Adolf Kußmaul
Jugenderinnerungen eines alten Arztes
Adolf Kußmaul

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Medizinische Studiengenossen.

Die Mediziner, die mit mir in Heidelberg studierten, kamen aus allen deutschen Bundesstaaten, mit Ausnahme Oesterreichs; vom Ausland kamen fast nur Schweizer und einige Holländer. – Obwohl die badische Regierung es den Landeskindern freistellte, an welcher Universität sie studieren wollten, gingen sie doch fast alle in den ersten Semestern nach Heidelberg oder Freiburg, in den letzten zogen einige Berlin vor, des genialen Dietzenbach wegen. – Von den deutschen Staaten war die freie Reichsstadt Hamburg auffallend stark vertreten. Die dortige Prüfungsbehörde sah es gerne, wenn die Hamburger Mediziner zuerst in Heidelberg studierten und promovierten, als Doktoren aber vor dem Staatsexamen noch ein Jahr lang in der Poliklinik zu Halle bei Krukenberg praktizierten.

Ich habe bereits einiger meiner medizinischen Studiengenossen gedacht, so des Hamburgers Eduard Cohen, der beiden Chirurgen und badischen Landsleute Bernhard Beck und Franz Chelius, meiner nächsten Freunde Eduard Bronner und Franz Volk, des Physiologen Schiff aus Frankfurt a. M. u. a. Von badischen Medizinern hebe ich noch hervor den nachmaligen Professor der Anatomie in Tübingen, Hubert Luschka aus Konstanz, mit dem sich nur Schiff und Moleschott an beharrlichem Fleiße messen durften, ferner die beiden Karlsruher, Theodor Freiherr von Dusch und Adolf Hoffmann, endlich Karl Schaible aus Offenburg und Adolf Tenner aus Heidelberg.

Theodor von Dusch war der einzige Student der Medizin, der eine Zeitlang in einem chemischen Laboratorium arbeitete. Besondere 249 Empfehlungen hatten ihm diese glückliche Gelegenheit bei Leopold Gmelin, seinem späteren Schwiegervater, verschafft. Nach seinem Staatsexamen ließ sich Dr. v. Dusch zuerst in Mannheim nieder, wo er 1852 mit Professor Schröder die wichtigen Versuche machte: »Ueber die Filtration der Luft durch Baumwolle,« auch 1854 Untersuchungen über Diabetes veröffentlichte. In diesem Jahre siedelte er nach Heidelberg über, habilitierte sich auf Grund wertvoller Forschungen über die Pathogenie (Entstehung) der Gelbsucht und gelben Leberatrophie, und wurde zwei Jahre nachher, 1870, o. Professor der Fakultät. Sein wissenschaftliches Hauptwerk ist das »Lehrbuch der Herzkrankheiten«, 1868. Ein großes und bleibendes Verdienst erwarb er sich um Fakultät und Stadt durch die Gründung eines Kinderhospitals, der Louisenheilanstalt, die zugleich dem klinischen Unterrichte dient. Er starb, ein Opfer der Influenza, am 13. Januar 1890.Vgl. bad. Biogr. Bd. IV. S. 91.

Adolf Hoffmann wurde Militärarzt, machte die Feldzüge von 1848/49, 1866 und 1870/71 mit, zuletzt als Generalarzt, nahm 1871 nach dem Kriege den Abschied und lebte in seiner Vaterstadt Karlsruhe, verehrt als Arzt und eifrig tätig für das Gemeinwohl und namentlich für die Interessen des ärztlichen Standes, wozu ihn ein großes Verwaltungstalent befähigt hat. Er starb am 27. Oktober 1899.Vgl. Aerztl. Mitt. aus und für Baden 1899, Nr. 21.

