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Die pathologische Anatomie war in Deutschland, bis Rokitansky erschien, nicht mit demselben Eifer und Erfolg bearbeitet worden, wie in Frankreich und England, nur die Bildungsfehler hatten in Joh. Friedr. Meckel, dem Sohne, einen Forscher ersten Ranges gefunden. Darum war auch die Pathologie in Deutschland zurückgeblieben, sie hat aus den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts keine Leistungen aufzuweisen, die sich mit denen eines Laënnec, Bretonneau oder Bright messen dürfen. Mit Rokitansky erst gewann die pathologische Anatomie auch in Deutschland den durchgreifenden Einfluß auf die Pathologie, den sie bei den Franzosen und Engländern bereits errungen hatte; Rokitansky wurde, um mich des treffenden Vergleichs von Virchow zu bedienen, der Linné dieser Wissenschaft, und hat sie zum unentbehrlichen Bestande der praktischen Aerzte gemacht. Ganz aus eigener Beobachtung schöpfend hat er die Anomalien der Organe unvergleichlich scharf und bündig gezeichnet und sie den Aerzten geordnet vor Augen gestellt, wie Linné die Pflanzen. Sein Handbuch der speziellen pathologischen Anatomie (1842–1844) bedeutet einen Markstein in der Geschichte der deutschen Medizin und hat auf die ärztliche Praxis einen ungeheuren Einfluß ausgeübt. Leider verließ er in seinem später (1846) erschienenen Handbuch der allgemeinen pathologischen Anatomie die sichere Straße der nüchternen Beobachtung, die er bisher gegangen war, und schlug gefährliche Irrwege ein. Viele seiner Jünger folgten dem bewunderten Meister in die nebeligen Gebiete 377 der grundlosen Spekulation. Es bedurfte der Warnrufe Virchows, um die anatomische Forschung in die ihr gesteckten Grenzen zurückzubringen.
Wie Rokitansky das anatomische Haupt der jungen Wiener Schule geworden ist, so wurde sein Schüler Skoda ihr klinisches. Er verdankt seinen Weltruf den großen Verdiensten, die er sich um die physikalische Diagnostik erwarb, er schuf den wissenschaftlichen Boden, auf dem die Perkussion und Auskultation beruhen, die bisher nur grob empirisch geübt wurden, und hat sie überdies mit wertvollen neuen Zeichen bereichert. Dadurch hat er die Pathologie der Atem- und Kreislaufsorgane ungemein gefördert. Studenten und Aerzte strömten nach Wien, um bei ihm die Kunst der physikalischen Diagnostik und ihre sichere Verwertung zu erlernen. Er dirigierte seit 1840 eine eigene Abteilung für Brustkranke, wurde 1846 zum Professor ernannt und mit dem klinischen Unterrichte betraut. – Ich will es versuchen, die Reform, die wir Skoda auf dem Gebiete der physikalischen Diagnostik verdanken, dem nicht medizinischen Leser verständlich zu machen.
Laënnec und seine Schüler waren bestrebt gewesen, mit Hilfe des Beklopfens und Behorchens der Wände des Körpers Zeichen aufzufinden, die ohne weiteres bestimmte Krankheiten so kenntlich machen sollten, wie etwa das Zirpen die Grille oder der Wachtelschlag die Wachtel anzeigt. Das Tuberkelknacken sollte die Tuberkeln der Lunge verraten, das Knisterrasseln den Beginn oder die Lösung der Lungenentzündung, das Reibegeräusch die Entzündung von Brust- oder Herzfell. – Skoda zeigte das Verkehrte dieses Vorgehens, das nicht selten zu Irrtümern führte. Wenn die Schallerscheinungen vom normalen Verhalten beim gesunden Menschen abweichen, so bedeutet dies an sich zunächst nichts als ein verändertes physikalisches Verhalten der Organe, von denen sie ausgehen. Streng genommen ist deshalb die nächste Aufgabe der diagnostischen Verwertung der akustischen Symptome die: festzustellen, was für physikalische Veränderungen an diesen Organen vor sich gingen. Die zweite Aufgabe besteht sodann darin, die anatomischen Organveränderungen zu bestimmen, die den physikalischen zu Grunde 378 liegen. Zuletzt erst kommt es zur Diagnose der Krankheit, die zu den anatomischen Veränderungen führte. Ein einfacher Schluß aus dem akustischen Symptom unmittelbar auf die Krankheit ist nicht erlaubt und die Diagnose unter allen Umständen eine zusammengesetzte geistige Operation, die ihren Stoff drei verschiedenen Orten entnimmt, der Klinik, dem Leichenhause und der physikalischen Werkstätte.
