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Nicht Ihre Beredsamkeit war es, sondern ihre Krankenheilungen, die Sharon zu solcher Bedeutsamkeit erhoben, daß sie versprach, die berühmteste Evangelistin Amerikas zu werden. Man war der Beredsamkeit müde; und das ganze Evangelistengeschäft hatte seine Grenzen, da auch die Glühendsten wohl kaum mehr als drei- oder viermal zu retten waren. Aber geheilt konnten sie immer wieder werden, auch von derselben Krankheit.
Heilungen sollten später das Hauptcharakteristikum vieler Evangelisten werden, im Jahre 1910 jedoch wurden sie hauptsächlich von den Anhängern der Christian Science und den Neudenkern propagiert. Sharon kam durch einen Zufall darauf. Sie hatte regelmäßig Gebete für die Kranken angeboten, aber ohne sich etwas dabei zu denken. Als Elmer und sie ein Jahr zusammen waren, während ihrer Meetings in Schenectady, führte ein Mann seine taube Frau herauf und bat Sharon, sie zu heilen. Es amüsierte Sharon, um etwas Öl zu schicken (zufällig war es Waffenöl, aber sie weihte es richtig), die Ohren der Frau zu salben und munter um Heilung zu beten.
Die Frau kreischte: »Lob und Preis sei Gott, ich hab' mein Gehör wiedergekriegt!«
Es machte Furore im Heiligtum, und jedermann brannte darauf, von allen Schmerzen befreit zu werden. Elmer nahm das von der Taubheit geheilte Weib auf die Seite und bat sie um ihren Namen für die Zeitungen. Sie konnte ihn freilich nicht hören, aber er schrieb seine Fragen auf, sie gab ihre Antworten gleichfalls schriftlich, und er bekam eine ausgezeichnete Geschichte für die Zeitungen und eine Idee für ihre heilige Arbeit.
Warum, so fragte er Sharon, sollte sie Heilungen nicht zu etwas Regelmäßigem machen?
»Ich wüßte nicht, daß ich irgendeine Gabe dafür hätte«, meinte Sharon.
»Freilich hast du die! Bist du nicht ein Medium? Natürlich. Mach's nur. Wir können einige Heilungsandachten aufziehen. Ich bin sicher, die Sammlungen werden alle Rekorde schlagen, und wir können ein genaues Abkommen mit den Lokalausschüssen treffen, daß wir alles über einen bestimmten Betrag Hinausgehende kriegen, und natürlich die Sammlung am letzten Tag.«
»Schön, wir können's ja mal damit versuchen. Natürlich, der Herr kann mich mit besonderen Gaben dafür gesegnet haben, und ihm wird alle Ehre gebühren, ach, gehen wir da rein und essen wir Eis, ich trink' so gern Bananen-Soda, hoffentlich sieht mich niemand, heut' abend möcht' ich unbedingt tanzen, auf jeden Fall können wir noch über die Heilungssache reden, ich muß ein heißes Bad nehmen, sobald wir zu Haus sind, mit Badesalz.«
Der Erfolg war ungeheuer.
Sie entfremdete sich viele evangelische Geistliche durch göttliche Heilungen, gewann aber alle, die Bücher über Willenskraft lasen, und ihre täglichen Wunder wurden in den Zeitungen berichtet. Und, wenigstens wurde so berichtet, einige ihrer Patienten blieben geheilt.
Sie murmelte Elmer zu: »Weißt du, vielleicht ist wirklich was an dem Heilen dran, und mich begeistert es kolossal – dem Lahmen zu sagen, er soll seine Krücken fortwerfen. Der Mann gestern abend, der Krüppel – der hat sich viel besser gefühlt.«
Sie schmückten jetzt den Altar mit Krücken und Stöcken, die alle von dankbaren Patienten stammten – außer denen, die Elmer zu kaufen gezwungen war, um die Ausstellung von Anfang an begeisternd zu machen.
Das Geld strömte nur so herein. Ein dankbarer Patient gab Sharon fünftausend Dollars. Elmer und Sharon hatten ihren einzigen Streit, abgesehen von gelegentlichen Wortwechseln infolge von Temperamentausbrüchen. Da die Einnahmen sich steigerten, forderte er Gehaltserhöhung, und sie bestand darauf, daß ihre Wohltätigkeitsanstalten alles verbrauchten, was sie hätte.
»Ja, gehört hab' ich schon 'ne Menge davon,« sagte er, »das Heim für alte Frauen, das Waisenhaus und das Krankenhaus für pensionierte Prediger. Du führst sie wohl mit dir auf der Straße rum!«
»Willst du damit sagen, mein guter Freund, daß ich –«
Sie sprachen sich aus, sehr lebhaft und privat, und nachher erhöhte sie sein Gehalt auf Fünftausend und küßte ihn.
Das so leicht hereingekommene Geld brachte Sharon zu schwindelnden Plänen. Sie wollte ein zehntausend Morgen großes Gut kaufen, für eine Niederlassung Christlich-Sozialer und eine Universität, und ging so weit, eine Drei-Monate-Option auf zweihundert Morgen zu erwerben. Sie wollte eine große nationale Tageszeitung haben, ohne Gerichtssaal-Neuigkeiten, Skandal- und Sportteil, dafür aber mit einer täglichen Bibelabhandlung auf der ersten Seite. Sie wollte einen neuen Kreuzzug organisieren – eine Armee von zehn Millionen, die durch heidnische Länder marschieren und die ganze Welt in unseren Zeiten zum Christentum bekehren sollte.
