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Im Staate Winnimac (zwischen Pittsburgh und Chikago) liegt, an die hundert Meilen südlich von Zenith, Babylon, eine Stadt, die mehr von Neu-England hat als vom Mittelwesten. Große Ulmen beschatten sie, weiße Pfeiler stehen hinter Fliederbüschen, und rings um die Stadt ist eine gelassene Heiterkeit gebreitet, welche die stürmischen Prärien nicht kennt.
Hier befindet sich das Mizpah-Seminar für Theologie, das den Nordbaptisten gehört. (Es gibt einen Nord- und einen Südkonvent dieser ausgezeichneten Sekte, weil vor dem Bürgerkrieg von den Nordbaptisten an Hand der Bibel unwiderlegbar bewiesen wurde, daß die Sklaverei unrecht sei; und von den Südbaptisten, ebenso unwiderleglich und an Hand der Bibel, daß die Sklaverei der Wille Gottes sei.)
Die drei Gebäude des Seminars sind hübsch: Backsteinbauten mit weißen Kuppeln, grünen Läden vor den kleinscheibigen großen Fenstern. Aber innen sind sie kahl, an den getünchten Wänden abgewetzt, mit Bildnissen von Missionaren und zerfetzten Predigtbänden.
Der große Bau ist das Wohngebäude, Elizabeth J. Schmutz-Hall – bei den weniger Ehrfürchtigen als Schmutzhalle bekannt.
Hier wohnte Elmer Gantry, schon ordiniert, aber noch im letzten Jahr vor seinem Baccalaureus der Theologie, einem Grad, der bei Verhandlungen mit den größeren Kirchen Handelswert hat.
Sie waren nur noch sechzehn in seiner Klasse, die ursprünglich aus fünfunddreißig bestanden hatte. Die anderen waren abgegangen, um auf dem Lande zu predigen, als Lebensversicherungsagenten zu arbeiten, oder um traurig zum Pfluge zurückzukehren. Es war niemand da, mit dem er gern zusammen gewohnt hätte, er lebte verdrossen in einem Einzelzimmer mit einer Feldbettstelle, einer Bibel, einem Bild seiner Mutter und einem Band »Was ein junger Mann wissen muß«, den er in seinem einzigen gestärkten Kanzelhemd versteckt hielt.
Die meisten seiner Klassenkameraden waren ihm unsympathisch. Sie waren zu bäuerisch oder zu fromm, sie zeigten zu viel Neugier für seine monatlichen Ausflüge in die Stadt Monarch oder waren ganz einfach zu beschränkt. Elmer liebte die Gesellschaft von Leuten, die er für intellektuell hielt. Er verstand nie, was sie sagten, aber wenn er ihnen zuhörte, hatte er ein Gefühl der Überlegenheit.
Die Gruppe, bei der er sich am liebsten aufhielt, versammelte sich im Zimmer Frank Shallards und Don Pickens', dem großen Eckzimmer im zweiten Stockwerk der Schmutzhalle.
Es war kein ästhetischer Raum. Obgleich Frank Shallard leicht hätte dazu kommen können, Bilder, ernste Musik und kultivierte Möbel zu lieben, war er dazu erzogen worden, sie als weltlich anzusehen und sich mit jener Kunst zu begnügen, die »eine Botschaft in sich trug«, »Les Miserables« für schön zu halten, weil der Bischof ein freundlicher Mann war, und den »Scharlachbuchstaben« für ein armseliges Buch, weil die Heldin eine Sünderin war und der Autor sich nichts daraus machte.
Der alte Bewurf der Wände war geplatzt und fahlgrau geworden, er zeigte die Blutspuren längst erschlagener Moskitos und Wanzen – diese gräßlichen Schlachten hatten die Visionen angeregt, mit denen nun eine materialistische Welt von den geistlichen Kämpfern beglückt wurde. Das Bett war ein Skelett aus verrosteten Eisenstangen, in der Mitte durchgebogen, mit einer nicht allzu sauberen Steppdecke. In den Ecken standen Koffer, der Kleiderschrank war eine Hakenreihe hinter einem Kalikovorhang. Die Binsenmatte zerfiel allmählich in einzelne Fasern, unter dem Studiertisch war sie bis auf die billigen Tannendielen durchgerieben.