Skodas Kritik beschränkte sich jedoch nicht auf die Diagnostik, wie sie bisher geübt wurde, sie erstreckte sich auf das ganze Gebiet der Pathologie und insbesondere auch der Therapie. Die Heilkunde in dem Zustande, worin sie sich damals befand, erschien ihm als ein Chaos, ein wüster Sumpf, aus dem nur zwei mit geordnetem, fruchtbarem Erdreich bedeckte Inseln hervorragten, die pathologische Anatomie und die physikalische Diagnostik. Im übrigen war sie ihm ein wirres Gemenge roher Beobachtung und Erfahrung, unerwiesener, widersprechender Lehrmeinungen, Vorschriften und Kurverfahren. Ueberall galt es, unbekümmert um die alten Schulsätze, die Medizin von Grund aus neu aufzubauen. Schonungslos legte er, im privaten Umgang mit seinen Schülern und in der Klinik selbst, die Lücken und Schäden der bisher geübten Heilkunst bloß.
Der Einfluß eines so scharfsinnigen Kopfes und unerschrockenen Denkers auf seine Schüler war ungeheuer; sie schrieben den Zweifel als obersten Wahrspruch auf ihr Banner, glaubwürdig war für sie einzig und allein, was Rokitansky und Skoda lehrten, und nur, was man in Wien mit eigenen Augen gesehen und geprüft hatte; was von außen kam, stieß auf Zweifel, selbst höhnischen Widerspruch, keine Ueberlieferung war ihnen heilig.
Auch die bedeutendsten Männer der jungen Schule trieben die Zweifelsucht ins Unglaubliche. In dem Hefte, das ich in Hebras Kurse niederschrieb, findet sich folgender Vortrag über die graue Färbung der Haut, die Argyria, die durch lange fortgesetzten innerlichen Gebrauch des Höllensteins (salpetersauren Silbers) entsteht: »An die Argyria, meine Herrn, glaube ich nicht. Das salpetersaure Silber wird im Magen sogleich zu Chlorsilber zerlegt und geht durch den Darm ab (wörtlich!). Man gab das Mittel in Wien 379 Epileptischen jahrelang, ohne daß die Haut sich gefärbt hätte. In Paris und Berlin hat man alle Augenblicke die Argyria aufzuweisen, vielleicht scheint in Berlin die Sonne schöner. Argyria? Dazu bitt' ich ein Fragezeichen zu machen.« Drei Monate nachher sah ich in Prag bei Oppolzer einen Fallsüchtigen, der lange das Silbersalz genommen hatte und tief grau auf der Haut geworden war, später noch viele. – Ob wohl die Kranken in Wien das verordnete Mittel lange genug eingenommen hatten?
Wenn wir das bei einem Hebra erlebten, wessen mußte man nicht erst bei den Kleinen im Geiste gewärtig sein.
Wir hatten die beiden Kinderspitäler besucht, das von Mauthner gegründete, woraus später das St. Annaspital erwuchs, und das Franzensspital in der Vorstadt Wieden; es war uns aufgefallen, daß wir weder hier, noch auf dem Leichentische des allgemeinen Krankenhauses jemals einen Fall von Diphtherie zu sehen bekamen, während wir sie bei uns zu Hause in Form von Croup, und Bronner in Paris in verschiedenen schlimmen Formen, oft zu sehen Gelegenheit gehabt hatten. Gegen Ende unsres Aufenthalts in Wien fragte ich einen Assistenten Rokitanskys, sein Name ist mir entfallen, ob die Diphtherie in Wien nicht vorkomme? worauf er die Gegenfrage an mich richtete, ob ich an diese französische Dichtung glaube?
Zwei hervorragende Vertreter der jungen Wiener Schule besorgten den ärztlichen Dienst in dem noch nicht lange eingerichteten Bezirkskrankenhause auf der Wieden: der feurige, in Galizien geborene Joseph Dietl als Primararzt und Friedrich Wilhelm Lorinser als Primarchirurg. Wir suchten sie in dem Hospital auf und wurden sehr artig von beiden empfangen. Dietl machte uns mit seinen Erfolgen bei der Pneumonie bekannt, die er ohne Aderlaß behandelte. Ein Jahr nachher veröffentlichte er seine bekannte Schrift: »Der Aderlaß in der Lungenentzündung,« die wesentlich dazu beitrug, die Blutentziehungen bei der Pneumonie abzuschaffen. Er versicherte uns bestimmt, daß eine erste Lungenentzündung niemals töte, wenn man sie ruhig ihrem natürlichen Lauf überlasse, eine Behauptung, die ich leider in dieser apodiktischen Fassung später nicht bestätigt fand. – Lorinser hatte 1845 in den österreichischen 380 Jahrbüchern seine Beobachtungen über die sogen. Phosphornekrose der Kieferknochen mitgeteilt und zuerst die schädlichen Einwirkungen der Phosphordämpfe in den Zündholzfabriken auf die Kieferknochen kennen gelernt; er zeigte uns zwei junge Mädchen mit diesem abscheulichen Leiden und zahlreiche Knochenpräparate. Lorinser, ein guter Chirurg und namentlich Orthopäd, war einer der größten Zweifler des jungen Wiens und bekämpfte auch gesicherte Glaubenssätze als Aberglauben, er sah bekanntlich in der allgemeinen Syphilis nichts als Merkurialismus, und bestritt die eigentümliche Art der Hundswut, über die wohl heute kein Streit mehr möglich ist.