Einen Plan führte sie schließlich wirklich aus; sie schuf eine Zentrale für ihre Sommer-Meetings.
In Clontar, einem Badeort an der New-Jersey-Küste, kaufte sie den Quai, auf dem Benno Hackenschmidt früher große Opernvorstellungen gegeben hatte. Obgleich sie so viel Geld hineinstecken mußte, daß schon die erste Zahlung ihr fast jeden Pfennig nahm, den sie erspart hatte, berechnete sie, daß sie Geld verdienen müßte, weil sie die unumschränkte Besitzerin sein und nicht die Sammlungen mit den Ortskirchen zu teilen haben würde. Überdies würde sie dadurch, daß sie an einem Ort blieb, mehr Einfluß gewinnen, als durch das Herumziehen von Ort zu Ort, wobei sie gezwungen wäre, ihre Tugenden in jeder Stadt von neuem anzukündigen.
In einem Freudentaumel entwarf sie den Plan, daß sie, wenn sie Erfolg haben sollte, den Quai in Clontar für den Sommer behalten und ein Heiligtum für den ganzen Winter in New York oder Chicago erbauen würde. Sie sah sich schon als zweite Mary Baker Eddy, Annie Besant, Katherine Tingley … Elmer Gantry war entsetzt, als sie andeutete, daß – wer weiß? – der nächste Messias vielleicht eine Frau sein, daß diese Frau schon jetzt auf Erden weilen und sich gerade ihrer Göttlichkeit bewußt werden könnte.
Auf dem Quai stand ein riesiges Gebäude aus billigem, ästigem Tannenholz, in krankem Rot mit Goldstreifen angestrichen. Immerhin war es an heißen Abenden angenehm. Ringsherum lief eine Promenade über dem Wasser, auf der einst Liebespaare zwischen den Akten der Oper herumspaziert waren, und auf diese Promenade führten viele Türen, die wie Scheunentore aussahen.
Sharon taufte es »Das Heiligtum an den Wassern des Jordan«, ließ es noch einmal anstreichen, noch röter, mit noch goldeneren Goldstreifen, errichtete ein ungeheueres drehbares Kreuz, an dem nachts gelbe und rubinrote elektrische Birnen leuchteten.
Die ganze Evangeliumsmannschaft kam Anfang Juni nach Clontar, um alles für die feierliche Eröffnung am Abend des ersten Juli vorzubereiten. Freiwillige Platzanweiser und persönliche Arbeiter mußten eingestellt werden, und Sharon und Adelbert Shoop machten Pläne für einen großen Chor in Gewändern, mit drei oder vier bezahlten Solisten.
Elmer zeigte weniger Eifer als sonst, ihr zu helfen, weil ihm etwas passiert war. Er sah, daß er wirklich freundlicher zu Lily Anderson, der Pianistin, sein müßte. Obgleich er Sharon treu blieb, hatte er immer mehr empfunden, daß es purer Leichtsinn wäre, die hübsche, blutarme, jungfräuliche Lily ungenützt zu lassen. Der Verdruß darüber, daß Art Nichols, der Hornist, den gleichen Gedanken hatte, zwang ihn, sie zu beachten.
Elmer war von ihrer Ungewecktheit bezaubert. Wohl liebte er Sharon zärtlich weiter, aber er mußte immer, mit feuchten Lippen, über ihre Schulter zu Lilys bleicher Süßigkeit hinübersehen.
Am Abend vor der Eröffnungsandacht saßen Sharon und Elmer im Mondschein am Strand.
Ganz Clontar, mit seiner Meile komfortabler Sommervillen und geschmackloser Hotelgebäude, war in Aufregung über das Heiligtum, und die Handelskammer hatte verkündet: »Wir lenken die Aufmerksamkeit der ganzen Jersey-Küste auf diese erstklassige geistliche Einrichtung, die neueste Errungenschaft, die zu den mannigfaltigen Attraktionen und Sehenswürdigkeiten des belebtesten aller Sommeraufenthaltsorte hinzugekommen ist.«
Man hatte durch Schmeicheleien zweihundert Personen für den Chor aufgebracht; und einige von diesen waren sogar überredet worden, sich selbst Gewänder und Barette zu kaufen.
Nahe der Sanddüne, an der Sharon und Elmer lehnten, stand das Heiligtum, über dem sich das elektrische Kreuz feierlich drehte und seinen Schimmer bald auf die schäumende Brandung, bald auf den traurigen Sand warf.
»Und das gehört mir!« Sharon bebte. »Ich hab' es geschaffen! Viertausend Sitzplätze, und das einzige christliche Heiligtum, glaub' ich, das über Wasser gebaut ist! Elmer, ich krieg' fast Angst davor! So viel Verantwortung! Tausende armer, versorgter Seelen, die sich an mich um Hilfe wenden, und wenn ich sie enttäusche, wenn ich schwach bin, oder müde, oder egoistisch, werd' ich ihre Seelen morden. Ich wollte fast, ich wär' wieder sicher in Virginien!«
Ihre verzückte Stimme verwob sich mit dem Drohen der Brecher, schwach gegen das Tosen der berstenden Wassermassen, leidenschaftlich in der Stille, während das große Kreuz unaufhörlich seine Lichter drehte.