Die einzigen Bilder waren Franks Stahlstich von Roger Williams, seine gerahmte stiefmütterchenfarbene Kopie von »Pippa geht vorüber« und Don Pickens' Lieblingsgemälde, eine Landkirche in winterlichem Mondschein, mit Flitterschnee, der köstlich funkelte. Die einzigen nicht theologischen Bücher waren Franks Dichter: Wordsworth, Longfellow, Tennyson und Browning, in Standardbänden, schön gedruckt, dunkel, und ein wirklich gefährliches papistisches Dokument, seine »Nachfolge Christi«, über die es mindestens einmal in jeder Woche Streit gab.
In diesem Zimmer waren an einem Novemberabend des Jahres 1905, auf steifen Stühlen, den Koffern und dem Bett hockend, fünf junge Leute außer Elmer und Eddie Fislinger. Eddie gehörte eigentlich nicht zu der Gruppe, doch er ließ es sich nicht nehmen, Elmer überallhin nachzugehen, weil er das Gefühl hatte, daß noch nicht einmal jetzt alles mit dem Bruder stimmte.
»Ein Prediger muß ebenso kräftig sein und ebenso einen tüchtigen Puff vertragen können wie ein Preisboxer. Er müßte imstande sein, jeden Radaubruder hinauszuschmeißen, der's probiert, seine Meetings zu stören, und außerdem macht Stärke großen Eindruck auf die Frauen in der Gemeinde – natürlich mein' ich das nicht in irgendeinem schlechten Sinn«, sagte Wallace Umstead.
Wallace war Hilfslehrer, Leiter des kleinen Seminarturnplatzes und »Direktor für Körperkultur«; ein junger Mann, der einen soldatischen Schnurrbart hatte und Großartiges auf dem Reck leistete. Er war B.A. einer Staatsuniversität und Graduierter einer Schule für Leibesübungen. Er wollte in die Y.M.C.A., sobald er einen theologischen Grad hätte, und pflegte gern zu sagen: »Ach, ich bin noch immer Einer von den Jungs, wißt Ihr, auch wenn ich Prof bin.«
»Das stimmt«, meinte Elmer Gantry. »Wißt Ihr, ich hatte – im vorigen Sommer hab' ich in Grauten, Kansas, ein Meeting abgehalten, und da war ein Riesenlümmel, der immer wieder störte, und da bin ich ganz einfach von der Tribüne hinuntergesprungen und auf ihn zugegangen, und er sagt, ›Sagen Sie, Pfarrer‹ sagt er, ›können Sie uns erklären, was der Allmächtige will, daß wir wegen der Prohibition tun sollen, wo er doch Paulus gesagt hat, er soll bißchen Wein für seinen Magen nehmen?‹ ›Ich weiß nicht, ob ich das kann‹, sag' ich, ›aber Sie müssen sich dran erinnern, daß er uns auch befohlen hat, Teufel auszutreiben!‹ und dann hab' ich den Viechskerl von seinem Sitz weggestoßen und ihn am Ohr hinausgeschleift, und wißt Ihr, die ganze Menge – na ja, so schrecklich viel waren grade nicht da, aber die haben was über ihn gelacht! Jawohl. Und wenn man ein starker Kerl ist, macht das Eindruck auf die ganze Gemeinde, auf die Männer genau so wie auf die Weiber. Bestimmt gibt's mehr als einen hochfeinen Prediger, der seine Kanzel nur gekriegt hat, weil die Diakone gespült haben, daß er sie versohlen kann. Natürlich Beten und alles das ist ja ganz richtig, aber praktisch muß man sein! Wir sind hier, um Gutes zu tun, aber zuerst muß man sehen, daß man einen Posten kriegt, wo man Gutes tun kann.«
»Du bist ja ganz geschäftlich!« protestierte Eddie Fislinger, und Frank Shallard: »Du lieber Himmel, Gantry, ist das alles, was Ihnen die Religion zu sagen hat?«
»Außerdem«, sagte Horace Carp, »ist das ein großer Irrtum. Nicht bloß die rohe Kraft wirkt auf Frauen – auf Gemeinden. Vielmehr eine schöne Stimme. Ich beneid' Sie nicht um Ihre Größe, Elmer – übrigens, Sie werden dick werden –«
»Einen Dreck werd' ich!«
»– aber was könnt' ich mit Ihrer Stimme anfangen! Alle würden sie heulen! Ich würd' ihnen Gedichte von der Kanzel vorlesen!«
Horace Carp war der einzige Hochkirchler im Seminar. Er war ein junger Mann, der ein wenig an einen Wasserhund erinnerte, der Heiligenbilder, Weihrauch und einen langen Streifen Scharlachbrokat in seinem Zimmer versteckt hielt und eine Hausjoppe aus purpurrotem Samt trug. Er raste ununterbrochen vor Wut darüber, daß sein Vater, ein frommer Groß-Installateur, ihm gedroht hatte, ihn davonzujagen, wenn er in ein anglikanisches Seminar statt in eine Baptistenfestung ginge.