Karl Schaible wurde durch die Politik der Medizin abtrünnig. Gezwungen, 1849 ins Ausland zu flüchten, fand er nach längerem Aufenthalt in Frankreich eine hervorragende Stellung in England als Professor für neue Sprachen an der Kriegsschule in Woolwich und als Examinator an der Londoner Universität. Er wurde englischer Bürger, nach 21 Dienstjahren unter rühmlicher Anerkennung seiner Tätigkeit, britischer Staatspensionär und kehrte 1883 in die badische Heimat zurück, wo er am 22. September 1899 in Heidelberg aus dem Leben schied, bis an sein Ende literarisch tätig. – Von den vielen Schriften, die er im langen Laufe der Jahre 250 veröffentlicht hat, pädagogischen, historischen und militärmedizinischen Inhalts, hat er mir eine der lehrreichsten gewidmet: »Die höhere Frauenbildung in Großbritannien« 1894.Vergl. K. H. Schaible: Siebenunddreißig Jahre aus dem Leben eines Exilierten. Stuttgart: in Kommission bei Adolf Bonz u. Comp. 1895.

Das erste medizinische Semester Adolf Tenners war mein letztes. Seine persönliche Bekanntschaft machte ich erst zehn Jahre später, nachdem ich mich im Herbst 1854 in Heidelberg niedergelassen hatte, um die akademische Laufbahn einzuschlagen. Er nahm an den Versuchen, die mich damals beschäftigten, lebhaft Anteil und unterstützte mich bei ihrer Ausführung, sein gesundes Urteil war mir dabei nützlich und wir schlossen Freundschaft. Trotz seines Widerspruchs ließ ich die Abhandlung, die 1858 in Moleschotts Zeitschrift und dann als besondere Schrift erschien: »Ueber Ursprung und Wesen der fallsuchtartigen Zuckungen«, unter unserer gemeinsamen Flagge in die Welt segeln. Er war ebenso zuverlässig als Freund wie als Arzt. Als Leibarzt des Großherzogs Friedrich von Baden hat er seinen verantwortungsvollen Posten 25 Jahre lang, von 1870 bis zu seinem 1895 erfolgten Tode, mit stets gleichem Vertrauen seines Fürsten, in Ehren behauptet.

Bei Chelius und Puchelt praktizierte mit mir noch stud. Binswanger aus Bayern, der Gründer der, von einem seiner beiden Söhne fortgeführten, bekannten Heilanstalt in Kreuzlingen bei Konstanz; ferner Lippert aus Hamburg, der als vielbeschäftigter Arzt in Nizza starb; endlich Guido Weiß, der sich von der Medizin zur Publizistik wandte.

Erwähnen muß ich noch als Kommilitonen meiner ersten Semester den nachmaligen Berliner Kliniker und Chirurgen Adolf Bardeleben aus Frankfurt a. O. Er war jedoch drei Jahre älter als ich und glich bereits einem jungen Professor. Naegele hatte ihn zu seinem klinischen Assistenten gemacht; als Bischoff 1843 den Ruf nach Gießen annahm, folgte ihm Bardeleben dahin als Prosektor.

Auf botanischen Ausflügen machte ich nähere Bekanntschaft mit zwei Medizinern, die sich nach dem Examen ganz den 251 Naturwissenschaften widmeten. Der eine war Georg Heinrich Mettenius aus Frankfurt a. M.; als Professor der Botanik in Leipzig erlag er 1866 der asiatischen Cholera, der andere, A. von Frantzius aus Danzig widmete sich der Zoologie. Er schloß sich dem berühmten Zoologen E. von Siebold an, wurde sein Assistent in Breslau und Privatdozent, verehelichte sich mit einem Mädchen unter seinem Stande und verließ deshalb Europa. In Costarica wirkte er als Arzt und Naturforscher und kehrte erst nach dem Tode seiner Frau nach Deutschland zurück. Von Jugend auf hatte er an Asthma gelitten, jetzt war er tuberkulös und verbrachte seine letzten Lebensjahre in Freiburg, wo wir unsere Jugendbekanntschaft erneuerten. Er starb 1877 und hinterließ in Freiburg ein gutes Andenken, denn er hat den Kindergärten dieser Stadt eine ansehnliche Stiftung vermacht.