»Und ich bin auch ehrgeizig, Elmer. Das weiß ich. Ich will die ganze Welt. Aber ich bin mir bewußt, was für eine schreckliche Gefahr das ist. Ich hab' nie jemand gehabt, der mich geführt hätte. Ich bin eigentlich niemand. Ich hab' keine Familie, keine Erziehung. Ich hab' alles selber für mich tun müssen, außer dem, was Cecil und du, und noch ein oder zwei Männer getan haben, und vielleicht seid ihr alle zu spät gekommen. Wie ich ein Kind war, hab' ich niemand gehabt, der mir gesagt hätte, was Ehrgefühl ist. Aber – oh, ich hab' schon was geschafft! Die kleine Katie Jonas aus der Railroad Avenue – die kleine Katie mit ihrem roten Flanellrock und den zerrissenen Strümpfen, die mit der ganzen Killarney-Street-Bande gerauft und Pup Monahan eins auf die Nase gegeben hat, Herrgott noch einmal! Und keine fünf Cents im ganzen Jahr, nicht einmal für Süßigkeiten. Und jetzt gehört das mir, das Heiligtum da – sieh dir's nur an! – das Kreuz, der Chor, den du üben hörst! Ja, ich bin die Sharon Falconer, von der du liest! Und morgen werd' ich – ach, Leute, die nach mir greifen – und ich heil' sie – Nein! Ich krieg' Angst! Das kann nicht bleiben. Mach, daß es für mich bleibt, Elmer! Laß mir's nicht wegnehmen!«
Sie schluchzte, ihr Kopf lag in seinem Schoß; er tröstete sie plump. Es langweilte ihn ein wenig. Sie war schwer, und obwohl er sie gern hatte, wünschte er, daß sie diese Geschichte von der Katie Jonas aus Utica nicht immer wieder erzählte.
Sie richtete sich auf den Knien auf und legte die Arme um ihn, ihre Stimme hob sich hysterisch von der Brandung ab:
»Ich kann's nicht! Aber du – Ich bin ein Weib. Ich bin schwach. Ich weiß nicht, ob ich nicht aufhören soll, mich für so ein Wunder zu halten, ob ich nicht dich alles machen lassen und hinter dir stehen und dir helfen sollte? Soll ich?«
Er war von soviel Einsicht überwältigt, räusperte sich aber und sprach voll Besonnenheit:
»Also, jetzt will ich dir mal was sagen. Ich selber hätt' nie davon zu reden angefangen, aber da du's selber sagst – ich denke nicht daran, auch nur eine Minute zuzugeben, daß ich mehr organisatorische Fähigkeiten oder Rednergaben hätte als du – wahrscheinlich nicht einmal halb so viel. Und vor allem, du hast die Sache gemanaget; ich bin erst später dazu gekommen. Aber trotzdem, obwohl eine Frau alles ebensogut machen kann wie ein Mann, oder besser noch, eine Zeitlang sie bleibt eine Frau und ist nicht dazu geschaffen, alles fortzuführen, wie ein Mann es könnte, verstehst du, wie ich's mein?«
»Wär' es besser für das Reich, wenn ich auf meinen Ehrgeiz verzicht' und dir folge?«
»Also, ich will ja nicht sagen, daß es besser wäre. Du hast ganz bestimmt alles recht gut gemacht, Schatz. Ich hab' gar nichts auszusetzen, aber trotzdem glaub' ich, wir sollten uns die Sache überlegen.«
Sie war ganz still geblieben, eine kniende Silberstatue. Jetzt ließ sie den Kopf auf seine Knie fallen und rief:
»Ich kann's nicht aufgeben! Ich kann nicht! Muß ich?«
Er merkte, daß Leute in die Nähe kamen. Er knurrte: »Hör' mal, um Gottes willen, Shara, schrei doch nicht so und benimm dich! Man könnt' es hören!«
Sie sprang auf. »Oh, du Narr! Du Narr!«
Sie entfloh ihm, über den Sand, durch die Strahlen des Drehkreuzes in den Schatten. Geärgert rieb er seinen Rücken an der Sanddüne und brummte:
»Der Teufel soll diese Weiber holen! Eine wie die andere, sogar Shary; immer verlieren sie die Geduld mit einem, wegen nichts und wieder nichts! Aber, ich war doch bißchen übereilt, wenn ich bedenk', daß sie eben erst auf den Gedanken gekommen war, mir die Leitung zu überlassen. Ach, Teufel, ich werd' sie schon wieder beruhigen!«
Er zog die Schuhe aus, schüttelte den Sand heraus und rieb sich langsam, voller Wohlbehagen, die Sohle des einen Strumpfs, denn er faßte einen Gedanken.
Wenn Sharon solche Geschichten mit ihm machen wollte, mußte er ihr eine Lektion erteilen.
Die Chorprobe war aus. Warum sollte er nicht ins Haus zurück und sehen, was Lily Anderson machte?
Das war ein nettes Kind, sie bewunderte ihn – die würde es nie wagen, ihn anzuschnauzen.
Er schlich auf den Zehenspitzen zu Lilys jungfräulicher Tür und klopfte leise an.
»Ja?«
Er wagte nicht zu sprechen – Sharons Tür in dem großen alten Haus, das sie in Clontar genommen hatten, war fast genau gegenüber. Er klopfte noch einmal, und als Lily zur Tür kam, in einem Kimono, flüsterte er: »Schhh! Alle schlafen. Darf ich nur auf eine Sekunde hineinkommen? Ich muß Sie was Wichtiges fragen.«
Lily wunderte sich, verspürte aber offenbar furchtsame Aufregung, als er ihr ins Zimmer folgte.
