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Der alte Naegele, wie wir ihn zum Unterschied von seinem Sohn und Nachfolger Hermann nannten, war der Senior der Fakultät und 1778 in Düsseldorf geboren. Sein Vater August Naegele war Direktor der dortigen kurpfälzischen medizinisch-chirurgischen Schule und verwendete ihn schon in früher Jugend als Prosektor und Repetitor. Nachdem er in Straßburg, Freiburg und Bamberg studiert und in Bamberg promoviert hatte, ließ er sich in Barmen nieder, wurde hier Physikus, erteilte Hebammenunterricht und beschäftigte sich vorzugsweise mit Geburtshilfe und Frauenkrankheiten. Die badische Regierung berief ihn 1807 als a. o. Professor für diese Fächer nach Heidelberg, betraute ihn mit der Leitung der Entbindungsanstalt und ernannte ihn 1810 zum Ordinarius. Er gehörte der Heidelberger Hochschule 44 Jahre an, schlug mehrere Berufungen nach andern Universitäten aus, 1829 eine nach Berlin, und starb am 21. Januar 1851.
Unter den Begründern der wissenschaftlichen Geburtshilfe nimmt Franz Karl Naegele den ersten Rang ein. Er hat wie kein anderer durch genaue Untersuchungen ihre anatomischen und physiologischen Grundlagen befestigt, ihre Pathologie anatomisch bereichert und ihre Methodik geschärft. – Seine Schriften über den Mechanismus der Geburt (1822), das normale weibliche Becken (1825), das schrägverengte und andere fehlerhafte Becken des Weibes (1839) sind Meisterwerke von unvergänglichem Werte.
Als praktischer Geburtshelfer galt zwar Naegele für einen 225 ängstlichen Operateur, doch hat er sich auch um die ausübende Geburtshilfe nicht wenig verdient gemacht. Er versah die Geburtszange mit einem ebenso einfachen als geschickten Schlosse, die »Naegelesche Zange« übertraf an Handlichkeit und Leichtigkeit alle andern. Mit Eifer verfocht er die Grundsätze des Wieners Boer, dessen schonendes, humanes Vorgehen er uns nicht genug rühmen konnte, und bekämpfte den sträflichen Mißbrauch, den manche Geburtshelfer seiner Zeit, namentlich der ältere Osiander in Göttingen, mit gewaltsamen Eingriffen in den normalen Geburtsvorgang trieben. Endlich bescherte er den Hebammen ein ausgezeichnetes Lehrbuch, das 11 Auflagen erlebte; der Geschichtschreiber der Geburtshilfe, Professor I. v. Siebold, rühmte es als ein treffliches Handbuch, das auch von Geburtshelfern mit Nutzen gelesen werde.
Naegeles Klinik diente nur zum Unterricht in der Geburtshilfe. Obwohl seine erste größere Schrift »Erfahrungen und Abhandlungen aus dem Gebiete der Krankheiten des weiblichen Geschlechts« (1812) mitteilte, nahm er in seiner Anstalt, vermutlich aus Mangel an Raum, keine andern Frauen als Schwangere und Gebärende auf. Das wenige, was wir Studenten von Frauenkrankheiten lernten, wurde uns in den beiden andern Kliniken gelehrt. Die großen, mit dem Bauchschnitt verbundenen Operationen, – insbesondere die Ovariotomie (das Herausschneiden des Eierstocks), die einige heutige Frauenärzte hundert und selbst tausendmal vornahmen, – galten damals, vor der Einführung der Antisepsis, für verbrecherische, zuchthauswürdige Wagestücke, weil sie fast sicher zum Tode führten, während sie heute in der Regel Heilung bringen.
