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Als ich im Oktober 1840 die Universität besuchte, sah es in der politischen Welt bedenklich aus. Thiers, Louis Philippes heißblütiger Minister, hatte gerade in die Kriegstrompete gestoßen, und die Franzosen verlangten wieder einmal den Rhein als Frankreichs natürliche Grenze. Beim Abschied sah mein Vater ernst darein. »Ich fürchte,« sagte er zu mir, »ehe der Frühling wiederkehrt, marschieren die Rothosen durchs Land.« – Wer hätte es ihnen wehren können? Das Ausfallstor in Straßburg stand offen, ihre Armee galt für die beste der Welt, die schlecht gerüsteten süddeutschen Truppen wären ihrem Anprall nicht gewachsen gewesen.
Nach meiner Ankunft in Heidelberg bestellten mich einige alte Schulkameraden auf den Abend in das neue Essighaus, eine Bierwirtschaft in der Plöck. Als ich hinkam, fand ich den Saal gefüllt mit Bürgern und Studenten. Eine Musikbande spielte, und von allen Seiten verlangte man stürmisch das Rheinlied von Becker:
»Sie sollen ihn nicht haben, Den freien deutschen Rhein, Ob sie wie gier'ge Raben Sich heiser darnach schrein.« |
Die Poesie dieser »deutschen Marseillaise«, wie sie spöttisch genannt wurde, war herzlich schlecht, aber das Lied gefiel in ganz Deutschland als entschiedene Antwort auf die welsche Herausforderung. Es mußte zweimal gespielt werden und wurde zweimal begeistert gesungen. Andre patriotische Lieder folgten. Wie immer 110 erklang zuerst die klagende Frage: Was ist des Deutschen Vaterland? und hinterdrein: Lützows wilde verwegene Jagd. Befriedigt ging man dann nach Hause. Wir Studenten gaben uns das Wort, in die Armee einzutreten, sobald die Franzosen Ernst machten. Glücklicherweise verrauschte der Lärm bald, wir konnten ungehindert unseren Studien nachgehen.
Auch den blödesten Augen war es klar geworden, daß der unruhige Nachbar im Westen noch immer der alte war, bedacht auf Raub und Gloire. Der deutsche Staatenbund, wie ihn der Bundestag in Frankfurt vertrat, sicherte namentlich in Süddeutschland die Grenze nicht. Der nationale Einheitsgedanke, das Verlangen nach einer starken Reichsgewalt unter Mitwirkung des verfassungsmäßig vertretenen deutschen Volks, flammte mit großer Stärke wieder empor. Der Same des deutschen Einheitsgedankens war in den Befreiungskriegen aufgegangen, aber die deutschen Bundesregierungen hatten ihn nach der Besiegung Frankreichs aus allen Kräften niedergehalten und als Hochverrat verfolgt. Nach einem kurzen Erwachen in den heißen Julitagen 1830, wo die Franzosen den Thron der Bourbonen aufs neue umstießen, versank der deutsche Michel wieder in Schlummer. Jetzt erweckte ihn die gewaltige Fanfare von jenseits des Rheins, und von da an ist er wach geblieben.
Ein anderes Ereignis des gleichen Jahres erregte weitgehende patriotische Erwartungen: die Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. von Preußen. Das Heldenland der Blücher und Scharnhorst, der Reformstaat der Stein und Hardenberg, schien seine deutsche Aufgabe vergessen zu haben; fast gleichgültig überließ er die Besorgung der deutschen Angelegenheiten dem Reichskanzler Oesterreichs, dem Fürsten Metternich, dem schlimmsten Feinde des deutschen Einheitsgedankens und verfassungsmäßiger Volksrechte. Man erzählte große Dinge von dem offenen Sinne des eben auf den preußischen Thron gelangten Königs für alles Schöne und Gute, für Kunst und Wissenschaft, und man verglich ihn an Geist und Witz mit Friedrich dem Großen. Seine ersten Regentenhandlungen gewannen ihm das Herz der akademischen Jugend. Gleich 111 nach dem Antritt seiner Regierung erließ er eine Amnestie, die Demagogenhetze hörte auf. Die Burschenschafter verließen die Festungen und Kerker, der alte Arndt, der Liebling der Studenten, erhielt sein Lehramt wieder, und den aus Göttingen vertriebenen, eidgetreuen Professoren Dahlmann und Gebrüdern Grimm überwies er preußische Lehrkanzeln. So war man guter Dinge und hoffte, der König werde sich von Metternichs unheilvollem politischem Systeme lossagen, in Preußen die längstverheißene Verfassung einführen und die Lösung der deutschen Frage in die Hand nehmen. Mit einem Worte, man erwartete eine neue Aera für Preußen und ganz Deutschland; der Zollverein, der bereits unter seines Vaters Regierung eine große Zahl deutscher Staaten in segenbringender Weise wirtschaftlich fester verbunden hatte, schien sie vielverheißend einzuleiten.
Es ist bekannt, wie diese Hoffnungen sich nicht erfüllten. An Stelle einer nüchternen Staatskunst führte die Romantik das Ruder des preußischen Staates, und das Schiff trieb rettungslos in die wilden Strudel der Revolution.
Die studentischen Bewegungen, die ich in diesem dritten Buche meiner Erinnerungen schildern werde, spiegeln die allgemeine Erregung der Geister, namentlich im Süden Deutschlands, getreu wieder. 112