»Lily, ich hab' mir Sorgen gemacht. Meinen Sie, Adelbert soll morgen den Chor anfangen mit ›Eine feste Burg ist unser Gott‹, oder vielleicht mit etwas bißchen Schmissigerem – zuerst die Menge packen und dann etwas Gewaltigeres hineinbullern.«
»Wirklich, Mr. Gantry, ich glaub', das Programm kann jetzt nicht mehr geändert werden.«
»Na schön, liegt ja weiter auch nichts dran. Setzen Sie sich und erzählen Sie mir, wie's heute abend bei der Chorprobe gegangen ist. Sicher fabelhaft, Sie haben ja Klavier gespielt.«
»Ach,« als sie sich ganz leicht auf die Bettkante setzte, »jetzt ziehen Sie mich ganz einfach auf, Mr. Gantry!«
Er saß neben ihr und lachte wacker: »Und ich kann Sie nicht einmal dazu kriegen, daß Sie Elmer zu mir sagen!«
»Ach, das würd' ich mich nie trauen, Mr. Gantry! Miß Falconer würde mich schön heruntermachen!«
»Sie brauchen's mir nur zu sagen, wenn irgendwer sich erlauben sollte, Sie runterzumachen, Lily! Na – ich weiß nicht, ob Sharon es anerkennt oder nicht, aber die Art, wie Sie spielen, ist für unsere Meetings genau so wichtig wie ihre Predigten oder sonst irgend etwas.«
»O nein, Sie schmeicheln mir bloß, Mr. Gantry! Ach wissen Sie, ich taug' ja eigentlich gar nichts.«
»Na, ich – ach, warten Sie mal – ja, jetzt erinner' ich mich: der anglikanische Geistliche – der große, hübsche – der hat gesagt, Sie gehören eigentlich auf die Bühne, Sie haben so viel Talent.«
»Ach, gehen Sie, Mr. Gantry, Sie halten mich zum Narren!«
»Nein, das hat er wirklich gesagt. Na, jetzt könnten aber Sie was Nettes über mich sagen!«
»Ach, jetzt fischen Sie ja!«
»Na selbstverständlich – bei so 'nem hübschen Fisch, wie Sie sind!«
»Oh, es ist schrecklich, wie Sie reden.« Lachen – silbernes Läuten. »Aber, wissen Sie, die große Opernsolistin, die zur Eröffnung da ist, sagt, Sie sehen so stark aus, daß sie Angst vor Ihnen hat.«
»So, sie hat Angst, so! Und Sie? … He? … Haben Sie auch Angst? … Sagen Sie doch!« Irgendwie war ihre Hand in der seinen, und er drückte sie, während sie zur Seite sah, rot wurde und schließlich keuchte: »Ja, bißchen.«
Fast hätte er sie umarmt, aber – oh, es wäre falsch, die Dinge zu übereilen, und er fuhr in seinem Berufston fort:
»Aber, um wieder auf Sharon und unsere Arbeiten zu kommen: es ist ja ganz richtig, bescheiden zu sein, aber Sie müßten sich klar darüber sein, wie ungeheuer Ihr Spiel zur Vergeistigung unserer Meetings beiträgt.«
»Ich freu' mich ja riesig, daß Sie das meinen, aber, wirklich, mich mit Miß Falconer zu vergleichen, im Seelenbringen für Christus – weiß Gott, sie ist die wundervollste Person von der ganzen Welt.«
»Das ist richtig, freilich ist sie das.«
»Nur wollt' ich, daß sie denkt, wie Sie. Ich glaub' wirklich nicht, daß sie sich auch nur so viel aus meinem Spiel macht.«
»Ja, sie sollte aber! Ich will nicht kritisieren, verstehen Sie; sie ist sicher eine von den größten lebenden Evangelisten; aber ganz unter uns, sie hat einen Fehler – sie erkennt keinen von uns an – sie glaubt, sie ist's, die das ganze verdammte Zeugs allein macht! Wie ich schon gesagt hab', ich bewunder' sie, aber, weiß Gott, es giftet mich manchmal, daß ich sie nie dazu bringen kann, Ihre Musik anzuerkennen – ich meine so, wie sie anerkannt werden müßte – verstehen Sie, wie ich's mein?«
»Oh, das ist fürchterlich nett von Ihnen, aber ich verdien' nicht –«
»Aber ich hab' sie immer anerkannt, glauben Sie nicht, Lily?«
»O ja, das haben Sie schon, und es ist so eine Ermutigung für mich gewesen –«
»Ach, also, hören Sie, ich möcht' unbedingt haben, daß Sie mir das sagen, Lily.« Ein festerer Druck auf ihre schwache Hand. » Freut es Sie, daß mich Ihre Musik freut?«
»Oh ja.«
»Aber freut es Sie auch, daß Sie mir Freude machen?«
»Oh ja. Natürlich, wir arbeiten alle zusammen – oh, wie Schwester und Bruder –«
»Lily! Glauben Sie, daß wir mal, äh, glauben Sie nicht, daß wir uns ein bißchen näher sein könnten als Schwester und Bruder?«
»Ach, jetzt sind Sie ganz einfach häßlich! Wie können Sie mich armseliges, kleines Ding gern haben, wo Sie doch Sharon gehören?«
»Was meinen Sie? Ich Sharon gehören? Na hören Sie! Ich bewunder' sie schrecklich, aber ich bin ganz frei, darauf können Sie sich verlassen, und nur weil ich so bißchen scheu vor Ihnen war – Sie haben so, so 'ne blumenhafte Schönheit, könnt' man sagen, daß kein Mann, nein, auch der gröbste nicht, sich trauen könnt', dran zu rühren – und weil ich mich zurückgehalten hab', und Sie so bißchen gern beschützt hätte, vielleicht glauben Sie da, daß ich nicht alle Ihre Vorzüge erkannt hab'?«
Sie schluckte.
