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Das Kind unter den Monaten

Schon lebt sein Enkel, und die Singvögel singen im Wald. Als ich vor zwei Monaten auf den Gartenhof blickte, war alles voll Blättchen und freute sich. Die kleine Akazie trug einen grünen Lockenkopf, die Eberesche träumte von ihrem Korallenschmuck und kokett wiegte sich der Spitzenbaum in seinen neuen Valenciens; worüber die breitgewordene, mächtige Eiche lachte, tatsächlich! Der ganze Gartenhof vernahm es, jeder keimende Grashalm und ich bin sein Zeuge. Ich spreche so gern von Bäumen, ihre Äste tragen wirklich die prachtvollsten Spielsachen; – aus dem Walde kriegt mich so leicht keiner raus! Endlich steht das Kind der Monate auf dem Kalender. Nun stürmt die Welt vorwärts in die Sonne hinein: »Alle Vögel sind schon da, alle Vögel alle!« ... Endlich war er gekommen, der 1. Mai, der Messias der Monate. Ein weiches Herz birgt das Wort: Mai. Ein verheißungsvolles, schmeichelndes Wort, Buchstaben, die ganz reich in den Sommer geleiten. Das weiß der Himmel wohl und ist blauselig gestimmt. Ich vermag mich nicht mehr so schnell, wie der es kann, zu wandeln von Grau auf Himmelfarben, von Trübe auf Hell; ich meine: aus Weinen Lachen zaubern. Wir froren alle zu lange, um uns des gekommenen Sonnenstrahls willenlos hinzugeben, zu glitzern wie spielende Kinder, die nichts wollen und alles haben, aus denen Buddha wahrscheinlich das Nirwana schöpfte. Die Allerkleinsten hörte ich schon am frühen Morgen zwitschern, aber auch dazwischen den Hahn krähen, wenn auch nebelhafter wie gewöhnlich; er soll irgendwo zu Mittag gebraten auf dem Tisch serviert worden sein und sein Geist ist es, der die zurückgelassenen Hahninnen in Räson hält. Daß ich selbst auch Tiere verschlinge, mit Vorliebe Fleisch esse, habe ich mir im ganzen Leben bis heute noch nicht verzeihen können! Uns Menschen gelüstet sogar nach raffinierten, verwesten Tiergerichten, lassen es nicht gut sein damit, das Tier, wie es das Tier zu tun pflegt, frisch von der Natur zu holen und sich munden zu lassen. Wir rupfen zunächst der kleinen, geschlachteten Taube die schimmernden Federn aus, reißen ihr die Eingeweide aus dem noch warmen Leibe, das Herz, das Herz! – Legen den beraubten, kleinen Vogel, das kopfnickende, freundlich grüßende, arglose Tierchen in die Bratpfanne und schmoren es. »Bitte, unterbrechen Sie mich nicht«, ich weiß, die Kannibalen sind beinahe ebenso grausam wie wir, aber immerhin tanzen sie um ihr Opfer einen frommen – wenn auch gespickten – Freudentanz, zünden um ihr leckeres weißes Menschgericht allerdings ein Hochfeuer an, bis es Kruste bekommt. Keineswegs liegt mir daran, die Menschenfresser zu verteidigen, aber ich möchte dennoch erwähnen, daß einige Stämme der Menschenfleischgenießer vom Aberglauben beseelt sind, mit dem Kotelett des weißen Mannes auch seine Intelligenz zu vertilgen. Der große Kannibalengötze mag ihnen ihr Ausreden gesund erhalten. Ja, es scheint, wir bedürfen beständig Gegengifte. Fleisch braucht Fleisch. Früchte erscheinen uns als etwas Totes, wahrscheinlich, weil der Apfel einst den Tod in die Welt brachte. Wir sollten uns nicht kopfscheu machen lassen; die Frucht ist ebenso wie Mensch und Tier aus lebendigem Fleisch und Blut, wie überhaupt alles lebendig ist in der Welt. Und selbst der verführerische Apfel, die Birne, der Pfirsich, die Aprikose, die Kirsche, die Orange, die Feige, die Dattel, die Drillingschwestern: Himbeere, Erdbeere, Brombeere; zuguterletzt die Banane, außerdem die mannigfachen Gemüse: Weißen und roten Kappes, Rosenkohl, Mohrrüben, der Spargel und seine adligen Bräute, die grüne Bohne und die Wachsbohne; den Spinat hätte ich beinahe vergessen, Wirsing, Erbsen und Linsen (mit gerösteten Brotwürfeln), Gurken und Radieschen, Meerrettich und noch gemüserlei sollten uns wirklich mit Kartoffelbeilage genügen zum Mahle. Hinter meinen vegetarischen Aufzeichnungen bitte keinen Obststand in der Markthalle zu vermuten; meine Erzählung, die in der Anlage gut endet, beabsichtigt keineswegs der Reklame zu dienen. Alles, alles ist lebendig in der Welt, und dieser 1. Mai bringt mir wiederum neue Beweise. Ich liebe die Welt so und bedauere, daß die internationale Bewegungsfreiheit immer nur an mir vorbeischwebt. Sie kostet Geld. Der Mitmensch fürchtet, im Falle er mir spende, ich nicht mehr schaffen würde – zumal die Lektüre meiner Werke seinen Tag ausfüllt. Ich bin ein Vogel, aus bunter Luft geblasen, und wer noch nie die Wirkung der frischen Luft erlebt hat, der sollte sich selbst von ihrer Beere überzeugen, mir am Morgen einmal begegnen, berauscht von der goldschäumenden Himmelstraube. Ich fliege ausdauernder wie der Zugvogel, die Flügel allein machen es ja nicht; der Odem ist's, der in Schwung gesetzte Odem, der Flügelschlag des Blutes, das Auflösen des Gehirns, die Hingabe zum Herrgott. Man muß ja durchaus nicht immer was denken wollen! Odem ist Kraft! Und Ursünde: Nicht zu atmen. »Tugend« aber, am Lebendigen mitzuwirken, also zu atmen in gleichmäßigen Zügen. Die Fakire tun nichts anderes. Einer im hohen Turban sagte mal zu mir, ich sei zur Eiszeit eine Möwe gewesen; darum erwache ich manche Nacht durch meinen eigenen Schrei. Man sollte das im Grunde respektieren. Mein Zimmernachbar hat sich nämlich beklagt, und mein Leben ist gefährdet. Was wir nicht verstehen, verachten wir und töten wir mit Vorliebe. Wer nie den hilflosen Baum jammern hörte beim Fällen, ihn bluten gesehen, oder die Adern des Felsens schwelen gesehen, schiebt man den Sprengstoff zwischen den Spalt seines Steins, sollte sich mit der Schöpfungsgeschichte näher befassen. Nie vergesse ich dich, junges, bebendes, weißes Kalb, da man dich zum Viehhof schleppte. Kein Engel verhinderte die messererhobene Gesellenhand.