»Ja, Sie würden ihnen wahrscheinlich Gedichte vorlesen!« sagte Elmer. »Das ist das Malheur mit euch schwülstigen Burschen. Ihr glaubt, ihr könnt die Leute mit 'nem Haufen Gedichte und mit Festivitäten kriegen. Womit man die Leute kriegt und festhält und jeden Sonntag in ihre Kirchenstühle bekommt, das ist das richtige Evangelium – und's kann keinem was schaden, wenn man ihn mit der guten altmodischen Hölle erschreckt und so zum Anständigsein zwingt!«
»Freilich – vorausgesetzt, daß man sie dazu anhält, auch den Körper gut in Form zu halten«, stimmte Wallace Umstead zu. »Na, ich will nicht als Prof reden – mir ist es ja nur recht, daß ich noch immer einer von den Jungs sein kann – aber ihr werdet morgen früh keine übermäßigen Pferdekräfte bei euerem Beten entwickeln, wenn ihr nicht eueren Schlaf habt. Und ich bin auch bißchen fertig. G'Nacht!«
Als die Tür wieder zu war, gähnte Harry Zenz, der Bilderstürmer des Seminars: »Wallace ist so ziemlich das blödsinnigste Exemplar, das mir in meiner großen geistlichen Praxis unter die Augen gekommen ist. Gott sei Dank, er ist gegangen! Jetzt können wir natürlich sein und Schweinereien reden!«
»Und doch«, beklagte sich Frank Shallard, »reden Sie ihm immer zu, er soll bleiben und von seinen Lieblingsübungen erzählen! Reden Sie nie die Wahrheit, Harry?«
»Niemals leichtfertig. Aber, Sie Idiot, ich brauch' doch Wallace, damit er zum Dekan rennt und ihm sagt, was für ein eifriger Arbeiter im Weinberg ich bin. Frank, Sie sind ein armes unschuldiges Schäfchen. Ich hab' Sie im Verdacht, daß Sie wirklich was von dem Dreck glauben, der uns hier gelehrt wird. Und doch sind Sie ein Mann, der einigermaßen belesen ist. Sie sind außer mir der einzige Mensch im Mizpah, der einen Satz von Huxley zu würdigen wüßte. Himmel, was tun Sie mir leid, wenn Sie mal im Dienst sind! Natürlich, Fislinger da ist ein Kramladenkommis, Elmer ein Bezirkspolitiker, Horace ist ein Tanzmeister –«
Er wurde unter einem Sturzbach von Protesten ertränkt, die nicht allzu scherzhaft und freundlich klangen.
Harry Zenz war älter als die anderen, mindestens zweiunddreißig. Er war beleibt, fast völlig kahl, und saß gern still; außerdem konnte er unglaublich stupid aussehen. Er war ein Mann mit schlecht geordnetem, aber erstaunlichem Wissen; und in der zehn Meilen von Mizpah entfernten Kirche, in der er seit zwei Jahren regelmäßig Dienst machte, hielt man ihn für einen Mann von humorloser Gelehrtheit und blutloser Frömmigkeit. Er war kompletter, freudiger Atheist, das gestand er aber nur Elmer Gantry und Horace Carp ein. Elmer hielt ihn für eine Art Jim Lefferts, doch er unterschied sich von Jim wie Schweinefett von einem Kristall. Er verbarg seinen lachenden Atheismus – Jim strich den seinen heraus; er verachtete Weiber – Jim hatte ein illusionsloses Mitleid für die Juanita Klauzels der Welt; er hatte Verstand – Jim hatte nur flüchtige Zynismen.
Zenz unterbrach ihre Proteste:
»Ihr seid also ein Haufen Erasmusse! Ihr solltet doch Bescheid wissen. Und es liegt gar keine Heuchelei in dem, was wir lehren und predigen! Wir sind eine besonders auserlesene Gruppe von Parzivalen – schön für das Auge, dem Ohr wohlgefällig und überströmend von Kenntnissen dessen, was Gott am letzten Mittwoch vormittag um neun Uhr sechzehn dem Heiligen Geist unter vier Augen gesagt hat. Wir alle brennen nur darauf, hinauszugehen und die köstliche Baptistenlehre zu predigen: ›Laß dich untertauchen, oder tauch unter.‹ Wir sind Prachtkerle. Wir geben's zu. Und die Leute sitzen wirklich da und hören uns an, und ersticken nicht dran! Ich nehm' an, sie sind von unserer Unverschämtheit auf den Kopf geschlagen! Und wir müssen unverschämt sein, sonst würden wir's nie wieder wagen, auf einer Kanzel zu stehen. Wir würden quittieren und Gott bitten, er möge uns vergeben, daß wir uns dort hingestellt und vorgegeben haben, Gott zu vertreten und erklären zu können, wovon wir selber sagen, daß es unerklärliche Wunder wären! Aber trotzdem behaupt' ich, daß es noch immer Geistliche gibt, die nicht einmal unsere Heiligkeit haben. Wie kommt es, daß die Geistlichkeit so sehr Sexualverbrechen frönt?«
»Das ist nicht wahr!« von Eddie Fislinger.