Die Vorlesung unsres Meisters hielt auch die Schläfrigsten munter, er sprach frei, geistreich und witzig; jeden Gegenstand, auch den trockensten, wußte er unterhaltend darzustellen. Man hörte ihm mit demselben Vergnügen zu, wenn er die willkürlich aufgehellten Schemata der Geburtslagen des »symmetrischen« Baudelocque unter die überlebten Glaubensartikel der alten Geburtshilfe verwies, als wenn er die Geschichte der Geburtszange oder des Kaiserschnitts vortrug. Weil seine Rede so leicht und frisch dahin floß, konnte man meinen, er spräche heiter aufgelegt aus dem Stegreif, aber er hatte 226 sich stets sorgfältig auf das Kollegium vorbereitet. Gerne flocht er belehrende Erlebnisse in seinen Vortrag ein und erläuterte ihn durch Demonstrationen, wobei ihm zahlreiche Präparate aus seiner Sammlung zu Gebote standen. Ich erfreue vielleicht manche Leser, wenn ich aus meinem Kollegheft über Dystokien vom Sommer 1842 eine Probe zum besten gebe. Ich entnehme sie einem seiner Vorträge über die Mißstaltungen des Beckens, die den Geburtsakt behindern. Er handelte von dem Becken, das durch Knochenerweichung im spätern Leben verengt wird, »die Berliner nennen es das osteomalacische«, fügte er mit leisem Spotte hinzu. Ein solches Becken legte er uns vor, es war das erste dieser Art, in dessen Besitz er als Physikus in Barmen 1803 gekommen war, als die Stadt noch dem Herzogtum Berg unter kurpfälzischer Hoheit angehörte. An ihm beobachtete er zuerst die Verengung des Beckenausgangs, bisher war ihm nur dessen Erweiterung bekannt gewesen, wie sie bei dem, durch Rhachitis in der Kindheit verunstalteten Becken vorkommt. Die dramatischen Umstände, unter denen er sich das Präparat verschafft hatte, schilderte er mit folgenden Worten:
»Es stand 1803 in einem öffentlichen Blatte: ein Chirurgus Namens Peter Walker, habe mit einem Rasiermesser den Kaiserschnitt gemacht, Mutter und Kind tot geschnitten. Ob man in dem Herzogtum Berg Schindersknechte als Chirurgen hätte? Ich wurde von der Regierung beauftragt, die Sache zu untersuchen. Den Mann kannte ich als braven Chirurgen. Er war mein Schüler gewesen, und nun sollte ich ihn mit Gerichtsdienern und Soldaten heimsuchen.
»Bei der Untersuchung mußte ich hauptsächlich darauf sehen, ob der Kaiserschnitt angezeigt war oder nicht. Da gab der redliche Mann an: er hätte ihn gemacht wegen äußerster Beckenenge, denn er hätte seinen Fingen nicht durch den Beckenausgang bringen können. Ich hustete, gab Nasenbluten vor, ging hinaus, ließ ihn rufen und stellte ihm vor: der Beckeneingang sei so eng gewesen, denn nach dem damaligen Stande des Wissens war der Ausgang immer weit, sogar weiter als gewöhnlich, wie es auch bei dem rhachitischen Becken wirklich die Regel ist. Allein er ließ sich nicht irre machen und beteuerte 227 bei Gott und allen Heiligen, er könne keine andere Aussage machen.« »Nun gerieten wir, ich im Bewußtsein der Wissenschaft gegenüber dem ignoranten Chirurgen, der im Gefühle der Wahrheit seiner Sache, immer eifriger in Hitze. Wir stießen zusammen, die Töpfe gaben Scherben. Ich erklärte eine Ausgrabung für notwendig. – Gut! ich konnte und durfte der Aussage nicht glauben. – Der Totengräber wollte das Grab nicht finden, weil tiefer Schnee lag, bis ich es mit ihm machte, wie Jupiter mit der Danae.«
»Meine Herren, betrachten Sie jetzt das Becken – – Peter Walker hatte recht!«
In meinen letzten vier Semestern nahm mich Naegele als Assistenten. Ich trat ihm jetzt nahe und wurde mit der Eigenart meines Lehrers genau bekannt. Meine Aufgabe war: die Bücher zu führen, die Geburten zu leiten, die Praktikanten einzuüben und für Geburts- und Krankengeschichten zu sorgen. – Ungeachtet seiner Jahre kam der alte Herr fast zu allen Geburten und verweilte halbe und ganze Nächte in der Anstalt. So verkehrte ich denn viel mit ihm und hatte die beste Gelegenheit, seinen jugendlich frischen Geist, seinen sprudelnden Witz zu bewundern. Aber man mußte sehr auf der Hut bei ihm sein und jedes Wort auf die Goldwage legen. Logische Verstöße ließ er nicht ungerügt durchgehen, alberne Fragen bestrafte er mit Spott, banale Redensarten reizten ihn zum Zorn.
