihnen zur Ehre gereichen, ich habe alle Achtung vor Ihrer Energie, aber ich bitte Sie, zu bedenken, wie sehr die Presse und die gewöhnliche Laienwelt mit ihrem unheilbar gewöhnlichen und ungeübten Verstand alles mißverstehen würden.«
»Leider muß ich Dr. Tate zustimmen«, sagte der Kongregationalist Dr. G. Prosper Edwards, in einem Ton etwa, wie das Pilgermonument der Westminster Abtei zustimmen könnte.
Und die anderen, sie sagten, sie müßten »sich wirklich Zeit nehmen und die Sache überdenken«, und alle machten sich so hastig und herzlich wie nur möglich davon.
Elmer ging mit Mr. T. J. Rigg, der sein Freund und seine Stütze war, zum Zahnarzt, bei dem er bald sonderbare zuckende Bewegungen machen und gurgelnde Laute ausstoßen sollte.
»Das ist ja 'ne nette Blase von feigen Propheten, ein feiner Haufen von apostolischen Eisbonbons!« protestierte Mr. Rigg. »Pech, Bruder Elmer! Es tut mir leid. Wirklich 'ne gute Sache, die Lasterbekämpfung. Oh, ich glaub' natürlich nicht, daß es dem Laster auch nur im geringsten abhilft – und ich weiß auch gar nicht, ob es das überhaupt sollte. Man muß den Leuten, die nicht unsere Vorteile haben, Gelegenheit geben, Dampf abzulassen. Aber es bringt der Kirche viel Aufmerksamkeit ein. Ich bin kolossal stolz darauf, wie wir die Wellspringkirche wieder hochbringen. Das ist so'n bißchen 'n Steckenpferd von mir. Aber es ärgert mich, daß diese Kalkeier von Geistlichen Sie nicht unterstützen.«
Aber als er aufsah, bemerkte er, daß Elmer grinste.
»Ich bin gar nicht geärgert, T. J. Im Gegenteil, ich freu' mich halb tot. Erstens, bevor die drauf zurückkommen, darüber zu predigen, werd' ich die ganze Sache für unsere Kirche patentiert haben. Und dann, sie werden nicht die Frechheit haben, mir nachzumachen, wenn ich die persönliche Kreuzfahrernummer aufzieh'. Drittens, ich kann gegen sie predigen! Und das will ich auch! Passen Sie nur auf! Oh, ich werd' keine Namen nennen – mich nicht beschweren – aber ich werd' den Leuten erzählen, wie ich 'ne Reihe Prediger gebeten hab', Maßregeln zur Beendigung der Unsittlichkeit zu ergreifen, und wie die alle Angst gehabt haben!«
»Fein!« sagte der freundliche Kurator. »Wir werden ihnen zeigen, daß Wellspring die einzige Kirche ist, die wirklich das Evangelium befolgt.«
»Und ob wir das werden! Jetzt hören Sie mal zu, T. J.: wenn Ihr Kuratoren für die Kosten aufkommt, möcht ich ein paar gute Privatdetektive oder so was auf die Beine stellen und mir von ihnen 'ne Menge richtiger Adressen von Lokalen bringen lassen, die wirklich lasterhaft sind – 's muß schon 'n paar geben – und auch Beweise. Dann werd' ich mir die Polizei vornehmen, weil sie mit den Lokalen nicht aufgeräumt hat. Ich werd' sagen, sie sind so offen, daß die Polizei sie kennen muß. Und das ist wahrscheinlich auch wahr. Mensch! Eine Sensation! Einen Monat lang jeden Sonntag unsere Enthüllungen! Den Polizeipräsidenten dazu bringen, daß er uns in der Presse antwortet!«
»Feine Sache! Na, ich kenn' einen Burschen – er war Regierungsmensch, Prohibitionsagent, und ist wegen Saufen und Erpressungen geflogen. Er ist eigentlich kein Spitzel, viel anständiger als die meisten Prohibitionsagenten, aber ich glaub' doch, daß er uns paar richtige Adressen geben könnte. Ich werd' ihn zu Ihnen schicken.«
Als der Reverend Elmer Gantry von der Kanzel verkündete, daß die Autoritäten Zeniths »wohl überlegt ein Auge zudrückten und das Laster beschirmten«, daß er in der Lage sei die Adressen und die Besitzer von sechzehn Bordellen und elf schwarzen Kneipen nennen könne, außerdem von zwei Verkaufsstellen für Kokain und Morphium, in denen überdies eine unanständige Privatvorführung gezeigt werde, die so fürchterlich sei, daß er die Natur ihres Programms nur andeuten könne, als er den Polizeipräsidenten angriff und versprach, am nächsten Sonntag ausführlichere Klagen vorzubringen, da explodierte die Stadt. Auf den ersten Seiten der Zeitungen erschienen Berichte, es gab empörte Antworten des Bürgermeisters und des Polizeipräsidenten, Rückantworten Elmers, Interviews mit jedermann und einen ganzseitigen Bericht über weiße Sklaverei in Chicago. In Clubs und Bureaus, in Kirchengesellschaften und Extrazimmern von Temperenzlerlokalen nahm das Reden kein Ende. Elmer mußte gegen Hunderte von Besuchern, Anrufenden, Briefschreibern beschützt werden. Sein Assistent Sidney Webster, und Miss Bundle, die Sekretärin, konnten ihn nicht vor dem Eindringen der Massen behüten, er verbarg sich in T. J. Riggs Haus, für keinen Menschen zugänglich, außer Zeitungsreportern, die ihn vielleicht aus irgendeinem christlichen und brüderlichen Grund zu sehen wünschten.