»Reden Sie nicht so!« bat Don Pickens. Don war Franks Zimmerkamerad, ein zarter Junge, so sanft, so gefühlvoll, daß sogar dieser rasende Löwe der Rechtschaffenheit, Dekan Trosper, sich veranlaßt sah, ihn zu verschonen.
Harry Zenz klopfte ihm auf den Arm. »Ach, Sie, Don – Sie werden immer ein Mönch sein. Aber wenn Sie's nicht glauben, Fislinger, so sehen Sie sich doch die Statistik der fünftausend und mehr Verbrechen an, die von Geistlichen begangen worden sind – das heißt, von denen, die erwischt worden sind – seit den achtziger Jahren begangen worden sind, und achten Sie auf den Prozentsatz der Sexualvergehen – Notzucht, Blutschande, Bigamie, Verführung junger Mädchen – oh, ein entzückendes Register!«
Elmer gähnte: »Ach Gott, mir wird Euer Jammern und Streiten und Diskutieren wirklich schon über. Es ist doch alles ganz einfach – vielleicht sind wir Prediger nicht vollkommen; wir geben auch gar nicht vor es zu sein; aber wir tun doch recht viel Gutes.«
»Das stimmt«, sagte Eddie. »Aber vielleicht ist's wahr, daß – die Fallstricke des Geschlechts sind so fürchterlich, daß sogar Verkünder des Evangeliums darin gefangen werden. Und die ganz einfache Lösung ist Selbstbeherrschung – man muß es nur ins Gebet und in gute, schwere Andachtsübungen aufnehmen.«
»Ach freilich, Eddie, ganz sicher; Sie werden den jungen Männern in Ihrer Kirche eine großartige Hilfe sein«, schnurrte Harry Zenz.
Frank Shallard dachte unglücklich nach. »Warum werden wir denn eigentlich überhaupt Prediger? Warum sind Sie's, Harry, wenn Sie glauben, daß wir alle solche Lügner sind?«
»Oh, nicht Lügner, Frank – nur praktisch, wie Elmer gesagt hat. Bei mir ist's ganz einfach. Ich bin nicht ehrgeizig. Ich brauch' nicht so viel Geld, daß ich mich danach abzappeln müßte. Ich sitz' gern und lese. Ich bin ein Freund von Geistesakrobatik, und nicht von Arbeit. Und das alles kann man im Dienst haben wenn man nicht einer von diesen Schafsköpfen ist, die große Stiftungen entziehen und sich für die Öffentlichkeit zu Tode arbeiten.«
»Sie haben ja eine wunderbar hohe Meinung vom Dienst!« knurrte Elmer.