Einer der Praktikanten hatte eine Krankengeschichte vorzulesen und spendete zuletzt der »gütigen Mutter Natur«, die der Wöchnerin so liebreich geholfen hätte, das gebräuchliche warme Lob. Naegele machte ein böses Gesicht und rief: »Bleiben Sie mir mit Ihrer gütigen Mutter drei Schritte vom Leibe! Wäre sie so gutmütig, wie die gedankenlosen Leute sie rühmen, so gäbe sie nun und nimmer zu, daß die Katze ihr abscheuliches Spiel treibt mit der Maus und der Dorndreher so entsetzlich grausam die Insekten spießt. Wer anders hat denn diese schrecklichen Triebe den Tieren eingepflanzt, als Ihre gepriesene Mutter Natur? Es ist freilich wahr, sie verfügt über wunderbare Werkzeuge und Errichtungen, womit sie uns heute nützt und morgen vernichtet. Suchen Sie keine Barmherzigkeit 228 bei der Natur! Bei den Menschen mögen Sie Mitleid finden. Wir müssen die Natur zwingen, uns ihre Werkzeuge zu unserem Vorteile abzutreten.«
Uebler noch spielte Naegele einem Ausländer mit, einem jungen portugiesischen Arzte, einem kleinen runden Lebemann, der gut deutsch sprach und nach Heidelberg gekommen war, um sich bei ihm weiter auszubilden. Er ging aber lieber zur Frau Sternwirtin in der Haspelgasse, die das beste bayrische Bier ausschenkte und eine gute Küche führte. Nachdem er eine Zeitlang aus der Klinik weggeblieben war, erschien er eines Morgens wieder, sichtlich aufgeregt, und ruhte nicht, bis er an Naegele die Frage richten konnte, unbekümmert um die vielen Studenten, die umherstanden: »Herr Geheimer Rat, kennen Sie die Frau Sternwirtin in der Haspelgasse?« – Naegele schüttelte abweisend das Haupt, und man merkte wohl, daß ihn die einfältige Frage verdroß. Der Portugiese ließ sich nicht warnen und fuhr fort: »Herr Geheimer Rat, diese merkwürdige Frau ist schon zehn Monate guter Hoffnung und kann noch immer nicht niederkommen. Was ist Ihre Meinung?« – »Behüte uns der Himmel, die Frau kriegt den Antichrist!« rief der Alte und drehte dem verblüfften Herrn den Rücken.
Welch frisches Leben in unserem Meister noch pulsierte, verriet schon sein Gang. Er ging nicht den bedächtigen Schritt des Greises, sondern eilend, das Haupt mit den kurzsichtigen Augen und der langgestreckten Nase vornüber gebeugt. Betrat er die Anstalt, so begrüßte er uns gerne mit irgend einer launigen Bemerkung, beklagte sich z. B. über das schlechte Straßenpflaster mit dem Seufzer: die heillosen Steine riefen ihm täglich seine Sünden ins Gedächtnis. War er in der Stimmung, sich mit uns zu unterhalten, so merkten wir es gleich, wenn ihm ein launiger Gedanke durch den Kopf ging. Er schloß dann die Augen und fuhr mit den fünf Fingern etliche Male über die Nase herab, öffnete dann plötzlich die Lider und brachte den Einfall zu Tage. Machte ihm sein Scherz besondere Freude, so trat er auf den Nächsten zu und schaute ihm prüfend ins Gesicht, ob seine Worte gezündet hätten. – Die auffallende Gewohnheit, während der Unterhaltung bisweilen die Augen zu schließen, hatte, wie 229 schon erwähnt, auch Scheffel, doch strich dieser dabei nicht mit den Fingern über das Gesicht.
Nicht immer jedoch war unser Lehrer heiter gestimmt. Er hatte seine trüben Tage, wo er in sich gekehrt die Einsamkeit aufsuchte und traurigen Erinnerungen nachhing. Eine blühende Tochter, sprühend wie er von Geist und heiterer Laune, hatte unerwartet der Tod aus glücklicher Ehe weggerafft. – Ein Jahr lang, erzählte man mir, erkannte man ihn nicht wieder, kein Scherz kam über seine Lippen, man fürchtete für sein Leben. In der Erfüllung seiner Pflicht und im Umgang mit der Jugend erholte er sich allmählich von dem schrecklichen Schlage.
