Adolf Kußmaul
Jugenderinnerungen eines alten Arztes
Adolf Kußmaul

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Landpraxis und Landärzte.

Die Landpraxis stellt größere Anforderungen an die Kraft und Kunst der Aerzte, als die Stadtpraxis. Sie verlangt namentlich in den Bergen starke abgehärtete Menschen, die großen Strapazen bei Tag und Nacht und jeglichem Wechsel der Witterung gewachsen sind. In allen Fächern der Medizin soll der Landarzt gut gesattelt sein, mit gleicher Geschicklichkeit die innere, wie die äußere Medizin und die Geburtshilfe ausüben. In dringenden Fällen, auch der verwickeltsten Art, deckt ihn niemand mit schützendem Schilde, auf eigene Verantwortung muß er entschlossen handeln, wie der Soldat auf einsamem Posten in Feindesland. Es hat mir als Kliniker Nutzen gebracht, durch diese Schule gegangen zu sein, sie lehrte das Wesentliche und Notwendige von dem Unwesentlichen und Unnötigen unterscheiden, mit einfachen Dingen auszukommen und praktisch Erprobtes nicht für theoretisch Empfohlenes, Ungewisses hinzugeben.

Drei Seuchen, die Ruhr, der Darmtyphus und der Keuchhusten, suchten in den Jahren 1850–1853 Kandern und die Umgegend heim. Meine Erfahrungen über die Verbreitungsweise der beiden ersten Seuchen von einem Ort zum andern habe ich damals in den »Mitteilungen des badischen ärztlichen Vereins«, herausgegeben von Robert Volz, veröffentlicht. – Sehr bösartig verlief der Keuchhusten in den Schwarzwälder Hütten zur Winterszeit, weit schlimmer als in den Häusern der tiefer gelegenen Dörfer; Schuld daran trug wohl die größere Schwierigkeit, jene zu ventilieren.

Wo ich mich durch die Sektionen belehren konnte, führte ich sie unbedingt aus. Bei der aufgeklärten Bevölkerung des Hügellandes stieß ich nie auf Widerstand, nicht selten wurden sie ausdrücklich 465 von den Hinterbliebenen verlangt. Für mich dienten sie zur Kontrolle meiner Diagnose und Therapie, der Pfuscher in seiner selbstzufriedenen Unwissenheit bedarf ihrer nicht; den Angehörigen brachten sie häufig tröstliche Beruhigung, wohl auch die Mahnung, rechtzeitig geeignete Vorkehrungen gegen die Wiederkehr gleichen Leidens in der Familie zu treffen.

Da man wußte, welchen Wert ich auf Sektionen legte, forderte mich eines Tages der Gemeindediener eines kleinen, nahe am Rhein gelegenen Dorfes auf, ich möchte seine Tochter, die an einer chronischen, tuberkulösen Bauchfellentzündung litt und bei abgezehrtem Leibe einen riesig geschwollenen Bauch hatte, sezieren, sobald sie, wie ja vorauszusehen war, ihren Leiden erlegen sein würde. Die ganze Gemeinde sei neugierig, zu erfahren, was in diesem großen Bauche des Mädchens stecke. Obwohl auch ich die Kranke für verloren hielt, verwies ich ihm seine Rede: man dürfe nie von der Sektion sprechen, ehe der Kranke gestorben sei! Sie war ein Mädchen von 16 Jahren und genas, obwohl sie in einer elenden Hütte lag, schlecht verpflegt wurde und außer Lebertran kaum ein Arzneimittel nahm. Dieser Fall der in der Regel tödlich verlaufenden Krankheit war der erste, den ich spontan heilen sah; ich habe später ähnliche »Naturheilungen« beobachtet: die Krankheit heilte ohne jede Behandlung mit Medikamenten, Hydrotherapie oder chirurgischen Eingriffen; als unumgänglich notwendig erwies sich nur ruhiges Liegen und passende Ernährung. Wie wohl angebracht meine Vorsicht gegenüber dem Gemeindediener war, hat der unerwartet günstige Verlauf der Krankheit gelehrt. Welche Fülle von Spott hätte sich über den sektionslustigen jungen Doktor ergossen, wenn er begierig zugesagt hätte, den Wunsch der Gemeinde zu erfüllen!

Im 4. Hefte des Archivs für physiologische Heilkunde von 1852 habe ich zwei interessante, in Kandern gemachte Beobachtungen jener akuten vielfachen Knochenentzündung veröffentlicht, die erst zwei Jahre später durch die Epoche machende Abhandlung von Chassaignac als akute Osteomyelitis allgemein bekannt wurde: einen Fall mit Ausgang in Genesung, den andern mit tödlichem Verlaufe und Sektionsbefund.