Am zweiten Sonntagabend seiner Jeremiade war die Kirche eine halbe Stunde vor der Eröffnungszeit voll, man stand bis in den kleinen Vorraum, Hunderte tobten vor verschlossenen Türen.
Er nannte die genauen Adressen von acht Kneipen, erzählte, was für fürchterliche Getränke aus Kornbranntwein dort verabreicht würden, und nannte die Anzahl der Polizisten in Uniform, die in dem anziehendsten dieser Lokale im Verlauf der letzten Wochen gewesen seien.
Trotz allem, was die Polizei tun konnte, um ihren Freunden rechtzeitig aus der Patsche zu helfen, wurde sie vor die Notwendigkeit gestellt, zehn bis fünfzehn von den mehr als hundert Verbrechern zu verhaften, die Elmer nannte. Aber der Polizeipräsident verkündete triumphierend, es sei unmöglich, auch nur einen von den übrigen zu finden.
»Schön,« murmelte Elmer dem Präsidenten zu – in einem höflichen Interview, das mit fetter Überschrift und »als Kasten aufgemacht« erschien – »wenn Sie mich vorübergehend zum Polizeileutnant machen und mir einen Zug geben wollen, werde ich an einem Abend fünf Kneipen finden und ausheben – jederzeit, außer Sonntag.«
»Das will ich tun – Sie können schon morgen Ihre Razzia veranstalten«, erwiderte der Präsident in der offiziellen Würde einer dicken Spaltenüberschrift.
Mr. Rigg war ein wenig erschrocken.
»Ich glaub', Sie gehen zu weit, Elmer«, sagte er. »Wenn Sie wirklich einen von den großen Engrosschmugglern lahmlegen, kriegen sie uns beim Beutel, und wenn Sie einen von den brutalen erwischen, können Sie Hiebe beziehen. Verdammt gefährlich.«
»Ich weiß. Ich werd' auch nur paar von den Kleinen raussuchen, die sich ihr Zeugs selber fabrizieren und gar keinen Polizeischutz haben, außer daß sie dem patrouillegehenden Polizisten 'nen Fünfer oder 'nen Zehner zustecken. Die Zeitungen werden, um 'ne saftige Geschichte zu kriegen, richtige Mordsbanden draus machen, und wir werden die Ehre davon haben, ohne dumm zu sein und was zu riskieren.«
Mindestens tausend Leute versuchten am nächsten Abend in die Nähe der Polizeihauptwache zu kommen, als ein Dutzend bewaffneter Polizisten vor dem Gebäude aufmarschierte, sich stramm stellte und zur Tür blickte, durch die sie ihren Führer erwarteten.
Er kam heraus, der große Reverend Mr. Gantry, und stellte sich auf den Stufen in Positur, während die Polizisten salutierten, die Massen Hurra riefen und zischten, und die Zeitungsphotographen eine Blitzlichtaufnahme nach der anderen machten. Er trug die goldverschnürte Kappe eines Polizeileutnants, dazu einen feierlichen Gehrock und schwarze Hosen, unter dem Arm hatte er eine Bibel.
