Adolf Kußmaul
Jugenderinnerungen eines alten Arztes
Adolf Kußmaul

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Die Duldsamkeit der Väter.

Mit Wehmut gedenk' ich der schönen Tage, wo noch die milde Luft kirchlicher Duldsamkeit in der badischen Heimat wehte, und die Gebote der Bergpredigt höher standen, als die Dogmen der Konfessionen. In meiner Erinnerung hebt sich der Glaubensfriede der Väter wohltuend ab von dem wilden Gezänk und Fanatismus der Gegenwart. Eine Union der evangelischen Bekenntnisse, wie sie damals in Baden und in Preußen durchgeführt wurde, wäre heute nicht ausführbar. Zentrum und Antisemiten waren noch unbekannte politische Parteien, an den beiden Hochschulen wurde noch kein Jude grundsätzlich von den Studentenverbindungen ausgeschlossen, schon der Gedanke konfessioneller, evangelischer oder katholischer Verbindungen wäre dem Hohne der Gesamtheit verfallen gewesen. Noch immer wirkten Priester aus der Schule der Sailer, Wessenberg und Hirscher in der katholischen Kirche, und das flammende Zeichen des Syllabus hing noch nicht am Himmel.

Aus dieser guten alten Zeit wird in Karlsruhe erzählt, daß man nichts arges darin fand, wenn in den Räumen der dortigen Museumsgesellschaft Hebel, der Prälat der evangelischen Landeskirche, der katholische Dekan und der Stadtrabbiner eine Whistpartie zusammen spielten. Nur damals konnte man die wundersame Geschichte von den zwei Pfarrern im badischen Oberland für glaublich halten, die sich innig befreundeten, obwohl der eine den evangelischen Glauben bekannte und der andere den katholischen. In Liebe und Sanftmut belehrten sie einander mit so gutem 91 Erfolge, daß der evangelische katholisch und der katholische evangelisch wurde.

Mein Vater, ein evangelischer Rationalist, schloß, während er in Graben praktizierte, warme Freundschaft mit zwei Geistlichen der Umgegend, einem evangelischen von der Richtung des frommen Spener, und einem frommen katholischen. Sie bestand dauernd fort, auch nachdem er Graben verlassen hatte. Als er später nach Wiesloch versetzt wurde, kam er wieder in die Nähe seiner beiden theologischen Freunde. – Der katholische Pfarrer wohnte in dem Dorfe Rheinsheim am Rhein, vier Wegstunden von Wiesloch; er schrieb meinem Vater sofort, er wünsche seine ältesten Knaben zu sehen – wir waren 12, 10 und 8 Jahre alt – und erwarte uns zu Besuche. Unsre Mutter hing mir ein Täschchen über die Schultern, wir brachen auf, wanderten nach Rheinsheim, es war Herbst, wir waren gut bei ihm aufgehoben. Zwei Tage lang blieben wir im Pfarrhaus, speisten mit dem ehrwürdigen Herrn im Garten, zum Nachtisch brach er uns herrliche Pfirsiche vom Baum. Mit herzlichen Grüßen, die Taschen beladen mit süßem Kuchen, kehrten wir nach Wiesloch zurück. – Der evangelische Geistliche hieß Rutz, er war Pfarrer in Mauer, einem Dorf an der Elsenz, zwei Stunden von Wiesloch. Er war ein Mann von tiefem Gemüt und reicher Phantasie. Unter dem Namen Rudolphi gab er reizende Kindermärchen, Schneeglöckchen betitelt, bei Sauerländer in Frankfurt a. M. heraus. Sie erlebten drei Auflagen und sind nicht mehr aufzutreiben. Uns Kindern gefielen sie außerordentlich.

Die Aufklärer des vorigen Jahrhunderts prophezeiten, es komme bald die Zeit, wo die Kirche in der Schule aufgehen werde, aber ungeachtet unserer besseren Einsicht in den Bau und das mechanische Getriebe des Weltalls, hat sich die Kluft zwischen Wissen und Glauben mehr wie je erweitert. Die Hoffnung, daß die menschliche Einsicht sie mit der Zeit überbrücken werde, scheint aussichtslos, und der Abgrund zwischen Vernunft und Gottesglaube auf der einen Seite, Aber- und Unglaube auf der andern, ist von bodenloser Tiefe.

Wenn die Scheiterhaufen nicht mehr lodern, so ist dies nicht 92 das Verdienst der Kirche, und sollte der Atheismus die Herrschaft erringen, so würden die Jakobiner der Mutter Marianne von neuem Arbeit verschaffen; dennoch bestände der alte Gegensatz von Geist und Herz ungelöst fort. Die metaphysischen Bedürfnisse der Menschheit sind nicht minder groß, als die physischen. Die Philosophie hat nie den religiösen Hunger der Völker zu stillen vermocht, und in diesem Unvermögen der Wissenschaft wurzelt die Kraft und die Macht der Kirche.Ein Kaplan V. (Köln. Volksz., 2. März 1899) schreibt mir wenig Urteilskraft zu, weil ich die Geschichte von der gegenseitigen Bekehrung der zwei Pfarrer erzähle, die sich doch unmöglich habe zutragen können. Sie beweise nur, wie es in den Köpfen mancher Gelehrten aussehe, wenn es sich um die Religion handle. – Leider ersieht man hieraus, wie es in den Köpfen mancher Kapläne aussieht, wenn es sich um die Toleranz handelt. Der große Leibniz erzählt »zur Beförderung religiöser Duldsamkeit« die Geschichte der gegenseitigen Bekehrung zweier englischer Theologen, der Brüder Johann und Wilhelm Rainold, unter der Regierung der Königin Elisabeth. Johann wohnte in den spanischen Niederlanden und war katholisch geworden, Wilhelm lebte in England und war Protestant geblieben. Sie disputierten brieflich und zuletzt mündlich so lange, bis jeder vom andern überzeugt, Religion und Aufenthalt wechselte. Johann schrieb gegen die Idolatrie der römischen Kirche, Wilhelm bewies, daß die Lehre Calvins der Türkenreligion nahe verwandt sei (Guhrauer, Biogr. Leibnizens, Bd. 2., S. 350). 93

 

 


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