Eines Tages mußte ich Naegele in seinem Hause aufsuchen. Als ich eintrat, verließ ihn gerade ein Herr, der im Rufe eines großen Aufschneiders stand. Naegele war sehr aufgeräumt und erklärte mir den Grund seiner Heiterkeit: »Dieser Mensch lügt, daß sich die Balken biegen. Er versteht aufzuschneiden, wie der selige Münchhausen. Es ist etwas schönes um die Kunst zu lügen, doch ist sie nicht so leicht, wie die Leute meinen. Mein lieber Freund, bedenken Sie wohl, wie öde wäre das Leben ohne die Poeten!«
Obwohl er auch an derben Spässen Gefallen fand, wenn Humor darin steckte, so erlebten wir doch eines Tags in der Klinik eine überaus lächerliche Geschichte, die ihm ärgerlich war, weil sie dem Rufe seiner Anstalt im Auslande schaden konnte.
Wenn Personen in der Anstalt aufgenommen wurden, so mußten sie im Hörsaal in das Aufnahmebuch eingeschrieben werden. Dies geschah stets zu Beginn der Klinik. Die Aufzunehmende wurde Naegele gegenüber gesetzt, und er richtete unabänderlich zwei Fragen an sie, die eine: wann sie geboren sei, und die zweite: wann sie zum letztenmal die Regeln gehabt habe.
Eines Morgens brachte unser Meister zwei vornehme Aerzte in die Klinik und lud sie ein, sich neben ihn an den Tisch zu setzen, auf dem ich das Buch führte, rings herum saßen die Studenten. Eine Bauernmagd aus dem Odenwald wurde hereingeführt, die erschrecklich stumpf in die Welt blickte. Sie nahm den üblichen Platz ein und Naegele stellte die erste Frage: »Meine Gnädige, 230 wann sind Sie geboren?« – Die Arme verstand die Frage nicht, ich mußte ihr zu Hilfe kommen und erklären: »Sie sollen angeben, in welchem Jahre und an welchem Tage Sie geboren sind.« – Sie begriff jetzt und gab die Antwort in der heimischen Mundart; »Uff de Daach, wu der Hölzerlips keppt worren is.«Auf den Tag, wo der Hölzerlips geköpft worden ist. – Der Hölzerlips war ein odenwälder Landsmann, ein Räuber und Mörder, der 1812 auf dem Marktplatz in Heidelberg hingerichtet worden war. – Die Studenten lachten, aber Naegele wurde unwillig und rief mir zu: Die Herren möchten sich um der Reputation der Klinik willen zusammennehmen. Die Fremden seien englische Aerzte und verstünden kein deutsches Wort.
Sofort trat Ruhe ein, und Naegele richtete die zweite Frage an die Odenwälderin, die ihn so blöde wie vorher anstarrte. »Nun, Sie Gans,« redete er sie diesmal an, »Sie wird hoffentlich wissen, wann Sie die letzte Reinigung gehabt hat?« – Ihr Gesicht leuchtete, sie hatte verstanden und rief: »Uf selbigen Daach, wu die Beckebach keppt worren is.« – Die Beckenbach war auch eine Landsmännin aus dem Odenwald; sie hatte ihren Mann mit Gift umgebracht und war vor sieben Monaten auf dem Feld am Rohrbacher Weg enthauptet worden. – Nach dieser zweiten Antwort waren die jungen Leute nicht mehr zu halten, sie platzten hilflos heraus. Die Zeitrechnung nach Hinrichtungsterminen war zu überraschend. Die Engländer blickten auf den Professor, eine so vergnügte Klinik war ihnen neu, er bemerkte kurz, die Person spreche einen lächerlichen Jargon. Die Studenten beruhigten sich mit Mühe, und die Klinik ging dann ihren gewohnten würdigen Gang.
Nach meinem medizinischen Examen brachte ich noch ein Jahr in Heidelberg zu und verkehrte auch in dieser Zeit mit meinem Lehrer. Da ließ mich eines Tages seine Gemahlin zu sich rufen und bat mich, ihren Mann zu einer Konsultation nach Heilbronn zu begleiten; sie fürchte, es könne ihrem 68jährigen, kurzsichtigen Gatten etwas zustoßen, wenn er allein reise, der Ausflug nahm zwei Tage in Anspruch. Gerne sagte ich zu.
231 Früh am Morgen fuhren wir mit dem Eilwagen nach Heilbronn, das Wetter war herrlich, der Alte in rosiger Stimmung. Nachmittags gleich nach der Ankunft verfügten wir uns mit den beiden behandelnden Aerzten in die Wohnung der Kranken. Sie litt an einer Bauchgeschwulst zweifelhafter Natur. Es stand damals noch schlecht mit der Diagnose dieser Geschwülste. Naegele hielt den Herren Kollegen einen prächtigen Vortrag, worin er seine schönsten Raketen steigen ließ, und erzählte ihnen die lehrreichsten und unterhaltendsten Geschichten von kleinen und großen Böcken, die man auf diesem Reviere schießen könne. Mit gleichem Geschicke verstand er die tief gesunkene Hoffnung der Kranken aufzurichten.