»Na ja, von mir aus, und was ist denn Ihr schönes hohes Ziel, um dessentwillen Sie ein Mann Gottes werden, Bruder Gantry?«
»Also, ich – Dreck, ist doch alles ganz klar, 'n Geistlicher kann 'ne Menge Gutes tun – helfen und – und die Religion erklären.«
»Ich wollte, Sie würden sie mir erklären! Ganz besonders gern würd' ich wissen, inwieweit die christlichen Symbole von obszönen barbarischen Symbolen herkommen.«
»Ach, das ist ja langweilig!«
Horace Carp rief aufgeregt: »Natürlich denkt keiner von euch heiligen Schreihälsen an die einzige raison d'être der Kirche, nämlich dem seichten Leben des gemeinen Volkes Schönheit zu verleihen!«
»Herrje! Dem gemeinen Volk muß es ganz hundsgemein zumut werden, wenn es Bruder Gantry über die Irrtümer des Supralapsarianismus loslegen hört!«
»Ich predig' nie in meinem Leben über so'n verdammtes Zeugs!« protestierte Elmer. »Ich geb' ihnen ganz einfach 'ne heilsame Predigt, mit paar Späßen dazwischen, damit's interessanter ist, und 'ner Kleinigkeit vom Theater oder so was, das rüttelt sie ein bißchen auf und weckt sie und hilft ihnen, ein besseres und fruchtbareres Alltagsleben zu führen.«
»So, das machen Sie, Herzchen!« sagte Zenz. »Mein Irrtum. Ich dachte, Sie würden ihnen höchstwahrscheinlich eine Menge wertvoller Andeutungen geben über die Eigenschaft der Innascibilitas und die res sacramenti. Na, Frank, warum sind Sie Theologe geworden?«
»Wenn Sie dabei lachen, kann ich's Ihnen nicht sagen. Ich glaube daran, daß es mystische Erlebnisse gibt, denen man nur folgen kann, wenn man sich ganz und gar absondert.«
»Na, ich weiß, warum ich hergekommen bin«, sagte Don Pickens. »Mein Vater hat mich hergeschickt!«
»Meiner mich auch!« sagte Horace Carp klagend. »Aber was ich nicht begreifen kann: Warum sind wir überhaupt alle in einer blöden Baptistenschule? Eine schreckliche Sekte – alle die verschimmelten Viehställe von Kirchen, lauter Leute, die alberne Lieder heraushusten, und langweilige Prediger, die immer mit einer fabelhaften neuen Idee kommen, wie zum Beispiel: ›Alles was die Welt braucht, um ihre Probleme zu lösen, ist die Rückkehr zum Evangelium Jesu Christi.‹ Die einzige Kirche ist die anglikanische! Musik! Gewänder! Prächtige Gebete! Schöne Architektur! Würde! Autorität! Glaubt mir, so bald ich mir's leisten kann, schwenk' ich zu den Anglikanern ab. Dann werd' ich auch eine Stellung in der Gesellschaft haben und imstande sein, ein nettes reiches Mädel zu heiraten.«
»Nein, Sie haben unrecht«, sagte Zenz. »Die Baptistenkirche ist die einzige Sekte, bei der's der Mühe wert ist, höchstens noch die Methodisten.«
»Ich freu' mich, daß Sie das sagen«, staunte Eddie.
»Weil die Baptisten und die Methodisten alle Idioten bei sich haben – bis auf die vielleicht, die zur katholischen Kirche und den Hühnerhaussekten gehören und sogar Sie, Horace, können's dort als Prophet zu was bringen. Es gibt paar intelligente Leute in der Episkopal- und den Kongregationalkirchen, und in ein paar von den Campbelliten-Herden, und die geben einem genug zu schaffen. Natürlich sind alle Presbyterianer Dummköpfe, die auch, aber sie haben eine Standardlehre und können einen bei einem Ketzerverhör fangen. Aber bei den baptistischen und methodistischen Kirchen, Mensch! Da gehören Philosophen wie ich und Käuze wie Sie, Eddie, hin! Alles, was man bei den Baptisten und Methodisten zu tun hat, ist, wie Pater Carp meint –«
»Wenn Sie in irgend etwas einer Meinung mit mir sind, zieh' ich's zurück«, sagte Horace.
»Alles was man zu tun hat«, sagte Zenz, »besteht darin, daß man sich irgendeine handfeste und völlig sinnlose Lehre hernimmt und sie immer wieder wiederholt. Die Laien wird man damit nie langweilen – tatsächlich, das einzige, was sie übelnehmen, ist etwas, was neu ist, so daß sie ihren Verstand abarbeiten müßten. O nein, Pater Carp, die anglikanische Kanzel für Schauspieler, die nicht gut genug sind, um sich auf die Bühne zu stellen, aber der gute alte Baptistenpferch für Realisten!«
»Sie gehen mir auf die Nerven, Harry!« beklagte sich Eddie. »Sie wollen bloß Eindruck machen, das ist alles. Sie sind ein viel besserer Baptist und ein viel besserer Christ, als Sie tun, und das kann ich auch beweisen. Die Leute würden Ihren Predigten nicht zuhören, wenn sie nicht Bekehrungen mit sich brächten. Nein, mein Lieber! Sie können einen ein- oder zweimal mit einem Haufen schönklingender Worte zum Narren halten, aber auf die Dauer will man Aufrichtigkeit haben. Und daß Sie auf der richtigen Seite sind, weiß ich daher, daß Sie sich nicht zur freien Gemeinschaft bekennen. Weiß Gott, ich bin überzeugt, daß alles, worauf wir Baptisten halten, von den verdammten sogenannten Liberalen bedroht ist, die anfangen, die freie Gemeinschaft zu verkünden.«
»Dreck!« brummte Harry. »Von allen blödsinnigen baptistischen Egoismen ist die enge Gemeinschaft der schlimmste! Niemand außer den Leuten, die wir als gerettet ansehen, darf mit uns das Abendmahl nehmen! Niemand darf Gott kennenlernen, wenn wir ihn nicht vorstellen! Selbsternannte Hüter des Blutes und Leibes Jesu Christi! Quatsch!«
»Ganz richtig«, von Horace Carp. »Und in der Bibel ist nicht der geringste Beleg für die enge Gemeinschaft zu finden.«
»Und ob einer da ist!« kreischte Eddie. »Frank, wo ist Ihre Bibel?«
»Herrje, ich hab' sie im O.T.E. gelassen! Wo ist deine, Don?«
»Na, da soll mich doch! Ich hab' doch das verdammte Zeugs noch heute abend hier gehabt«, jammerte Don Pickens nach eifrigem Suchen.