466 In den Dörfern des Hochblauen ist es mir nur einmal gelungen, die Erlaubnis zur Vornahme einer Leichenöffnung zu erhalten. Sie geschah unter Umständen, die ich schildern will, da sie für Ort und Leute charakteristisch waren. Der Dorfschreiner von Vogelbach zeigte mir persönlich an, daß seine Frau gestorben sei. Ich hatte sie nur einmal besucht. Eine hitzige Krankheit hatte sie in wenigen Tagen weggerafft; es lag mir viel daran, die Richtigkeit meiner Diagnose: Darmtyphus, an der Leiche zu kontrollieren. Der Schreiner war in jungen Jahren in der Fremde gewesen und deshalb etwas weniger in Vorurteilen befangen als die anderen Vogelbacher, aber alles Zureden nützte nichts. Vergeblich setzte ich ihm guten Wein vor, rühmte seine Weltkenntnis und große Einsicht, er blieb meinen Vorstellungen unzugänglich, bis ich endlich seine schwache Seite entdeckte. Ich versprach, ihm das Honorar für meinen ärztlichen Besuch zu erlassen, worauf er einwilligte. Am folgenden Morgen ritt ich nach seinem Dorfe hinauf. Als ich seinem Hause nahe kam, erhoben zwei erwachsene Töchter, die auf mich gelauert hatten, ein großes Geschrei, unklugerweise hatte er ihnen unsere Verabredung mitgeteilt. Er selbst war schwankend geworden, doch hielt er schließlich seine Zusage und führte mich ins Haus. In der Wohnstube saß ein alter Schwarzwälder, ein hausierender Zunderhändler, bei einem Gläschen Schnaps. Die Töchter hatten ihm erzählt, was mich herführe und unwillig rief er dem Schreiner zu: »He, Schriner, Ihr werdet doch bigott Eure Frau nit ufschnide lo (aufschneiden lassen)? Das dürft Ihr der Seligen nit z'leid tun!« Der Schreiner aber blieb fest. Wir gingen ins Nebenzimmer, wo sich meine Diagnose richtig erwies. Als ich aber mit dem Schreiner wieder herauskam und das Haus verließ, rief uns der alte Zunderhändler giftig nach: »Schriner, Euer Dokter is e junge (ein junger), er will an Eurer Frau lehre (lernen), die alte Döktere bruche d'Lüt nit ufz'schnide (brauchen die Leute nicht aufzuschneiden)!« Mit diesem Pfeil im Busen ritt ich nach Hause.

 

In den drei Aemtern Lörrach, Schopfheim und Müllheim praktizierten genau ein Dutzend Aerzte. Der angesehenste und einer 467 der besten des Landes war Physikus Dr. Zeller in Lörrach. Ich hatte seine Bekanntschaft schon als Militärarzt im Winter 1848/49 gemacht, er war mir gewogen, und ich mußte ihm, nachdem ich mich in Kandern niedergelassen hatte, noch einige Monate vor seinem am 18. Dezember 1851 erfolgten Tode die Brust untersuchen, über den Zustand seiner Lungen Aufschluß geben, auch versprechen, wenn die Zeit dazu gekommen, als treuer Kollege seinen Leib sorglich zu obduzieren, was ich redlich ausführte. Er litt schon seit langen Jahren an Tuberkulose der Lunge, kompliziert mit Erweiterung der Bronchien. Sein Nachfolger wurde Dr. Sauerbeck, vorher langjähriger Badearzt in Rippoldsau, ein angenehmer, strebsamer und ehrenwerter Kollege.

Zeller starb, kaum älter als 50jährig, unverehelicht; seine große Gewissenhaftigkeit hatte ihn abgehalten, an sein unsicheres Los das Schicksal eines Weibes zu binden. In seinem letzten Willen vermachte er fast sein ganzes, in seinem Berufe erworbenes Vermögen zu wohltätigen Zwecken und hat sich dadurch im badischen Lande ein gesegnetes Andenken geschaffen. Ein Drittel, über 17,000 fl., diente zur Stiftung einer Unterstützungskasse für bedürftige Witwen und Waisen badischer Aerzte, ein zweites vermachte er der Anstalt zur Rettung sittlich verwahrloster Kinder, das letzte dem Spital in Lörrach, seinem Geburtsort Heidelsheim und der Landesirrenanstalt Illenau.

Ein ausgezeichneter Arzt, ein Mann von Geist und Herz und angenehmen Formen, erfreute sich Zeller allgemeiner Beliebtheit. Von den witzigen Aeußerungen Zellers verdient eine, die in Lörrach großes Vergnügen bereitete, aufbewahrt zu werden. Ein kleiner Postbeamter litt an einer unheilbaren Krankheit, die sich seiner Behörde zu sehr in die Länge zog. Ungeduldig verlangte sie von ihm, als Physikus, eine bestimmte Angabe über den endlichen Abschluß der Krankheit. Zeller bedauerte im höflichsten Kurialstil, daß die Medizin keine so präzisen Abfahrtsstunden habe, wie die großherzoglich badische Post.