Nach der Konsultation folgten wir einer freundlichen Einladung, die berühmte Papierfabrik des Verwandten eines der Aerzte zu besichtigen. Naegele wurde mit großen Ehren empfangen. Die Damen des Hauses waren begierig, den vielgenannten Frauenarzt kennen zu lernen, und er zog das ganze Register seiner Liebenswürdigkeit auf. Eine der beiden Damen nahm mich entzückt zur Seite und meinte: von allen Geheimeräten der Welt sei dieser der charmanteste. Kaum war ich mit ihm allein, so richtete er die Frage an mich: »Jetzt sagen Sie mir, habe ich meine Sache gut gemacht? Ich habe mein Bestes getan, um den Damen zu gefallen, jedoch nur Ihnen zu liebe. Sie sollten sehen, wie Sie es anfangen müssen, um vorwärts zu kommen. Glauben Sie mir, ohne Frauengunst bringt es der Arzt zu nichts!«
Am nächsten Morgen kehrten wir auf dem kleinen Dampfschiff, das damals zwischen Heidelberg und Heilbronn den geringen Verkehr vermittelte, nach Hause zurück. Naegele bewunderte eine Weile die liebliche Landschaft, bald aber weihte er seine Aufmerksamkeit der hübschen jungen Frau eines Landpfarrers, die unterwegs mit ihrem Manne eingestiegen war. Er vertrieb dem Weibchen mit Plaudern und Scherzen die Zeit, und sie fand großes Gefallen an seiner Unterhaltung. Der Pfarrer empfand zuletzt eine Anwandlung von Eifersucht, er fragte mich, wer der Herr sei, der mit solcher Galanterie seine Frau unterhalte. Ich beruhigte ihn, es sei der Geheimerat Naegele und ich sein Schüler, er mache nur mir zu liebe 232 seiner Frau die Cour, er habe mich auf eine Konsultation mitgenommen, um mich das Kurieren und das Courmachen zu lehren.
Frau Naegele, eine liebenswürdige Matrone, die Tochter des früher erwähnten Geburtshelfers Mai, dankte mir herzlich: Ihr Mann sei sehr befriedigt heimgekommen; – ich meinesteils versicherte, daß ich kaum je so viel für die künftige Praxis von meinem Lehrer gelernt hätte, wie auf dieser Reise.
Naegele blieb mir stets gewogen. Er riet mir, die akademische Laufbahn einzuschlagen, doch durfte ich daran nicht denken.
So oft ich nach Heidelberg kam, suchte ich ihn auf, zuletzt im Herbst 1849. Ich fand ihn tief gedrückt. Die Revolution hatte dem alten Manne arg mitgespielt, obwohl ihm kein persönliches Leid widerfahren war. Ein abgesagter Feind der Politik hatte er mir einst erklärt, eine Wöchnerinnensuppe interessiere ihn mehr, als alle Politik, im Jahre 1848 rächte sie sich. Täglich wurde vor seinem Haus am Ludwigsplatz exerziert, kommandiert und getrommelt, das Heckerlied gesungen und »Schleswig-Holstein meerumschlungen«. Freischärler und Soldaten aller Waffengattungen marschierten auf, Freund und Feind nahm Quartier bei ihm, die bewaffnete Macht vertrieb sogar 1849 die weibliche Besatzung seiner Anstalt und nahm die Räume selbst ein. Die Aufregung darüber brach die letzte Kraft des alten Herrn, er überlebte das schreckliche Jahr nicht lange.
Die Anregungen, die mir mein Lehrer erteilte, waren nicht verloren. Zwar habe ich die Geburtshilfe nur 5–6 Jahre ausgeübt, aber meine 1859 erschienene Schrift über eine Klasse wichtiger Bildungsfehler der GebärmutterVon dem Mangel, der Verkümmerung und Verdopplung der Gebärmutter, u. s. w. Mit 58 Holzschnitten. Würzburg, Stahel, 1859. hat gezeigt, daß der Same, den er ausgestreut, auf keinen unfruchtbaren Boden gefallen ist. 233