»Ach, Lily, alles, worum ich bitte, ist die Möglichkeit, ab und zu, wenn Sie den Kopf hängen lassen – und schließlich müssen wir ja alle mal in so 'ne Stimmung kommen, wenn wir nicht denken, daß es nur auf uns ankommt, daß das Evangelistentum für uns da ist! – immer wenn Ihnen so ist, möcht' ich das Recht haben, Ihnen zu sagen, wie sehr einer von der Lieblichkeit begeistert ist, die Sie überall verbreiten!«
»Meinen Sie das wirklich ernst? Vielleicht kann ich Klavier spielen, aber ich selber, ich bin nichts … nichts.«
»Das ist nicht wahr, das ist einfach nicht wahr, Liebste! Lily! Es sieht ja ganz Ihrer Bescheidenheit gleich, nicht zu wissen, wieviel Sonnenschein Sie uns allen ins Herz bringen, Liebe, und wie wir uns freuen –«
Die Tür sprang auf. Auf der Schwelle stand Sharon Falconer in einem schwarzgoldenen Schlafrock.
»Ihr beide«, sagte Sharon, »seid entlassen. Rausgeschmissen. Sofort! Daß ihr mir nie wieder unter die Augen kommt. Über Nacht könnt ihr bleiben, aber seht zu, daß ihr noch vor dem Frühstück aus dem Haus seid.«
»Oh, Miß Falconer –« jammerte Lily, Elmers Hand fortschleudernd. Aber Sharon war gegangen, hatte die Tür ins Schloß geworfen. Die beiden liefen auf den Flur, sie hörten den Schlüssel im Schloß; Sharon ignorierte ihr Pochen.
Lily starrte Elmer an. Er hörte ihren Schlüssel gleichfalls und stand allein im Flur.
Erst um ein Uhr morgens, nach langer Niedergeschlagenheit, hatte er seine Geschichte fertig und wasserdicht.
Es war ein heroisches Schauspiel, das der Reverend Elmer Gantry bot, als er vom Balkon im zweiten Stock durch Sharons Fenster stieg, auf den Zehenspitzen durch das Zimmer schlich, an ihrem Bett auf die Knie plumpste und ihr einen lauten, schnalzenden Kuß gab.
»Ich schlaf nicht«, sagte sie in eiskalten Tönen, während sie die Decke über die Schultern zog. »Ja, ich bin das erstemal seit zwei Jahren wach, mein junger Freund. Du kannst hier rausgehen. Ich will dir nicht alles sagen, was ich gedacht hab', aber unter anderem bist du ein undankbarer Hund, der die Hand gebissen hat, die dich aus der schmierigen Gosse gezogen hat, du bist ein Lügner, ein Ignorant, ein Schwindler und ein miserabler Prediger.«
»Bei Gott, ich werd' dir beweisen –«
Aber sie lachte, und sein Aktionsplan fiel ihm wieder ein.
Er setzte sich fest auf die Bettkante und sprach ganz ruhig:
»Sharon, du bist recht reichlich ein dummes Luder. Du meinst, ich will ableugnen, daß ich mit Lily geflirtet hab'. Ich werd' mir nicht die Mühe machen, es zu leugnen! Wenn du dich selbst nicht zu schätzen weißt, wenn dir nicht klar ist, daß ein Mann, der einmal mit dir zusammen ist, sich ganz einfach für andere Frauen nicht interessieren kann, dann hab' ich da nichts weiter zu sagen. Ja, mein Gott, Shara, du weißt doch, was du bist! Ich könnte dir ebensowenig untreu werden, wie meiner Religion! Tatsache – Willst du wissen, was ich Lily, Miss Anderson, gesagt hab'?«
»Ich will nicht!«
»Also, du sollst's aber wissen! Wie ich den Korridor raufgekommen bin, war ihre Tür offen, und sie hat mich gebeten, hineinzukommen, sie wollte mich was fragen. Also, das arme junge Mädel scheint darüber nachgedacht zu haben, ob ihre Musik deiner Größe wirklich gerecht wird – so hat sie's selber ausgedrückt – besonders jetzt, wo das Jordanheiligtum dir so viel Macht mehr geben wird. Sie hat dich die größte geistige Kraft von der Welt genannt und sich den Kopf darüber zerbrochen, ob sie überhaupt würdig ist –«
»Hm. So? Also, sie ist's nicht! Und sie bleibt auch rausgeschmissen. Und du, mein feiner junger Lügner, wenn du noch einmal einem andern Frauenzimmer auch nur einen Blick zuwirfst, schmeiß' ich dich endgültig raus … Ach, Elmer, wie konntest du nur, Geliebter? Wo ich dir doch alles gegeben hab'! Ach, lüg, lüg, lüg weiter! Erzähl mir eine gute, dicke Lüge, die ich glauben kann! Und dann küß mich!«
Fahnen, Fahnen, Fahnen, die über dem Dach wehten, Fahnen an den Wänden des Heiligtums, Fahnen, die in der von der rastlosen See hereinströmenden Luft flatterten. Der Eröffnungsabend des Heiligtums an den Wassern des Jordan, der Abend, an dem Sharons Kreuzzug zur Eroberung der Welt begann.
