Adolf Kußmaul
Jugenderinnerungen eines alten Arztes
Adolf Kußmaul

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Tegernsee und der Schandl.

Wir hatten unsre Koffer von Hause nach Wien voraus spedieren lassen, und wanderten mit leichten, über die Schultern gehängten Taschen in die Alpen. Bis Tegernsee benützten wir den Stellwagen. Dahin fuhren auch mit uns Onkel und Nichte, die einen schweren Koffer mit sich führten und in Tegernsee einige Tage verweilen wollten, während wir nur zu übernachten beschlossen, um noch einen letzten Abend mit der Nichte zuzubringen und am Morgen darauf früh nach Tirol aufzubrechen. Aber das Schicksal bestimmte es anders.

Der Onkel hatte in München in Erfahrung gebracht, daß es seit kurzem in Tegernsee außer dem Gasthof zur Post einen neuen »zum Schandl« gebe, der ebenso gut und billiger sei, auch schöner und höher liege. Dort wollte er sich einmieten, und wir folgten bereitwillig seinem Vorschlag, gleichfalls in dem Schandl abzusteigen. Bei der Ankunft in Tegernsee hielt der Stellwagen am Gasthof zur Post; die Dienstboten dieses Hauses weigerten sich, den Koffer unseres Reisegefährten in einen andern Gasthof zu tragen, er mußte sich nach Trägern im Orte umsehen und schlug uns vor, einstweilen mit der Nichte voranzugehen und im Schandl Quartiere zu bestellen.

Die Nichte in unsrer Mitte, stiegen wir einem kleinen Bach entlang bergan, gingen aber fehl. Entweder verstanden wir die Leute nicht, die wir nach dem Weg zum Schandl fragten, oder sie verstanden uns nicht. Nachdem wir länger als eine Viertelstunde gestiegen waren, wurden wir erst richtig belehrt, mußten umkehren, 330 denselben Weg bergab gehen und einen Brückensteg überschreiten, um auf der andern Seite zu dem Schandl zu gelangen. Als wir die Brücke erreicht hatten, wechselte mein Freund einen Blick mit der jungen Dame, den sie ohne weitere Erklärung verstand. Die Brücke war nagelneu, hinreichend breit und glatt, und sie chassierten hinüber. Dann eilten wir zu dem nahen Schandl.

Der Gasthof hatte ganz und gar ein ländliches Aussehen; um in das Haus zu kommen, gingen wir durch einen geräumigen Hof. Hier stand bei Wirt und Wirtin der Onkel mit rotem, zornigem Gesicht, er war offenbar außer sich, weil wir noch nicht eingetroffen waren, und machte seinem großen Aerger mit Schelten Luft. Ein wenig abseits standen Knecht und Magd und konnten ihre Freude über das Schauspiel, das der fremde Herr vor ihnen aufführte, nicht verbergen, sie brannten offenbar vor Begierde, die Scene zu genießen, die es jetzt bei unserem Eintreffen absetzen würde.

Wir eilten sofort auf den Onkel zu, um uns zu entschuldigen, aber er achtete auf Bronner und mich nicht, sondern wandte sich nur an die Nichte und zeigte ihr seine rechte Hand, woran die Haut ein wenig abgeschürft war. Er hatte nur einen Träger für seinen Koffer aufgetrieben und in seiner Ungeduld mitgeholfen, ihn heraufzuschaffen, statt den Schandlwirt dafür sorgen zu lassen. »Schau her, wie ich zugerichtet bin,« rief er der Nichte zu, »während ich mich mit dem Gepäck abquäle, läufst du mit den jungen Herren in den Bergen herum, statt hier Quartier zu bestellen.« Vergebens versuchten wir es nochmals, alle Schuld auf uns zu nehmen; er ließ uns nicht zu Worte kommen und wies uns barsch ab: »Ich habe nicht mit Ihnen zu rechten, sondern einzig mit meiner Nichte.« Ich schämte mich vor den Wirtsleuten und Dienstboten, wandte mich an meinen Freund und forderte ihn auf, mit mir ins Haus zu gehen, mit der Bemerkung: es sei doch sonderbar, daß der Herr unsere Entschuldigung nicht einmal anhören wolle. Damit schlug ich dem Fasse den Boden vollends aus. Der Alte hatte in Göttingen zu einer Zeit studiert, wo das Wort »sonderbar« einen »Tusch« bedeutete und auf der Mensur gesühnt werden mußte. Ich hatte nicht entfernt daran gedacht, ihn zu beleidigen und ein Duell herbeizuführen; er aber rief, 331 aufs äußerste erregt: »Mein Herr, Ihre Herausforderung beachte ich nicht. Meine Kirche verbietet den Zweikampf. Sie beleidigen mich vergeblich!« – Hierauf ergriff er den Arm der Nichte, die sich mäuschenstill verhielt, und führte sie ins Haus.

Auch wir verlangten ein Zimmer und hielten Rat, was zu tun. Mit dem alten Hitzkopf konnten wir nicht länger verkehren, wir beschlossen, ohne Säumen aufzubrechen und noch heute nach Kreuth zu wandern. Wir waren gerade zu diesem Entschluß gelangt, als wir durchs Fenster Onkel und Nichte zum See hinabgehen sahen; vermutlich wollte er seinen Zorn im Freien abkühlen. Somit hatten wir keine Begegnung mehr im Hause zu fürchten. Wir hatten in München die Gedichte Kobells in oberbayerischer Mundart als Andenken für die Nichte eingekauft, schrieben jetzt eine freundliche Widmung in das Buch und ließen es auf ihr Zimmer tragen. Dann hängten wir unsere Täschchen um und machten uns auf den Weg nach Kreuth.

Eine Zeitlang gingen wir verstimmt neben einander her. Unser Wörterbuch war um ein neues Wort reicher geworden. Schandl bedeutete in Zukunft ein plötzliches Zerwürfnis unter Reisegefährten, einen Riß, der ein kaum geknüpftes Band Knall und Fall und für immer löste. Bald jedoch verscheuchte die frische Luft der Berge Verdruß und Betrübnis. Wir trösteten uns mit einem Schnaderhüpferl eigner Poesie:

Auf Reisen da gibt's halt
Oft plötzlich einen Wandl,
Die Freundschaft vom Morgen
Wird abends zum Schandl.

In Kreuth schmeckte uns das Abendbrot ganz gut, und als wir unsere Betten aufsuchten, weihten wir, eingedenk der göttlichen Taglioni und der Zauberin Lola, ein Viertelstündchen der edeln Tanzkunst, bevor wir uns niederlegten und in tiefen, erquickenden Schlummer sanken. 332

 

 


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