Adolf Kußmaul
Jugenderinnerungen eines alten Arztes
Adolf Kußmaul

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Eintritt in das badische Heer.

Bei der unsichern Weltlage traf das badische Kriegsministerium Vorkehrungen und forderte die Aerzte des Landes zum Eintritt ins Heer auf. Man erwartete allgemein große Kriege und befürchtete namentlich, daß Kaiser Nikolaus ein Deutschland mit freien Einrichtungen an den Grenzen des russischen Reichs nicht dulden werde; die Franzosen fürchtete man weniger und erblickte in ihnen eher künftige Verbündete gegen das drohende Kosakentum. Mein Vater riet mir dringend, mich zum Militärdienste zu melden, denn die erschütterte Ordnung hatte für Handel und Kredit schlimme Folgen; er sah richtig voraus, daß die Privatpraxis in den nächsten Jahren wenig abwerfen werde. Ich mußte den Gedanken, mich in Heidelberg niederzulassen, endgültig aufgeben und folgte dem Beispiel mehrerer meiner Studiengenossen, die sich bei dem Kriegsministerium bereits gemeldet hatten.

Da einige Wochen vergingen, bis ich eingerufen wurde, unterstützte ich so lange meinen Vater in der Praxis. Sie gab mir Gelegenheit, einige Fälle von Wurstvergiftung zu beobachten und samt dem Leichenbefund in der Zeitschrift der badischen Aerzte für Staatsarzneikunde zu beschreiben. Bekanntlich hat Justinus Kerner, der Weinsberger Arzt und Dichter, diese in Süddeutschland nicht seltene Vergiftung zuerst beschrieben (1817–1821).

Die politische Bewegung war anhaltend im Steigen begriffen. Am 19. März besuchte ich die große Volksversammlung in Offenburg. Aus dem ganzen Großherzogtum, namentlich aus dem 403 Oberlande, strömten Leute herbei, zwei- bis dreitausend, in der Mehrzahl Landleute in ihren malerischen Volkstrachten; die Versammlung glich einem schönen Volksfeste. Alles schwelgte in wonniger Erwartung des Mannasegens, den der plötzlich angebrochene Völkerfrühling über das Land ausschütten werde. Die Reden atmeten Zuversicht und besonnene Mäßigung. Welcker, der bewährte Kämpfer für Volksfreiheit und Bundesreform, mahnte, nicht zu vergessen, daß die deutsche Verfassungsfrage nicht in dem südwestlichen Winkel am Rhein entschieden werden könne. Sogar Hecker, der ungestüme Führer der Roten, hielt seine Freunde von überstürzten Anträgen zurück. Bedenklich war nur am Schlusse der Versammlung die Ernennung eines Landesausschusses neben dem gesetzlichen Organe der Volksvertretung, der zweiten Kammer, und die Zusammensetzung des Ausschusses aus 16 Mitgliedern der äußersten Linken unter Führung Heckers; der Ausschuß sollte die errungenen politischen Schätze hüten und mehren. Allenthalben im Lande begannen sich Volksvereine zu bilden und übten sich Freiwillige in den Waffen, die Vereine wurden dem Ausschusse unterstellt.

Schon acht Tage nach dieser ersten großen Volksversammlung, am 26. März, wurde eine zweite in dem Schloßhof zu Heidelberg abgehalten, die vorzugsweise von Bewohnern der rechts- und linksrheinischen Pfalz besucht war und einen andern, entschieden revolutionären Charakter trug. Die Partei des Advokaten v. Struve, der zum fanatischen Jakobiner geworden war, schickte von Mannheim ihre tollsten Brandredner herüber. Zwischen den Reden knallte Schuß auf Schuß, um die Aufregung zu steigern. In den Pausen trat ein junger Mensch in schwarzem Samtrock und Heckerhut, eine rote, weithin leuchtende Binde um den Hals, auf die Tribüne, die vor dem Bandhaus aufgerichtet war, blickte ernst und wichtig auf das Volk hernieder, das den weiten Hofraum ganz anfüllte, und erregte die allgemeine Neugier, worauf er es abgesehen hatte. Es ist Blind, hieß es, einer der Getreuen des Bürgers Struve!