Der Ort Clontar und alle Sommerfrischen in der Nachbarschaft spürten, daß hier etwas vorging, was sie nicht ganz verstanden, etwas Wunderbares, etwas, das man auf keinen Fall versäumen durfte; von beiden Seiten der Jersey-Küste waren im Automobil oder mit der Straßenbahn die Frommen gekommen. Als das Meeting anfing, waren alle viertausend Sitzplätze besetzt, fünfhundert Menschen standen, und draußen wartete eine große Schar, die durch ein Wunder hineinzukommen hoffte.
Im Inneren sah es aus wie in einer Scheune; die dünnen Holzwände zeigten schamlose Flicken an den Stellen, wo die Winterstürme Schaden angerichtet hatten, schimmerten aber im Schmuck der Fahnen vieler Nationen; ungeheuere Anschläge klebten an ihnen, Blutrot auf Weiß, und verkündeten, daß das wundertätige Blut des Messias die Erlösung von allem Leid bedeute, daß seine Liebe Zuflucht und Sicherheit sei. Sharon hatte auf ihren prunkvollen weißgoldenen Pyramidenaltar verzichtet. Die Bühne war mit schwarzem Samt ausgeschlagen, vor dem ein riesiges Kristallkreuz hing; die Sitze für den zweihundert Personen starken Chor, hinter einer goldenen Kanzel, waren weiß verkleidet.
Neben der Kanzel stand ein weißes Holzkreuz.
Es war eine heiße Nacht, aber durch die Türen am Quai kam ein kühler Luftzug herein und das Geräusch des Wassers, das Geräusch von Flügelschlägen – die Möwen wurden von ihren Ruheplätzen aufgescheucht. Alles war aufgeregt, ahnte Wunder.
Vor dem Meeting hatte die Evangeliumsmannschaft, hinter der Bühne, Lampenfieber wie Theaterleute vor einer Premiere. Sie rannten, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben, eilig umher, stolperten und riefen: »Hören Sie, ach – ach –« Schließlich gab Adelbert Shoop noch der neuen Pianistin, die telegraphisch aus Philadelphia zum Ersatz Lily Andersons geholt worden war, ganz überflüssige Instruktionen. Sie bekannte sich zu großer Frömmigkeit, aber Elmer bemerkte, daß sie ein hübsches, kleines Ding mit warmen Augen war.
Der Chor kam mit den ersten Besuchern. Sie bewegten sich langsam, schwatzend durch den Gang nach vorn und fühlten sich wichtig. Da das Ende des Quais direkt aufs Wasser ging, gab es keinen Bühneneingang an der Hinterfront. Es war nur eine Tür da, durch welche die Sänger gewöhnlich auf den kleinen Hinterbalkon hinausgegangen waren, um in den Zwischenakten Luft zu schöpfen. Dieser Balkon hatte keine Verbindung mit der Promenade.
Durch diese Tür führte Sharon jetzt Elmer. Ihre Ankleideräume stießen aneinander. Sie klopfte – er saß da mit einer Bibel und einer Abendzeitung im Schoß und hatte in einer von beiden gelesen. Er öffnete und sah sie flammend vor Begeisterung, ein frohes Mädchen, das einen Schlafrock über das Hemd geworfen hatte. Sie schien den Ärger der letzten Nacht vergessen zu haben.
Sie rief: »Komm! Sieh die Sterne an!« Sie kümmerte sich nicht um das Erstaunen des Chors, der auf dem Wege in seine gemeinsame Garderobe war, um die weißen Gewänder anzulegen, sie führte ihn zu der Tür, hinaus auf den kleinen Balkon.
Auf den schwarzen Wellen glitzerten weiße Lichter. Weite und windbewegter Friede war über dem Wasser.
»Schau! Das ist so großartig! Nicht wie die Städte, in denen wir eingesperrt waren!« jubelte sie. »Die Sterne, und die Wellen, die direkt von Europa kommen! Europa! Schlösser an einer grünen Küste! Ich war noch nie dort. Aber ich werd' hin! Und am Schiff werden viele Menschen sein, um mich zu treffen und um meine Hilfe zu bitten! Schau!« Eine Sternschnuppe hatte einen feurigen Strich über den Himmel gezogen. »Elmer! Das ist ein Vorzeichen für den Ruhm, der heute abend beginnt! Ach, Liebster, mein Liebster, tu mir nie wieder weh!«
Sein Kuß versprach es, fast versprach es sein Herz.
Sie war ganz menschlich, solange sie auf die See hinaussahen, aber eine halbe Stunde später, als sie in einem Gewand aus weißem Satin mit Silberborten, ein rotes Kreuz an der Brust, hinauskam, war sie nur Prophetin, ihre weiße Stirn war hoch, ihre Augen leuchteten in fernen Träumen.
Der Chor sang schon. Sie begannen mit der Lobpreisungshymne, und das rief in Elmer ein Gefühl der Unsicherheit hervor. Die Lobpreisungshymne war doch das Ende und nicht der Anfang? Aber er sah unberührt aus, der nachdenkende Priester, in Frack und weißer Binde, stattlich und feierlich, als er sich großartig durch den Chor bewegte und seine Arme emporwarf, um Stillschweigen für sein Gebet zu gebieten.
