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St. Laurentius

Am Laurentius-Tag war in meiner Heimatstadt Prozession. Die katholischen Schulkinder hatten dann frei, brauchten nicht in die Schule zu gehen. Aber sie zogen weiße Kleider an und waren an dem Tage – Engel. Große und kleine von der obersten bis zur untersten Schulklasse. Meist fiel der Laurentius gerade auf den Sonntag, dann hatten wir anderen Kinder auch frei, »die lutherischen und die semitischen Kinder«, wie uns das Fräulein zu unterscheiden pflegte. Heute konnten wir wieder zugucken wie sich die katholischen Mitschülerinnen versammelten auf dem katholischen Kirchplatz um die zweitürmige Kirche hinter den rauschenden Kastanienbäumen. Einer blühte fromm, der andere stets ein bißchen stürmisch in den Spätsommer hinein, bis die soliden Kastanien kamen, die ab und zu dem wohlwollend lächelnden Kaplan auf die Schulter fielen. Wir paßten gespannt auf, wenn wir, mit unseren glitzernden Knippsteinchen auf der geputzten Erde hockend, Knippen spielten. Heute aber war ein ganz anderes Bild auf dem katholischen Kirchplatz zu schauen und dazu in den Straßen erst. Auf den Arabesken der Häuserfront, ja auf den Dächern lebensgefährlich saßen die Gymnasiasten und Realschüler. Meine wunderhübsche älteste Schwester tat immer mit; bewundernd betrachtete ich sie, wie couragiert sie am Schornstein gelehnt oben auf einem Schieferdach neben Julius Cäsar, dem intelligentesten Oberprimaner, saß, burschikos einen Grashalm zwischen den Lippen wippend. Die kleinen Schulbengels drückten fast die Fensterscheiben der unteren Etagen der Häuserreihen mit ihren hartnäckigen Rücken ein, manchmal klirrte es verhängnisvoll. Die ganze Stadt war im Grunde an der Prozession beteiligt, und die Lutherischen schienen zu Laurentius die Katholischen ganz gern zu haben; genau wie uns Juden am Passahfest wegen der Matzen. Alle Einwohner unserer Stadt Elberfeld machten sich auf die Beine, nur der Karl Krall kam auf seinem »klugen Hans« herbeigeritten, auf dem Rücken seines Pferdes, das rechnen konnte, wie ein mathematischer Professor.

Mein Papa hielt mich an seiner Hand ganz fest, er war äußerst gespannt und aufmerksam gestimmt, atmete heftig immerfort wie Sturmwind. »Ungezogenes Kind!« rügte er mich, »immer mußt du gerade Pipi machen, wenn der Baldachin kommt.« Er stürzte schleunigst mit mir hinter einen Obstkorb, der vergessen war, am Markttag fortzuschaffen. Die Prozessionskinder trugen alle weiße Rosenkränzchen im Haar, und die erwachsenen Engel lange weiße Schleier vom heiligen Gesicht bis zu den Füßen. Auch Nonnen kamen gewallfahrtet vom Kloster Neviges im Morgen nach Elberfeld zur Laurentiusfeier. Die katholischen Kinder flüsterten es sich geheimnisvoll gegenseitig ins Ohr. Die lutherische Religion hatte nämlich in meiner Heimat über die katholische Religion das Übergewicht gewonnen, und immer gab es Streitigkeiten zwischen den Lutherischen und Katholischen, zumal im Wuppertal die lutherische Sekte der Mucker lebte. Doch immer mußten es die Juden am Ende ausfressen, da sie, die kleinste Gemeinde zwischen den Christen, sehr inzüchtig lebten. Nur ming Papa hat nömmes wat gemerkt, ewwer wenn et tum Krawall twischen den Religionen kam, hat er eenfach mitgehauen. Auf mich hatten die Kinder der Mucker einen besonderen Pik, weil ich ein rotes Kleidchen trug. Auch machte ich immer die Augen so weit auf. – Das sähe so gelungen aus und sonderbar, so exotisch ... kam gewiß davon, daß ich immer von Josef und seinen Brüdern träumte. »Hepp, hepp«, riefen die lutherischen Kinder, bis die katholischen kleinen Mädchen es ihnen nachahmten. »Hepp, hepp«, erklärte mir der gute mitleidige Herr Kaplan, heiße nur »Jerusalem ist verloren«.

Einmal hatte Jesus Christus in der Nacht im Mond gesessen, ich schlief zwar, aber er kam im Traum zu mir ganz nahe an mein Bett und sagte: »Jerusalem ist nicht verloren, da es in deinem Herzen wohnt.« Das stärkte mich sehr gegen die Übermacht meiner Angreiferinnen. Und einmal rannte mir auf dem Heimweg Adele nach. Adele war eigentlich die, die sich am spöttischen Rufen am intensivsten beteiligte. Aber gerade sie umarmte mich plötzlich, und zwar mitten auf der Straße, schob ihren Arm in den meinen und ging mit mir unter meinem neuen kleinen kostbaren Regenschirm durch die nassen Gassen. Allerdings, sie kannte mein weißes Kleidchen mit dem Blätterstickereivolant. Kein Kind beschimpfte mich, wenn ich es in der Aula zur Sedanfeier trug. Adele ging immer, ach, so pauvre gekleidet, selbst in der Prozession; trug sie auch auf einem blauen Atlaskissen das Kinderherz Marias. Sie zeigte mir einmal das heilige Ölbild mit viel Goldflitter in der guten Stube ihrer dürftigen Wohnung. Ihr Vater befestigte es jeden Laurentius auf der Fahne. Adele sagte zu mir: »Ich habe dich am liebsten in der Klasse, und ich will niemals mehr hepp, hepp rufen.« Sie war nämlich beichten gegangen, und der Herr Kaplan hatte ihr eine Menge Rosenkränze aufgegeben zur Buße. – Und um Vergebung müsse sie mich bitten. Das gestand sie mir mit ihrem ganzen Herzen, mit ihrer ganzen Kraft und ihrer tränenüberströmten Liebe und der wirklichen Sehnsucht nach einer Freundin. Wir hüpften dann beide durch die Pforte in unser Gärtchen, aßen vom Süßholzbaum und pflückten die paar noch unreifen Haselnüsse. Da zeigte ich Adele unsere Eidechse: Karoline. Mein Vater hatte sie mir für die Grotte unseres Gartenzimmers gekauft. Zuguterletzt kletterten wir eng verschlungen heimlich die vielen Treppen des Treppenhauses bis in mein Schlafzimmer hinauf. Ich zog Adele mein weißes Kleidchen an, es stand ihr herrlich. Sie war ganz bleich, die Arme hielt sie beständig hoch empor, vom hageren Körper entfernt, daß es keinen Fleck bekomme. Ich schenkte ihr noch meine Bernsteinkette und meinen Vergißmeinnichtring und meinen Schokoladenschornsteinfeger und mein Fixierrotweinglas. Darum war Adele am kommenden Laurentiustag das schönste Engelchen im Zuge, und mein Vater betappte mein Händchen, um sich zu vergewissern – er glaubte doch – einen Augenblick, ich sei Adele gewesen. Die aber schritt majestätisch und glorreich, aus der blanken Trompete geblasen, zwischen zwei anderen katholischen Engeln, vor dem Baldachin im Zuge – wahrscheinlich ins Himmelreich.


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