Wo ist der Lebendigste?

Wer hätte auch nur je seinen Puls erfaßt im Stein der Vergangenheit! »Gott schuf die Erde, indem er Sich zusammenzog und damit Raum für sie gewann.« Der ehrwürdige Rabbuni Lurja, der Kabbalist, lehrte mich diese überirdische Weisheit. Also die Gottheit machte dem Weltall Platz, hinterließ ihm seine Atmosphäre, aus der alles wuchs und gedieh, selbst die Temperaturen, die Eigenschaften der Länder. Weltordnung halten: des Menschen einzige Mission. Atmen: Urgesetz, das die Schöpfung in Bewegung hält. Aus dieser Gott-These rissen sich die Worte: »Du sollst nicht töten!« Als die Furcht den Menschen hemmte, seinem Atem Einhalt tat, entstand der Tod. Tod bedeutet Auflösung, und Auflösung heißt im Gottgrunde: Zeitversäumen, und wir sollten uns befleißigen, uns solange wie möglich lebendig zu erhalten und ebenfalls den Nebenmenschen nicht, aus irgend einem feindlichen Gefühl getrieben, töten. Aber schonen für die All-Atemkraft des Schöpfungswerkes und ihrer All-Lebendigkeit. Und da jedes Ding Geschöpf ist, vom Mensch bis zum Kieselstein, und atmet, so sollte man gewissenhafter verfahren. Selbst vor Gott oder grade vor Gott ziemt es nicht, den Atem einzuhalten, denn Gott fürchten, heißt nicht Angst haben sollen vor Gott, aber ihn ehrfürchten, indem wir gläubig atmen im unendlichen Organismus, Ein- und Ausatmen mit der ewigen Odemschwinge. – Wie das Gold schmilzt das sterbende Auge, nichts lebt intensiver in der Welt als diese beiden leuchtenden Metalle. Die schmalste Kette aus Gold umfließt deinen Hals, eine Insel aus abertausend lebendigen Tropfen. Logisch gedacht, gibt es keinen Tod, nur eine Hemmung, eine Grube, die wir uns selbst unverschuldet graben durch die Einhaltung des Odems. Folge: die Auflösung!

Wo kreist Gott?

Er säuselt mahnend um unser Herz, früher wogte Er um seine Völker. Lehnt Er sich oder stützt sich an Ihm der von Ihm abgestoßene Raum, den Er Weltall nannte? Wie verhält sich Gott körperlich zur Welt, falls Er sich gestaltete? Rücklings oder seitlich? Anzunehmen angesichtlich. Sind wir nun abgewickelt von Gott oder werden wir getränkt von seiner Urader? Dieses bewiese die Methodik des Erdreichs. Also erkläre ich mir Gottes Allmacht zur Welt wie die Mutter zum Kinde. Er, der Wasser vom Land trennte, Himmel aufsteigen ließ und alles gut fand, wie soll ich träumender Mensch verstehen, daß sein Gleichnis aus geringerem Material geformt und seine Ebenbildseele Schaden erleidet, sich stößt und sich in eigener Haut fassungslos verirrt. Wir sind eben da, am Urkoloß der Welt zu arbeiten, sie in Kraft zu setzen, das Weltall lebendig zu halten, unausgesetzt zu atmen. Nur indem wir Edelegoisten dem Kosmos dienen, bleiben wir lebendig. Wer sich oder seinen Nebenmenschen tötet aus Liebe oder Feindschaft, wird zum Dieb an der Atemkraft, die das Schöpfungswerk unseres Vaters in Bewegung hält. Mein tiefer Atemzug verbindet mich mit dem Universum. Wie bewillkommne ich darum den 1. Mai, das Goldkind der Monate, mit seinem warmen Odem! O, ich liebe die erwärmte Luft und atme sie ein und aus im ewigen Zuge, trinke sie aus dem Kruge der Wolke, aus der Schale der Sterne, vom Gottgastgebertisch. Und die Winde, die über die Flüsse ziehen, tränken mich und die Stürme raube ich den Wettern zwischen Meer und Meer.


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