Zwei Patrouillenwagen ratterten davon, und alle Frauen in der Menge, außer gewissen professionellen Damen, die sich betrüblich gemein benahmen, starrten voll Bewunderung diesen modernen Savonarola an.
Er hatte der Menge mindestens ein richtiges Haus der Prostitution versprochen.
Es gab zwei liebenswürdige junge weibliche Wesen, die es, müde der Arbeit in einer ziemlich schmutzigen Brotfabrik und der nicht lohnenden Sonntagnachmittag-Verführungen durch die großen, bleichen, aufgeblasenen Bäcker, leichter und viel angenehmer gefunden hatten, sich eine kleine Wohnung in einer Straße nächst Elmers Kirche einzurichten. Sie lasen gern Magazine, tanzten gern nach Grammophonmusik und gingen gern in die Kirche – für gewöhnlich Elmers Kirche. Waren ihre Beziehungen zu ihren Freunden auch herzerfreuender, als ein Prediger nach seiner Erfahrung im heiligen und kalten Ehestand erwarten konnte, so unterhielten sie nur einige von diesen Freunden, stopften häufig deren Socken und priesen fast immer Elmers Rednergabe.
Eines dieser Mädchen unterhielt sich an diesem Abend mit einem Mann, von dem später vor Gericht erwiesen wurde, daß er nicht ihr Gatte sei; die andere war in der Küche, buk einen Geburtstagskuchen für ihre Nichte und trällerte: »Vorwärts, christliche Soldaten«. Sie wurde von einem Rattern, einem Klirren, einem Geschrei in der Straße unten, schließlich von Lärm auf der Treppe erschreckt. Sie lief zitternd ins Wohnzimmer und mußte sehen, daß ihre hübsche Tür aus imitiertem Mahagoni mit einem Gewehrkolben eingeschlagen wurde.
In den Raum drängte sich ein Dutzend grinsender Polizisten, denen, zur züchtigen Scham des Mädchens, ihr angebeteter Familienprophet, der Reverend Gantry folgte. Aber es war nicht der lustige, lachende Mr. Gantry, den sie kannte. Er streckte seinen Arm mit entsetzlich heiliger Gebärde aus und rief donnernd: »Scharlachweib! Deine Sünden kommen auf dein Haupt! Nicht länger soll es dir gelingen, arme unglückselige junge Männer in die Kloake und Senkgrube des Lasters zu führen! Sergeant! Ziehen Sie Ihren Revolver! Diese Weiber sind dafür bekannt, daß sie zu allem fähig sind!«
»Jawohl, freilich, sicher!« kicherte der gutmütig aussehende Polizeisergeant.
»Ach, Dreck! Das Mädel sieht genau so gefährlich aus wie'n Goldfisch, Gantry«, sagte Bill Kingdom von den Advocate-Times, der zwei Stunden später ein Epos auf den Heldenmut des großen Kreuzfahrers verfassen sollte.
»Wollen mal sehen, was das andere Mädel macht«, schlug einer der anderen Polizisten grinsend vor.
Sie lachten alle herzlich, als sie einen Blick in das Schlafzimmer warfen, wo ein halbangezogenes Mädchen und ein Mann mit schamgequälten Gesichtern am Fenster in sich zusammenkrochen.
An ihr aber wurde Elmer – der Bill Kingdoms Murren nicht beachtete: »Ach, lassen Sie doch sein! Suchen Sie sich jemand aus, der so groß ist wie Sie!« – an ihr wurde Elmer, der Lastertöter, wahrhaft biblisch.
Nur die Beharrlichkeit Bill Kingdoms konnte Leutnant Gantry davon abhalten zu veranlassen, daß seine Leute die Irrende im Hemd in den Patrouillenwagen luden.
Dann führte Elmer sie in eine geheime Spelunke, wo nach sicheren Berichten Männer sich Leib und Seele durch Verschlingen des Teufelsgebräus Alkohol ruinierten.
Mr. Oscar Hochlauf war in den Tagen vor der Prohibition Saloonwirt gewesen, als aber die Prohibition kam, blieb er Saloonwirt. Ein sehr ordentliches, altmodisches, verschlafenes, angenehmes Lokal war Oscars Kneipe; keines der größeren Gasthäuser hatte mehr künstlerische Seifenkritzeleien auf dem Spiegel hinter dem Schanktisch; keines hatte pikantere marinierte Heringe.