»Ach, jetzt weiß ich. Ich hab' einen Schwaben damit totgeschlagen. Sie ist oben auf Ihrem Kleiderschrank«, sagte Elmer.
»Je, wirklich, du solltest nicht Schwaben mit einer Bibel totschlagen!«, trauerte Eddie Fislinger. »Also, da ist die Bibel klipp und klar für die enge Gemeinschaft, Harry. Es heißt im ersten Corinther 11, 27 und 29:›Welcher nun unwürdig von diesem Brot isset, oder von dem Kelch des Herrn trinket, der ist schuldig an dem Leib und Blut des Herrn. Denn welcher unwürdig isset und trinket, der isset und trinket ihm selber zum Gericht damit, daß er nicht unterscheidet den Leib des Herrn.‹ Und wie kann einer ein würdiger Christ sein, wenn er nicht durch Untertauchen getauft ist?«
»Ich weiß manchmal nicht,« meinte Frank Shallard, »ob wir nicht ziemlich gottlos sind, wir Baptisten, daß wir uns selber als Hüter vor die Tore Gottes setzen und ganz einfach entscheiden, wer gerecht ist, und würdig zu kommunizieren.«
»Aber es gibt doch nichts anderes, was wir tun könnten«, erklärte Eddie. »Die Baptistenkirche ist, weil sie die einzige reine schriftgetreue Kirche ist, die einzig wahre Gotteskirche, und wir setzen uns nicht selber ein wir befolgen nur die Gebote Gottes.«
Horace Carp hatte gleichfalls den populären Mizpah-Sport gehuldigt, Bibelstellen aufzusuchen, um eine vorgefaßte Meinung zu erhärten. »Ich kann hier nichts über Baptisten finden«, sagte er.
»Aber auch nichts über Ihre verdammten alten Anglikaner – dreckige Snobs! – und die Prediger, die Nachthemden tragen!« von Eddie.
»Sie können Gift drauf nehmen, daß was zu finden ist – es ist die Rede von Bischöfen, und damit sind anglikanische Bischöfe gemeint – die Päpste und die Methodisten sind unkanonische Bischöfe«, frohlockte Horace. »Ich wette mit Ihnen um zwei Dollars und siebenundsechzig Cents, daß ich als anglikanischer Bischof – und, glauben Sie mir, ich werd' hochkirchlich sein wie der Teufel – so viel Kerzen auf den Altar stellen werd', wie ich nur kriegen kann.«
Harry Zenz überlegte: »Ich halte es für unwissenschaftlich, zu glauben, daß die Baptistenkirche, weil ich zufällig selber Baptistenpraxis hab' und seh', was für wortklaubende, textverdrehende, applausgierige, postenjägerische, mittelalterliche zweitrangige Burschen sogar die größten Baptistenführer sind – daß die Baptistenkirche deshalb die allerschlimmste ist. Ich kann nicht annehmen, daß es was Schlimmeres gibt als die Presbyterianer oder die Kongregationalisten, die Jünger, die Lutheraner oder irgend welche anderen. Aber – sagen Sie, Fislinger, ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie gefährlich sie ist, diese Bibelverehrung? Es könnte passieren, daß Sie und ich gezwungen werden, mit dem Predigen aufzuhören und an die Arbeit zu gehen. Sie erzählen den Hammelschädeln, daß die Bibel ausnahmslos alles enthält, was für das Heil nötig ist, nicht wahr?«
»Natürlich.«
»Was hat's dann noch für einen Sinn, überhaupt Prediger zu haben? Und Kirchen? Dann lassen Sie doch die Leute zu Haus, und die Bibel lesen!«
»Also – also – es heißt –«
Die Tür wurde aufgerissen, und Bruder Karkis kam herein.