Der Schritt von der grundsätzlichen Skepsis zum Nihilismus war nicht groß. Nur mechanische und äußere Eingriffe, wie sie die Chirurgen und Hebra bei seinen Hautkranken übten, galten für wirksam, die innere Heilkunst aber erschien vielen nur als Firlefanz, Wunder- und Aberglaube; die Aerzte, behaupteten sie, täuschten sich selbst oder andere, und die Erfolge, die sie ihrer Kunst zuschrieben, seien einzig das Werk der Naturheilkraft. Wie mächtig dabei der Glaube an Wunder und Autoritäten mitwirke, zeigten ja die Kuren der Homöopathen, der Wallfahrtsheiligen und Wundertäter aller Art. Derlei Behauptungen konnte man täglich hören, am beliebtesten war die Phrase: die innere Therapie ermangle der wissenschaftlichen Begründung, ohne Wissenschaft aber gebe es keine Kunst. Die gemeinste Erfahrung widerlegte diese hohle Redensart. Nicht nur die schönen Künste, auch die praktischen, wie die Kriegs- und Staatskunst, fanden eher ihre Meister als ihre Professoren.
Gerade die Anatomie, auf der die junge Schule ihr pathologisches Gebäude errichtete, schien den Nihilismus zu rechtfertigen. Mancher medizinische Schwächling sah mit Schrecken in der Leiche die Zerstörung der Organe durch die Krankheit. Die Heilkunst konnte einem Feinde nicht gewachsen sein, der die Kraft hatte, solche Verheerungen anzurichten. Kam es im Gegenteil ausnahmsweise vor, daß es der Sektion nicht gelang, die Todesursache aufzudecken, so gefiel man sich in der Klage, wie man glauben könne, ein unsichtbarer Feind lasse sich fassen und überwältigen?
381 Einige Schuld an solchen verzweifelten Anschauungen trugen die verunglückten Versuche Skodas, im Bunde mit dem befreundeten Chirurgen Schuh die entzündlichen Ergüsse in den Brustfellraum auf operativem Wege zu heilen. Aus ihren schlechten Ergebnissen zogen die Pessimisten den Schluß, man solle die Heilung der Brustentzündung ruhig der Natur überlassen, es müßte denn sein, daß der Eiter durchbrechen wolle und die Natur bei ihren Heilbemühungen doch nicht ganz geschickt verfahre; nur in diesem Falle sei chirurgische Hilfe nötig. Wir wissen jetzt ganz gut, warum Skodas und Schuhs Kuren mißlangen, und erzielen heute bei Vermeidung ihrer Fehler mit besserem Verfahren bessere Erfolge.
Bei vielen Jüngern Skodas war es geradezu Axiom geworden: Nichtstun sei das beste in der inneren Medizin. Nun ist es zwar nach Sokrates der Anfang der Weisheit, zu wissen, daß man nichts wisse; aber nichts zu tun, ist nicht der Anfang der Kunst. Wenn die gelehrten Aerzte dies nicht begreifen, so kann man es den Kranken nicht verübeln, wenn sie die gewünschte Hilfe bei ungelehrten Laien suchen, die sie ihnen bestimmt versprechen. Mit der feinen Diagnose und ihrer Bestätigung hinterher an der Leiche ist dem Kranken nicht gedient. Der Vorwurf, den die heutige Medizin der Schule Skodas macht, daß sie dem Rufe der wissenschaftlich gebildeten Aerzte beim Publikum Schaden gebracht und der Pfuscherei Tor und Tür geöffnet habe, ist nicht unbegründet. Man lese nur, wie der geistreiche Feuilletonist W. SchlesingerWiener Wochenschrift 1855, S. 827. das damalige Verhältnis zwischen »Arzt und Publikum« geschildert hat. Die Koryphäen der Schule gaben sich dazu her, Homöopathen im Konsilium die Diagnosen zu machen, die Behandlung der Kranken aber deren Gutdünken zu überlassen, obwohl sie die homöopathischen Mittel und Verdünnungen belachten.
Lehrer und Schüler vergaßen die eigentliche Aufgabe der Medizin: das Heilen. Damit sank die beste aller menschlichen Künste von ihrer Höhe tief herab. Es kam so weit, daß manche junge Aerzte beinahe mit größerer Neugierde der Bestätigung ihrer 382 anatomischen Diagnose als dem Erfolge ihres Kurverfahrens entgegensahen.
Bei einem Ausflug nach dem Kahlenberg ging mir diese Verkehrtheit nicht aus dem Sinn und ließ mich nicht ruhen, bis ich meinen Gefühlen poetischen Ausdruck verliehen hatte. So entstand das Gedicht, womit ich diese Betrachtung schließe.
Der Spaziergang.
Ging ein Wiener Mediziner Mit dem Freunde durch die Flur; Rief der Freund: wie hell und heiter Lacht der himmlische Azur! Sprach der Wiener Mediziner: Einen Himmel gibt es nicht, Nur vom irdischen Planeten Reflektiertes blaues Licht. Durch die Felder, durch die Auen Aus dem dunklen Buchenwalde Von des Berges stolzem Gipfel In des Waldes kühler Schenke Rief der Freund: wie wird mir plötzlich? Rief der Freund: wie herrlich kühlet |