Heute abend saßen drei Männer vor dem Schanktisch: Emil Fischer, der Zimmermann, der einen Schnurrbart wie einen Ohrenwärmer hatte; sein Sohn Ben, den Emil dazu erzog, gesundes Bier zu trinken, nicht den Whisky und Gin, den Amerika den Leuten aufzwang; und der alte Papa Sorenson, der schwedische Schneider.
Sie sprachen über Jazzmusik.
»Ich bin der Freiheit wegen nach Amerika gegangen – ich glaub', Bens Sohn wird der Freiheit wegen nach Deutschland zurückmüssen«, sagte Emil. »Wie ich noch als junger Mensch hier war, da haben wir zu viert jeden Sonnabend gespielt – Bach haben wir gespielt, und Brahms – weiß Gott, wir haben fürchterlich gespielt, aber es hat uns Freude gemacht, und andere haben wir nie zuhören lassen. Jetzt, wohin man kommt, der Jazz, wie ein Veitstanz. Jazz verhält sich zur Musik wie der Reverend Gantry, von dem man jetzt so viel liest, zu einem guten alten Prediger. Manchmal glaub' ich, der Gantry ist nie geboren worden – er ist aus einem Saxophon herausgeblasen worden.«
»Ach, das Land hier ist schon all right, Pa«, sagte Ben.
»Freilich, stimmt schon«, sagte Oscar Hochlauf zufrieden, während er von einem Glas Bier den Schaum abstrich. »Wie ich die Amerikaner zuerst kennen gelernt hab', wie's noch Bill Nye und Eugene Field gegeben hat, da haben sie immer gelacht. Jetzt werden sie feierlich. Wenn sie wieder zu lachen anfangen, werden sie sich 'nen Bruch lachen über solche Kerle wie Gantry und alle diese Prediger, die allen Leuten erzählen wollen, wie sie zu leben haben. Und wenn die Leute lachen – uff! – Gott steh' den Predigern bei!«
»Ja, so ist die Sache. Hören Sie, Oscar, hab' ich's Ihnen schon erzählt,« sagte der schwedische Schneider, »mein Enkel William, der hat 'ne Professur an der Universität bekommen!«
»Das ist schön!« riefen alle und klopften Papa Sorensohn auf den Rücken … als ein Dutzend Polizisten, gefolgt von einem großen, düsteren, mit einer Bibel bewaffneten Herrn, durch Vorder- und Hintertüre hereinstürmten und der düstere Herr, auf den erstaunten Oscar zeigend, brüllte: »Verhaften Sie diesen Mann und halten Sie alle anderen fest!«
Dann sagte er zu Oscar und zu einem Auditorium, das sich mit jeder Sekunde um zehn Menschen vermehrte:
»Hab' ich Sie! Sie gehören zu den Leuten, die den jungen Menschen das Trinken beibringen – Sie sind's, die sie auf die Straße zu allen höllischen Lastern führen, auf die Straße zu Spiel und Mord, mit Ihren höllischen Getränken, mit Ihrem Trank vom Teufel selbst!«
Zum erstenmal in seinem Leben verhaftet, entsetzt, niedergebrochen, sich schwach an die Arme zweier Polizisten lehnend, richtete Oscar Hochlauf sich bei diesem Angriff auf und schrie:
»Das ist eine gottsverdammte Lüge! Solang ihr mich gelassen habt, hab' ich Eitelbaums Bier, das beste im Staat, ausgeschenkt, und seitdem mach' ich mir selber mein Bier. Es ist gut! Es ist ehrlich! ›Höllisches Getränk!‹ Daß Sie Bier beurteilen wollen – daß ein Schwein Poesie beurteilen will! Ihr Christus, der Wein gemacht hat, dem hätt' mein Bier geschmeckt!«
Elmer sprang vor, die großen Fäuste geballt. Nur der plötzliche Griff des Polizeisergeanten hielt ihn davon zurück, den Lästerer niederzuschlagen. Er brüllte: »Führt den lästermäuligen Vagabunden zum Wagen! Ich werde sehen daß er ins Loch kommt!«
Und Bill Kingdom murmelte bei sich: »Tapferer Prediger bietet Kneipe voll verzweifelter Revolverhelden die Stirn und verweist ihnen die Eitelnennung des Namens des Herrn. Oh, ich werd 'ne feine Geschichte zusammenkriegen … nachher, glaub' ich, werd' ich mich umbringen.«
Die zuschauende Menge und die Polizisten hatten sich zugeflüstert, daß man aus der Vorsicht, mit der der Reverend Leutnant Gantry ihnen folgte, statt sie zu führen, schließen könne, er habe Angst vor den finsteren Verbrechern, die er attackiere. Allerdings hatte Elmer wirklich keine große Vorliebe für Revolverduelle. Aber er hatte seine Lust am Kampf nicht verloren; er war physisch kein Feigling; und sie alle konnten das zu ihrer Erbauung sehen, als die Razzia das Lokal Nick Spolettis stürmte.