Er erzählte ihnen von Schwester Falconer und ihrer Botschaft, von ihren Plänen und Zielen in Clontar und flehte in einer Minute stillen Gebets, die Kraft des Heiligen Geistes möge zum Heiligtum herabkommen. Er trat zurück – sein Stuhl stand auf der Bühne neben dem Chor – als Sharon vorwärts schwebte, nicht menschlich, eine Göttin, Tränen in den schönen Augen, als sie die Menge erblickte, die zu ihr gekommen war.
»Meine Teuren, nicht ich bin es, die euch etwas bringt, sondern ihr, die ihr mir mit eurem Glauben Stärke bringt!« sagte sie unsicher. Dann wurde ihre Stimme wieder stark; sie hob sich mit der Welle des Geschehens.
»Eben jetzt, als ich über die See zum Ende der Welt hinsah, erblickte ich ein Omen für uns alle – eine Feuerzeile, geschrieben von der Hand Gottes – eine herrliche Sternschnuppe. So hat er uns sein Kommen mitgeteilt und uns geboten, bereit zu sein. Oh, seid ihr bereit, seid ihr bereit, werdet ihr bereit sein, wenn der große Tag kommt –«
Die Gemeinde wurde von ihrem lyrischen Ernst gepackt.
Doch draußen gab es weniger fromme Seelen. Zwei Arbeiter waren mit dem Polieren der lackierten Holzsäulen fertiggeworden, als die ersten Besucher kamen. Sie schlüpften hinaus, auf die Promenade, und setzten sich auf das Geländer, erfreuten sich an der Abendkühle und unterhielten sich ein wenig mit dem Anhören der Predigt.
»Gar nicht schlecht, das Frauenzimmer. Den Reverend Golding in der Stadt drin steckt sie ein«, sagte der eine Arbeiter; er zündete sich eine Zigarette an und hielt sie beim Rauchen in der hohlen Hand.
Der andere ging auf den Zehenspitzen zur Tür, um einen Blick hineinzuwerfen, und murmelte, als er zurückkam: »Ja, und sieht fabelhaft aus. Aber, trotzdem, ich will Dir mal sagen, was ich meine: Frauen sind ja ganz richtig, an ihrem Platz, aber um das ganze Religionsgeschäft da auszudenken, dazu gehört doch 'n richtiges Mannsbild.«
»Na, die ist aber ganz tüchtig«, gähnte der erste Arbeiter, seine Zigarette wegwerfend. »Wollen gehen, was? Wie wär's mit 'nem kleinen Glas Bier? Wir können da weitergehen und dann vorn rauskommen, glaub' ich.«
»Schön. Du zahlst?«
Die Arbeiter entfernten sich, dunkle Gestalten zwischen der See und den Türen, die in den hellerleuchteten Zuschauerraum führten.
Die weggeworfene Zigarette blieb in den ölgetränkten Lappen liegen, welche die Arbeiter auf der Promenade hatten fallen lassen, neben den dünnen Wänden des Heiligtums. Ein Lappen glimmte am Rand, wie ein Würmchen, dann entzündete er sich zu einer emporschießenden Flamme.
Sharon redete begeistert: »Was könnte es Schöneres geben, als ein Heiligtum wie dieses, erbaut über dem Schoß der wogenden Tiefen? Oh, denket daran, was die mächtigen Wasser in der Heiligen Schrift bedeutet haben! Der Spiegel der Wasser, über dem sich der Geist des allmächtigen Gottes bewegte, als die Erde nichts weiter denn wirbelnde und chaotische Finsternis war! Jesus taufte in den süßen Wassern des Jordans! Jesus wandelte auf dem Wasser – das könnten wir auch heute, wenn wir nur seinen Glauben hätten! O lieber Gott, stärke unseren Glauben, schenk uns Glauben, gleich deinem eigenen!«
Elmer, der lauschend dasaß, war gerührt wie in seiner ersten Bewunderung für sie. Er war ihrer Lyrismen so müde geworden, daß er sich fast diese Müdigkeit eingestanden hatte. Aber heute abend empfand er wieder ihre Fremdartigkeit und war voller Demut. Er sah ihren schlanken Rücken, der in weißem Satin schimmerte, er sah ihre herrlichen Arme, die sie diesen Tausenden entgegenstreckte, und in heißem, heimlichen Stolz weidete er sich daran, daß diese von so vielen geschaute und verehrte Schönheit ihm ganz allein gehörte.
Dann bemerkte er etwas anderes.
Von dem Weg draußen kam durch eine der Türen, die auf die Promenade gingen, ein Rauchwölkchen herein. Er fuhr zusammen; fast wäre er aufgesprungen; er fürchtete eine Panik hervorzurufen; er blieb sitzen, sein Hirn wurde weich und wirr vor Entsetzen, bis er den Ruf »Feuer – Feuer!« gellen hörte, das ganze Publikum und den Chor aufspringen sah, alles schrie – schrie – schrie – das dünne Türgewände war hell erleuchtet, die Flammen stiegen fächergleich zum Dach empor.