Bruder Karkis war kein junger Student. Er war dreiundvierzig, hatte schwere Hände und große Füße, seine Stimme war die Stimme einer dänischen Dogge. Auf einer Farm geboren, war er vor nunmehr zwanzig Jahren zum Baptistenprediger ordiniert worden, und hinauf und hinunter durch die Dakotas, Nebraska, Arkansas, hatte er in Hinterwäldlerheiligtümern geschrien.
Seine einzige formelle Erziehung hatte er in Landschulengenossen; und von allem Gedruckten außer der Bibel, Erweckungshymnen, einer Konkordanz zum Auffinden von Predigttexten und einem Handbuch der Geflügelzucht hatte er nicht die geringste Ahnung. Er war noch nie mit einer Dame der Gesellschaft zusammengekommen, hatte nie ein Glas Wein getrunken, nie eine Kapelle oder ernste Musik gehört, und sein Hals war nicht frei vom Staub der Maisfelder.
Doch es wäre verschwendetes Mitleid gewesen, über Bruder Karkis als eifrigen armen Studenten zu seufzen. Er hatte keine Sehnsucht nach weiteren Kenntnissen; er war überzeugt, daß er schon alle besäße. Er verachtete die Mitglieder des Lehrkörpers als von Büchern angefressene Wankelmütige im Glauben – er konnte »sie alle miteinander über-beten, über-brüllen und über-retten.« Er wollte einen Mizpah-Grad nur, weil er dadurch einen besseren Posten bekommen würde – oder, wie er es ausdrückte, mit dem achtzehnhundertfünfziger Wortschatz, den er für neunzehnhundertfünf angebracht hielt, weil es »ihm ein weiteres Tätigkeitsfeld verschaffen würde.«
»Sagt mal, macht Ihr nie was anderes, als so rumsitzen und streiten, disputieren und herumquärgeln?« brüllte er. »Christi Wunden, ich kann euern Lärm ja schon unten im Vestibül hören! Es würde euch jungen Leuten viel besser tun, wenn ihr euer neunmalkluges Streiten sein lassen und den Abend auf den Knien im Gebet verbringen würdet! Oh, ihr seid ein netter Haufen tadellos erzogener Gecken, aber Ihr werdet schon merken, wohin ihr mit dem ganzen Plunder kommt, wenn ihr einmal draußen seid und mit dem alten Satan um unbekehrte Seelen ringen müßt! Über was streitet ihr Wortmacher denn überhaupt?«
»Harry sagt,« winselte Eddie Fislinger, »in der Bibel steht nichts davon, daß die Christen eine Kirche und Geistliche haben müssen.«
»Huh! Und er denkt, daß er weiß Gott wie gebildet ist. Wo habt ihr eine Bibel?«
Sie war jetzt in den Händen Elmers, der sein Lieblingsbuch, »Das Hohelied Salomos«, gelesen hatte.
»Na, Bruder Gantry, es freut mich, daß wenigstens ein Bursche da ist, der Verstand genug hat, sich mit dem Alten Buch zu begnügen und sich mit Gott gut zu stellen, statt sich den Hals wund zu schreien wie irgendein Pädo-Baptist. Jetzt passen Sie mal auf, Bruder Zenz: hier heißt's in den Ebräern: ›Lasset uns nicht verlassen unsre Versammlung‹. So, das wird's Ihnen wohl klar machen!«
»Mein lieber Bruder im Herrn,« sagte Harry, »das einzige, wovon hier die Rede ist, sind Versammlungen wie bei den Darbysten, ohne reguläre, bezahlte Prediger. Wie ich schon Bruder Fislinger erklärte: Persönlich bin ich ein so glühender Bewunderer der Bibel, daß ich daran denke, eine Sekte zu gründen, in der wir alle ganz einfach zusammen eine Hymne singen, dann den ganzen Tag dasitzen und unsere Bibeln lesen, und keine Prediger zwischen uns und das allgenugsame Wort Gottes treten lassen. Ich erwarte, daß Sie zu uns kommen, Bruder Karkis, wenn Sie nicht einer von diesen dreckigen höheren Kritikern sind, die der Bibel den Garaus machen wollen.«
»Ach, Sie gehen mir auf die Nerven«, sagte Eddie.
»Sie gehen mir auf die Nerven – immer die klaren Gebote der Schrift verdrehen«, sagte Bruder Karkis, die Tür zuschlagend – mit Wucht, und von außen.
