Adolf Kußmaul
Jugenderinnerungen eines alten Arztes
Adolf Kußmaul

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Poliklinische Lehrzeit.

Nachdem ich ein Jahr lang klinischer Praktikant gewesen, rückte ich zum poliklinischen vor und erhielt als solcher das Stadtviertel am Schloßberg zugeteilt. – Wie schon erwähnt, stand die Poliklinik unter Puchelts Leitung, aber die poliklinischen Praktikanten durften innerhalb weiter Grenzen selbständig handeln; in schwierigen Fällen berief man einen der älteren Praktikanten oder den Assistenzarzt Dr. Höfle. Unerschrocken kurierten wir darauf los, bange Zweifel und Sorgen störten unsere Nachtruhe nicht; je unerfahrener der Anfänger, desto weniger fürchtet er die Schlingen und Fallen, die dem Arzte allenthalben gelegt sind. – »Als ich jung war,« seufzte Peter Frank, einer der erfahrensten Aerzte aller Zeiten, »fürchteten die Kranken mich, jetzt, da ich grau geworden bin, fürchte ich die Kranken.«

An einem schönen Dezembertag 1843 war mein Vater nach Heidelberg gekommen, und wollte die Aussicht vom Schlosse genießen. Wir stiegen den alten Fahrweg hinauf – der neue wurde erst 30 Jahre später angelegt – und mit Selbstgefühl wies ich auf die Hütten und Häuser rechts und links. »Seit kurzem,« erzählte ich ihm, »besorge ich die Kranken dieses Stadtviertels als wohlbestallter Poliklinikus. Frei nach Schiller darf ich singen:

»Dies alles ist mir untertänig,
Ich ordiniere hier nicht wenig,
Gestehe, daß ich glücklich bin!«

»Du ordinierst hoffentlich nicht allein.« – »Ganz allein,« erwiderte ich stolz. – »Und du fürchtest dich nicht?« – »Vor wem sollte ich mich fürchten. Kein Mensch tut mir etwas.« – »Aber du den 259 Menschen. O Gott, deine armen Kranken!« – Aergerlich rief ich aus: »Drei Wochen schon bin ich der Bergarzt, und es ist mir noch niemand gestorben.« – »Das wird schon kommen,« warnte er.

Mein Ruf verbreitete sich rasch. Nach einigen Wochen drang er schon über die Neckarbrücke. Ein Bote kam von Neuenheim: »Der Herr Doktor möchten recht bald den alten Jakob besuchen.« – Wie mir dies wohltat! Der höfliche Pfälzer würdigte mich des Doktortitels und des Pluralis majestatis. Ich versprach zu kommen. Zwar hatten die Neuenheimer keinen Anspruch auf meine poliklinische Behandlung, aber mit dem alten Jakob mußte ich eine Ausnahme machen. War er doch einst in besseren Zeiten der Kneipwirt der Curonia gewesen, des Korps der Kurländer, als er noch die Schenke zum Steinbruch an der Neuenheimer Landstraße besessen hatte. Das Korps und die Schenke waren eingegangen, der Alte bewohnte jetzt ein Häuschen an der Ziegelhäuser Landstraße.

Ich fand den Jakob im Bette und stellte die Diagnose »Pneumonia notha«, zu deutsch, »unechte Lungenentzündung«. – Die Bezeichnung ist nicht mehr gebräuchlich, weil sie lächerlich ist; mit demselben Rechte könnte man eine Stecknadel eine unechte Nähnadel nennen; wir bezeichnen die Krankheit heute als »Bronchitis capillaris acuta« und verstehen darunter eine Entzündung der feinsten Bronchien oder Luftröhrenäste; sie ist ein gefährliches Ding, besonders für alte Leute mit abgenützten Lungen. Es stand schlimm um den Alten, aber ich vertraute auf Hufelands »Enchiridion medicum, das Vermächtnis 50jähriger Erfahrung« eines großen Meisters, das benützteste Handbuch der Heilkunde jener Zeit. Zur Vorbereitung auf die poliklinische Praxis hatte ich es in den Ferien durchstudiert. Darin standen in Reih und Glied die Krankheiten mit ihrem Signalement und dahinter gute Rezepte, sie zu kurieren. Ich verordnete dem Alten Senega und Goldschwefel, verhieß ihm Genesung und tat noch ein übriges zu Hause, indem ich den »kleinen Sobernheim« zu Rate zog, das beliebteste Handbuch der Arzneimittellehre bei uns Klinizisten. Es gab außerdem einen »großen Sobernheim«, ein »Handbuch der praktischen Arzneimittellehre in tabellarischer Form, 4, 2 Teile«, 1836. Ueberhaupt war kein Mangel an 260 »pharmakodynamischer« Literatur. Das Erstaunlichste an zügellosen Phantasien leistete der Königsberger Kliniker Ludwig Wilhelm Sachs in den drei dicken Bänden des »Handwörterbuchs der praktischen Arzneimittellehre«, das er mit Fr. Phil. Dulk 1837–39 herausgab. Mein Vater besaß das Buch, ich habe es längst als Kuriosum an eine Bibliothek verschenkt.

Bei einem zweiten Besuche tags darauf lobte Jakob meine Mittel, doch weniger sein Befinden. Er bat um kräftigere Arzneien zur Stärkung seiner Lebensgeister. Ich gab ihm China, Kampfer und Benzoe, und riet zu altem Wein, der besten Arznei für alte Schenkwirte. Diesmal konnte es nicht fehlen, hatte ich ihm doch die besten Tonica, Excitantia und Expectorantia ausgesucht.

Leider befiel mich in der Nacht eine heftige Mandelentzündung, die mich einige Tage an Bett und Haus fesselte. Da ich keine Nachrichten mehr aus Neuenheim erhalten hatte, mußte mein Kranker genesen sein. Mein erster Gang galt ihm. Ich betrat das Häuschen und das Zimmer, worin er gelegen hatte. Sein Bett war leer. Eine Frau in tiefer Trauer begrüßte mich: »Herr Doktor, Sie suchen den Jakob. Er ist bald nach ihrem letzten Besuche, mitten in der Nacht, aus diesem irdischen Leben geschieden. Gestern haben wir ihn beerdigt. Ihre Arzneien haben ihm bis zur letzten Stunde gut getan.«

Was hatte mein Vater gesagt? »Es wird schon kommen!« – Mein erster Patient hatte das Zeitliche gesegnet.

Betrübt wandelte ich über die Brücke nach Hause. Zum Glück tröstet die Jugend sich rasch. Mir fiel eine Geschichte ein, die sich nach meines Freundes Karl Wieland Erzählung in der Schlierbacher Poliklinik zugetragen hatte, sie war weit ärgerlicher für den Praktikanten als die meinige. Der Praktikant in Schlierbach, ein medizinischer Bramarbas, eilte eines Tages mit wichtiger Miene durch das Karlstor zu seinen Kranken, da wurde er durch einen Leichenzug aufgehalten; zwei Särge kamen hintereinander mit Geistlichen und Leidtragenden. Er stellte an den Letzten im Zuge die Frage, was das bedeute? – »Ei, Herr Doktor, das sind ja die beiden Patienten, die Sie behandelt haben.« – Wütend entgegnet er: »Ei was? Ich habe ja drei behandelt!« 261

 

 


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