Nur an Sharon dachte er, an Sharon, die im allgemeinen Entsetzen wie eine Elfenbeinsäule dastand. Er raste zu ihr. Er hörte sie beschwörend rufen: »Fürchtet euch nicht! Geht langsam hinaus!« Sie drehte sich zum Chor um, der entsetzt von seinen Sitzbänken floh. Sie rief: »Fürchtet euch nicht! Wir sind im Tempel des Herrn! Er wird euch kein Leid geschehen lassen! Ich glaube! Habet Glauben! Ich werde euch sicher durch die Flammen führen!«
Doch sie hörten nicht auf sie, strömten an ihr vorbei, stießen sie zur Seite.
Er packte ihren Arm. »Komm hierher, Shara! Die Tür hinten! Wir werden hinunterspringen und ans Land schwimmen!«
Sie schien ihn nicht zu hören. Sie schleuderte seine Hand weg und flehte weiter, ihre Stimme raste in wahnwitziger Überzeugtheit: »Wer will dem Herrn der Heerscharen vertrauen? Jetzt werden wir unseren Glauben auf die Probe stellen! Wer will mir folgen!«
Da zwei Drittel der Zuhörer sich zwischen der Küstenseite und dem Feuer befanden und die großen Türen, die auf die Promenade führten, zahlreich waren, gelangten die meisten sicher hinaus – nur ein Kind nicht, das zerdrückt, und eine ohnmächtig gewordene Frau, die zertreten wurde. Aber vor der Bühne schlugen die Flammen, vom Seewind getrieben, durch die Dachsparren hinauf. Der größte Teil des Chors und des Publikums war vorne entkommen, aber alle, die jetzt hinten waren, waren abgeschnitten.
Er faßte wieder Sharons Arm. Mit vor Entsetzen heiserer Stimme schrie er: »Um Gottes willen, hinaus! Wir können nicht warten!«
Sie hatte eine wahnsinnige Kraft; sie schleuderte ihn so kräftig weg, daß er gegen einen Stuhl fiel und sich das Knie verletzte. Rasend vor Schmerz, sinnlos vor Angst, tobte er: »Du kannst dich zum Teufel scheren!« und galoppierte davon, die letzten, geängsteten Chormitglieder zur Seite stoßend. Er blickte zurück und sah sie, ganz allein, das weiße Kreuz, das neben der Kanzel gestanden war, emporhaltend, ruhig vorwärtsschreitend, ihre Gestalt hob sich hell von der Flammenwand ab.
Alle Chormitglieder, die nicht davongekommen waren, besannen sich auf die kleine Tür hinten oder errieten sie; das taten auch Adelbert und Art Nichols; alle drängten sich gegen sie.
Die Tür ging nach innen auf – nur ging sie nicht auf, da alle armen Opfer gegen sie schoben. Vor Entsetzen heulend sprang Elmer unter sie, boxte sie zur Seite, schlug ein Mädchen nieder, das ihm im Weg stand, riß die Tür auf und kam hinaus … der letzte, der einzige, der durch sie hinauskam.
Er erinnerte sich nicht gesprungen zu sein, aber er fand sich in der Brandung, verzweifelt auf das Land zuschwimmend, schrecklich frierend, schrecklich behindert durch seine schweren Kleider. Er arbeitete sich aus seinem Rock heraus.
In der Brusttasche war Lily Andersons Adresse, die sie ihm, bevor sie gegangen war, an diesem Morgen gegeben hatte.
Die See schien in der Nacht, obgleich sie jetzt von den Flammen darüber schimmerte, in schwarzer Blindheit unendlich zu sein. Die Wellen warfen ihn zwischen die Pfähle; ihr modriger Schlamm fühlte sich in seinen wahnsinnigen Händen wie Schlangen an, die Muscheln zerschnitten seine Handflächen. Doch er arbeitete sich unter dem Quai heraus, arbeitete sich an Land, und während er schwamm und keuchte, wurde das Meer um ihn immer blutroter. In Blut schwamm er, in Blut, das eiskalt und wild bewegt war und in seinen Ohren toste.
Seine Knie griffen Sand, er kroch hinaus, inmitten einer kreischenden, zerfetzten, vom Wasser aufgeweichten Menschenmenge. Viele waren vom Promenadengeländer hinuntergesprungen und kämpften noch mit der Brandung, jammernd, elend. Ihre nassen, leichenartigen Köpfe waren in der Glut deutlich zu sehen; der Quai war nichts weiter als ein Gerippe, ein Käfig, rund um brodelnde Flammen und winzige Gestalten, die noch immer von der Promenade hinuntersprangen.
Elmer lief ein Stückchen in die Brandung hinaus und zog eine Frau herein, die schon sicheren Grund gefunden hatte.
Mindestens dreißig Leute, die sich schon selbst gerettet hatten, waren von ihm gerettet worden, als die Reporter zu ihm kamen; er mußte innehalten und die Ursache des Feuers erklären, die Kosten des Heiligtums, die Höhe der Versicherung, die Größe des Zuhörerraums, die Anzahl der von Miss Falconer während aller ihrer Campaigns geretteten Seelen – und daß er im Begriff gewesen sei, sowohl Miss Falconer, wie auch Adelbert Shoop zu retten, als diese von einem herabstürzenden Balken zerschmettert worden wären.
Hundertelf Leute starben in dieser Nacht, unter ihnen alle Mitglieder der Evangeliumsmannschaft außer Elmer.
Elmer selbst war es, der in der Dämmerung Sharons Leiche auf einem Bodenbalken fand. Weiße Satinfetzen klebten an ihr, in ihrer verkohlten Hand war noch immer das verkohlte Kreuz.