Nick, der eine Kellerschänke führte, war Preisboxer gewesen; er war kühn und rasch. Er hörte die Kreuzfahrer kommen und rief seinen Kunden zu: »Raus! Seitentür! Ich halt' sie auf!«
Er trat dem ersten der Polizisten vor der Treppe entgegen und streckte ihn durch einen Kopfhieb mit einer Flasche zu Boden. Die nächsten stolperten über den Körper, die anderen blieben stehen, glotzten, machten verwirrte Mienen und zogen ihre Revolver. Doch Elmer witterte Kampf. Er vergaß seine Heiligkeit. Er warf seine Bibel weg, stieß zwei Polizisten zur Seite und stürzte sich von der untersten Stufe auf Nick. Nick führte einen Schlag nach seinem Kopf, aber mit der raschen Halsbewegung des Boxers wich Elmer dem Hieb aus und schlug Nick mit einem wohlüberlegten mörderischen Linken knockout.
»Herrgott, hat der Pfaff 'nen Mordsschlag!« knurrte der Sergeant; Bill Kingdom seufzte: »Gar nicht schlecht!« und Elmer wußte, daß er gesiegt hatte … daß er der Held von Zenith sein würde … daß er jetzt der Sir Lancelot sowohl wie der William Jennings Bryan der Methodistenkirche war.
Nach zwei weiteren Razzien wurde er vom Patrouillenwagen bei seinem Haus abgesetzt und unter nicht einmal ganz ironisch gemeinten Hurrarufen von den Polizisten verlassen.
Cleo lief ihm entgegen und rief: »Ach, bist du wieder in Sicherheit! Oh, Liebster, du bist verletzt!«
Seine Wange blutete ein wenig.
In leidenschaftlicher Bewunderung für sich selbst, die so heiß war, daß er sie sogar auf sie ausdehnte, umfing er sie, küßte sie naß und brüllte: »Es ist nichts! Ach, es ist großartig gegangen! Wir haben fünf Lokale ausgeräumt – siebenundzwanzig Verbrecher verhaftet – sie bei allen möglichen fürchterlichen Ausschweifungen erwischt – Sachen, von denen ich mir nie hätte träumen lassen, daß es sie geben kann!«
»Mein armer Liebling!«
Das war nicht genug Auditorium, nur Cleo und das Mädchen, das vom Vorzimmer aus herüberglotzte.
»Wir wollen zu den Kindern und 's ihnen erzählen. Vielleicht werden sie stolz auf ihren Papa sein«, unterbrach er sie.
»Liebling, sie schlafen –«
»Aha! Natürlich! Schlafen ist wichtiger für sie, als zu erfahren, daß ihr Vater ein Mann ist, der keine Angst davor hat, sein Evangelium mit seinem eigenen Leben zu verteidigen!«
»Ach, ich wollte nicht – ich wollte – ja, selbstverständlich, du hast recht. Es wird ein wunderbares Beispiel und anfeuernd sein. Aber laß dir zuerst von mir Heftpflaster auf die Wange geben.«
Als sie den Schnitt ausgewaschen, verbunden und daran herumgetrödelt hatte, dachte er, wie sie erwartet hatte, nicht mehr an die Kinder und ihr Bedürfnis nach einem heroischen Vorbild; er saß am Rand der Badewanne und erzählte ihr, daß er eine ganze trojanische Armee sei. Sie war so verehrungsvoll, daß er fast verliebt wurde, bis ihr ängstliches Streicheln ihn auf den Gedanken brachte, sie lege es darauf an. Das ärgerte ihn – daß sie mit ihrer Reizlosigkeit den Egoismus aufbringen konnte, einen Mann wie ihn anziehen zu wollen. Er ging davon, in sein Zimmer, und wünschte, Lulu wäre da, um sich an seinem Glanz, dem Anfang seines Ruhms als moderner John Wesley zu erfreuen.