Endlich gedenke ich noch Jakob Moleschotts, eines der drei holländischen Mediziner, die mit mir studierten. Die genauere Bekanntschaft dieses ungemein liebenswürdigen Mannes machte ich jedoch erst nach meinem Staatsexamen im Sommer 1846, wo wir an einem gemeinschaftlichen Mittagstisch speisten, worauf ich im nächsten Buche zurückkommen werde. Sein Fleiß, sein Wissensdurst hatten keine Grenzen, seine Lebhaftigkeit war außerordentlich und hat ihn bis zu seinem Tode nicht verlassen.

Ich darf das Kapitel nicht schließen, ohne ein dankbares Wort an den Schatten eines wohl längst hinübergegangenen Mitpraktikanten zu richten, dessen reif überlegte Diagnosen in der ambulatorischen Klinik uns ebenso sehr erfreuten, wie seine »Schnelldiagnosen«.

Wir nannten unsern Kollegen, einen Regensburger, nach dem ebenso kühnen, als gelehrten Emir Algeriens, der damals den Franzosen den libyschen Boden doppelt heiß machte, Abdelkader. Er trug ganz und gar das scharfgeschnittene Gepräge eines arabischen Wüstensohns: eine dichte schwarze Mähne schmückte sein Haupt, und unter der geschwungenen lang und unten kolbig auslaufenden Nase beschattete ein schwarzer Schnurrbart die schmalen Lippen. Auf der Nase prangte eine goldene Brille mit riesigen Gläsern, die ihm ein ungemein gelehrtes Aussehen verliehen.

Eines Morgens erschien ein alter Maurergeselle und stellte sich 252 respektvoll vor Chelius hin. Abdelkader war als Praktikant an der Reihe und stand schon zum Vortreten bereit. Der Maurer hatte eine geschwollene Backe, er harrte schweigend auf die Aufforderung, sein Anliegen vorzubringen. Chelius winkte. Abdelkader trat vor, warf einen prüfenden Blick auf die Backe und rief, ohne ängstlich zu zaudern: »Abscessus malae! Man muß sogleich einschneiden!« Der Mann erschrak, holte einen Ballen Kautabak aus dem Munde, die Geschwulst verschwand. Er sei nicht krank, versicherte er bestimmt, ihm fehle gottlob nichts, er komme nur, um über ein krankes Kind Bericht zu erstatten.

Aus diesem diagnostischen Mißgeschick zog Abdelkader die Lehre, in Zukunft die Leute erst auszufragen und dann die Diagnose zu stellen. Als er wieder an die Reihe kam, erschien eine Bauersfrau und streckte ihre beiden Hände gegen Abdelkader. Die Handgelenke waren verdickt, alle Fingergelenke knotig verunstaltet, die Finger verkrümmt. Abdelkader untersuchte diesmal genau, betastete sorglich beide Hände und alle Gelenke, überlegte und fragte: »Frau, hat sie die Gicht gehabt?« – »Ich hab' sie noch!« bestätigte die Alte.

Was mag aus Abdelkader geworden sein? fragten wir uns später bisweilen im Kreise der alten Kommilitonen. Endlich, nach langen Jahren erfuhren wir seine Schicksale. Er war in russische Dienste als Militärarzt getreten, die Tscherkessen hatten ihn gefangen und vor Schamyl, den gefürchteten Feind der Russen, geführt. Er bangte für sein Leben. Prüfend richtete der Fürst seinen Adlerblick auf den Doktor, jedoch nicht lange. »Laßt ihn laufen!« rief er, »er kehre zu den Moskowitern zurück, dort wird er uns nützlicher sein!« 253

 

 


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