»Ihr geht mir alle auf die Nerven. Mein Gott, was könnt ihr streiten!« sagte Elmer, an seinem pennsylvanischen Glimmstengel kauend.
Die Luft im Zimmer war jetzt schwer von Tabakrauch. Obgleich das Rauchen im Mizpah-Seminar nicht gern gesehen wurde, ja sogar nach alter Gepflogenheit verboten war, taten es alle in dieser heiligen Gesellschaft außer Eddie Fislinger.
Er krächzte: »Die Luft ist ja fürchterlich! Warum ihr dieses gemeine Kraut überhaupt – Würmer und Menschen sind die einzigen Lebewesen, die sich auf Tabak stürzen! Ich schau', daß ich hier rauskomm'.«
Merkwürdig wenig Klagen wurden darüber laut.
Sowie sie Eddie los waren, begannen die anderen mit ihrem ewigen Thema: was sie »Sexuelles« nannten.
Frank Shallard und Don Pickens waren Jungfrauen, schüchtern und bezaubert, respektvoll und begierig; Horace Carp hatte ein ungeschicktes kleines, bleichsüchtiges Erlebnis gehabt; und alle drei lauschten mit nervösem Eifer den Erlebnissen Elmers und Harry Zenz'. Heute abend dampfte Elmers Geist geradezu von Erinnerungen daran, und er, der während des kirchlichen Debattierens fast kein Wort gesprochen hatte, redete jetzt fließend. Die Jünglinge keuchten, als er seine Zusammenkünfte mit einer willfährigen Chorsängerin, im vergangenen Sommer, schilderte.
»Sagen Sie mir – sagen Sie mir«, ereiferte sich Don. »Gibt's das, daß, oh – hübsche Mädels – gibt's das wirklich – äh – daß sie mit einem Geistlichen – äh – gehen? Und schämen Sie sich nicht, wenn Sie sie nachher in der Kirche sehen?«
»Huh!« rief Zenz, und Elmer erklärte: »Schämen? Sie beten einen ja an! Sie halten zu einem, wie keine Frau es je machen würde – solang sie mit einem sündigen. Also, dieses Mädel – oh, sie hat schon hübsch gesungen.«
Er brach etwas unsicher ab, in der Vergangenheit schwelgend. Plötzlich ekelte es ihn an, die Geheimnisse der Erotik vor diesen Mondkälbern abzuhandeln. Er sprang auf.
»Schlafen?« fragte Frank.
Elmer posierte an der Tür, lächelnd, die Hände an den Hüften. »O nein. Gar keine Rede.« Er sah auf seine Uhr. (Es war eine Uhr, die an Elmer selbst erinnerte; groß, dick, schimmernd, mit einem Gehäuse aus Doublée.) »Ich hab' nur 'ne Verabredung mit einem Mädel, das ist alles!«
Er log, aber seine eigenen Geschichten hatten ihn aufgeregt, und er würde ein Jahr seines Lebens darum gegeben haben, wenn seine Aufschneiderei wahr gewesen wäre. Fiebernd kehrte er in sein einsames Zimmer zurück. »Herr Gott, wenn nur Juanita da wäre, oder Agatha, oder auch nur das kleine Stubenmädel von Solomon Junction – Teufel noch einmal, wie hat sie denn geheißen?« sehnte er sich.
Regungslos saß er auf seiner Bettkante. Er ballte die Fäuste. Er stöhnte und packte seine Knie. Er sprang auf, lief im Zimmer umher, ging wieder zurück und setzte sich schmerzverzückt nieder.
»Mein Gott, ich halt' das nicht aus!« ächzte er.
Er war unfaßbar einsam.
Er hatte keine Freunde. Seit Jim Lefferts hatte er niemals einen Freund gehabt. Harry Zenz verachtete seinen Verstand, Frank Shallard verachtete seine Manieren, und alle übrigen verachtete er. Er war angeekelt von dem eintönigen Reden der Seminarprofessoren, den ganzen Tag lang, von dem kindischen Streiten, den ganzen Abend lang; und bei den Gebetsmeetings, Andachtsmeetings und speziellen Gebetsmeetings ekelte es ihn an, immer dieselben Enthusiasten in denselben Schrift-Wonnen frohlocken zu hören.
»Ach ja, ich möcht' raus und predigen. Ich könnt' nicht mehr zurück und nur Geschäfte machen oder auf eine Farm gehen. Die Hymnen würden mir fehlen, das Herr-sein. Aber – ich kann nicht! Gott, ich bin so allein! Wenn doch Juanita da war'!«