Wie in allen Städten und Städtchen des Landes, übten sich auch in Wiesloch viele junge Leute freiwillig in den Waffen; Freund Bronner und ich traten in ihre Reihen, exerzierten abends mit der 404 Muskete und suchten die Ordnung zu erhalten; in dem benachbarten Walldorf hatte man Ausschreitungen gegen die Juden begangen, in Wiesloch sie bedroht, aber es gelang uns, sie hier zu schützen. Unser Drillmeister war ein gedienter alter Soldat, der zwar als Handwerker in dem Städtchen sein kümmerliches Brot verdiente, jedoch noch immer mit ganzer Seele Soldat war. Stolz auf sein Amt und den Titel Leitmann – so lautete verdeutscht der welsche Name Lieutenant – hatte er keinerlei politisches Interesse oder Verständnis. Im Sommer 1849 zog er überglücklich an der Spitze seines Fähnleins ins Feld wider das Reichsheer, das an der Bergstraße in Baden einrückte, und ging blindlings auf den Feind los; eine hessische Kugel streckte ihn tot zur Erde.

Mit der politischen Erregung wuchs auch der persönliche Haß der Parteien gegeneinander, es fehlte nicht an unerquicklichen Vorgängen und schlimmen Zusammenstößen. Als ich in der zweiten Hälfte des April zum Heeresdienst einberufen wurde, folgte ich gerne der Weisung, mich ungesäumt bei dem Obersten des 1. Infanterieregiments in Rastatt zu melden.

Nach meiner Ankunft suchte ich zunächst einen Bekannten, einen Oberleutnant der Garnison auf, um mich über die mir so gänzlich fremden Verhältnisse zu erkundigen, ich hatte ihn bei seinem Bruder, einem meiner Universitätsfreunde, kennen gelernt. Er empfing mich freundlich, nur beunruhigte ihn ein zarter Flaum, der sich seit kurzem, ziemlich verspätet, auf meiner Oberlippe hervorgewagt hatte; es waren die ersten Sprossen eines Schnurrbarts. »Mein lieber Doktor«, warnte er mich, »ich sehe zu meinem Leidwesen auf Ihrer Lippe einen reglementwidrigen Schnurrbart und rate Ihnen wohlmeinend, lassen Sie das Ding noch heute entfernen. Sie ersparen dem Herrn Oberst morgen, wenn Sie sich melden, einen verdrießlichen Anblick und sich selbst den ersten Verweis. Ich zweifle nicht, Sie teilen meine Meinung. Schnurrbärte eignen sich schlecht für gebildete Zivilisten, am schlechtesten aber für Militärpersonen.« Was durfte ich dagegen einwenden? Das Reglement befahl und der Flaum verschwand, doch konnte ich nicht unterlassen, dem Herrn Oberleutnant vorherzusagen, in wenigen Wochen würden 405 die Schnurrbärte wie Pilze beim Regen in der ganzen Armee emporschießen.

Ich blieb nur kurze Zeit in der Bundesfestung und erhielt anfangs Mai Befehl, mich zu dem Bataillon Leiblein zu verfügen, das ich am 21. Juni mit dem Bataillon Holtz vertauschen mußte; beide waren zu einer Brigade abkommandiert, die in den Aemtern Offenburg, Lahr und weiter hinauf die Grenze zu überwachen hatte. Der Heckerputsch ging gerade zu Ende, und zuletzt, am 27. April, war die deutsch-französische Legion unter Bornstein und Herwegh bei Dossenheim im Schwarzwald auseinandergesprengt worden. Wir zogen kreuz und quer durch das Rheintal, kamen bis Staufen hinauf und stießen nirgends auf Bewaffnete, nur auf volle Schüsseln und Weinflaschen; die Wunden, die ich zu heilen fand, hatten einzig Bacchus und Venus geschlagen.

Bei einem vorübergehenden Aufenthalt in Offenburg begegnete ich in dem damals so berühmten Gasthofe zur Fortuna, wo der Besitzer, Herr Pfaehler, uns freigebig bewirtete, dem Oberleutnant, der mich bei meinem Eintritt in das Heer mit den reglementarischen Gepflogenheiten bekannt gemacht hatte. Mein Schnurrbart war seitdem in größter Schönheit aufgeblüht, auch ihn schmückte jetzt eine etwas struppige Pflanzung noch junger, borstiger Haare. 406

 

 


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