Neben Zeller und dem geistreichen Dr. Kaiser praktizierte in Lörrach als dritter Kollege noch ein großes Original, Dr. Brodhag. 468 Da die heutige, nivellierende Zeit so seltsame, scharf ausgeprägte Persönlichkeiten nicht mehr hervorbringt, will ich seiner kurz gedenken. Er glich einem alten Husarenmajor, trug einen martialischen Schnurrbart und war ein strammer Reiter. Das Publikum holte ihn vornehmlich in ganz verzweifelten Fällen. Wenn keiner seiner Kollegen mehr wagte, mit Brechmitteln und Aderlässen einzugreifen, wagte es sicher noch der Doktor Brodhag. Ging dann der Tod an dem Kranken vorüber, wie dies vorkam, so war sein Ruf auf lange hin wieder gesichert. In der Medizin, wie in der Politik, hielt er nichts von halben Mitteln. Bei einer Volksversammlung in den Revolutionsjahren schwang er auf der Rednerbühne eine Sense, die nach seiner Angabe zur Kriegswaffe geschmiedet worden war, und schwur, so wahr er Brodhag heiße, dem Menschen, dem sie durch den Leib fahre, helfe kein Doktor mehr. »Gott straf' mich,« schrie er, »wollt Ihr die Freiheit erringen, so greift zur Sense!« Nach dem Aufstand zur Rechenschaft gezogen, wurde er zu längerer Haft verurteilt. Wieder frei geworden, kehrte Brodhag zu seiner Gattin heim, mit der er in kinderloser Ehe lebte. Während seiner Gefangenschaft war Meister Schmalhans im Hause eingezogen, und das Publikum, das früher so häufig seinen Rat geholt, hatte sich verlaufen. Wochenlang kam niemand, finster brütete er vor sich hin. Endlich erscheint ein Bauer vom Lande, die Frau empfängt ihn, heißt ihn warten und bringt ihrem Gatten die frohe Botschaft. Dieser aber befiehlt kurz angebunden, der Bauer solle warten. Die Frau, an blinden Gehorsam gewöhnt, hält den Mann mit allerlei Ausflüchten im Wartezimmer hin. Zuletzt wird der Bauer ungeduldig; sie faßt sich ein Herz und meldet es dem strengen Gebieter mit flehenden Worten: »Lieber Brodhag, der Bauer drängt und der Metzger hat eben die Rechnung geschickt und verlangt Bezahlung!« – »Laß das Pferd satteln!« herrscht er sie an. Beruhigt verkündet sie dem Bauern: »Der Doktor läßt eben satteln, somit wird er gleich zur Hand sein.« – Das Pferd ist bald gesattelt, der Doktor geht die Treppe in den Hof hinab und steigt auf. Der Bauer eilt ihm nach und verlangt Bescheid. »Verfluchte Kanaillen!« ruft er ihm zu, »habt ihr Bauern den Brodhag so lange auf euch warten lassen, so sollt 469 ihr jetzt auch auf den Brodhag warten.« Damit reitet er davon. – Es währte nicht lange, und der tolle Doktor erfreute sich wieder seiner alten Kundschaft.

Wunderbare Kuren wurden von einem alten, klugen Arzte in Schliengen erzählt, der von beiden Ufern des Oberrheins, aus dem Elsaß und Baden, einen außerordentlichen Zulauf hatte. Er sollte einem Bauern in Haltingen einen kranken Magen herausgeschnitten und durch einen Kalbsmagen ersetzt haben. Seitdem verschmähe der Geheilte die »Schüfeli« (Vorderschinken), sein früheres Leibessen, und halte sich nur an grünes Gemüse.

Diese merkwürdige Geschichte, die mancher ehrliche Wälder glauben mochte, war vermutlich von dem Kanderer Bretzelibeck ersonnen worden, der um scherzhafte Einfälle nie verlegen war. Einem Bauern aus dem nahen Hammerstein an der Straße nach Basel, einem albernen Menschen und großen Pfuscher in der Tierarzneikunde spielte er eines Abends übel mit. Der Quacksalber saß im Weinhaus und prahlte vor den Gästen mit seinen glänzenden Kuren. Der Bäcker erhielt davon Kunde, eilt in die Weinstube und fragt den Quacksalber: »Wißt Ihr schon, was dem Apotheker für eine unselige Verwechslung mit Euern Rezepten passiert ist? Ihr habt heute zwei Rezepte verschrieben, eines für einen Kanarienvogel und eins für eine Kuh. Man hat die Arzneien verwechselt, dem Kanarienvogel hat es, Gott sei Dank, nicht geschadet, aber die Kuh ist krepiert.«

Man sieht, der launige Geist Hebels lebte noch fort in der Markgrafschaft. 470

 

 


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