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Viktoria, im Juni 1910
Es hat sich vielerlei im Laufe der verflossenen Jahre in Kamerun ereignet, was nicht nur vorübergehendes Interesse beansprucht, sondern dauernd in den Annalen der Kolonie seinen Platz behaupten wird. Manches davon ist auch weiteren Kreisen der Heimat nicht unbekannt geblieben, von anderem wieder ist die Kunde nur bis zu denen gedrungen, deren Ohr für koloniale Neuigkeiten abgestimmt ist. Ein frischer Hauch kolonialen Verständnisses erhob sich von der Heimat her und belebte den früher oft gar zu langsamen Kurs zu schnellerer Fahrt; das deutsche Volk besann sich wieder auf seinen überseeischen Besitz, und mancher alte Afrikaner rieb sich die Afrikamüdigkeit aus den Augen und faßte von neuem Mut zu weiterem Ausharren.
Selbst ein regierender deutscher Fürst hat zum ersten Male in diesen Jahren den Boden Kameruns betreten. Im Jahre 1907 weilte der Großherzog von Mecklenburg-Schwerin und mit ihm der Erbgroßherzog von Mecklenburg-Strelitz einige Zeit an den Hauptorten unserer Küste, um ihre Entwicklung und das Leben und Treiben ihrer Bewohner aus eigener Anschauung kennenzulernen. Ein weiteres Mitglied desselben Regentenhauses, Herzog Adolf Friedrich, erreichte im Jahre darauf Kamerun auf seiner Durchquerung Afrikas als letztes Endziel, und gerade in diesen Wochen schickt sich derselbe Forscher an, begleitet von einem Stabe von Fachgelehrten, eine neue wissenschaftliche Expedition von unserer Kolonie aus durchs innere Afrika bis hin zu den Quellen des Niles anzutreten.
In rascherem Tempo als bisher fing die wirtschaftliche Entwicklung des Landes an einzusetzen; man begann mit dem Bau von Bahnen. Viele tausend Eingeborene wurden zu diesem Werk herangezogen, um endlich die Breschen in den Urwaldgürtel zu schlagen, durch die der Verkehr zwischen Küste und Inland sich bewegen soll. Aufgestört durch all das ungewohnte, geräuschvolle Treiben zu seinen Füßen, erwachte im April vorigen Jahres der alte Riese des Kamerunberges aus langem Schlafe und schüttelte unmutig sein Haupt über die Friedensstörer in seinem Reiche, so daß Weiße und Schwarze vor seinem Grollen und Feuerschnauben flüchten mußten. Jetzt hat er sich wieder, hoffentlich für lange Jahre, beruhigt.
Bezeichnend für die Entwicklung unserer Kolonien im allgemeinen und Kameruns im besonderen ist es, daß sich alles in lebendigem Fluß befindet. Weit zahlreicher noch als daheim in unserer an Problemen reichen Zeit harren hier die verschiedensten »Fragen« ihrer Lösung. Sie sind aber nicht nur zahlreicher, sondern sie scheinen mir auch bedeutungsvoller zu sein; denn während es sich dort um ein Weiterbauen auf alter Grundlage handelt, gilt es hier, überhaupt erst die Grundlagen zu schaffen. So manche koloniale Aufgabe ist angeschnitten und in Angriff genommen worden. Aber es kann auch nicht anders erwartet werden, denn in einer Periode des Tastens und Suchens nach dem Besten wird oft das, was vor wenigen Jahren noch brauchbar schien, heute schon über Bord geworfen oder wenigstens wesentlich umgeändert werden müssen; und was wir heute als Fortschritt preisen, wird nach kurzer Frist vielleicht schon als rückständig gelten. Dabei kann die Entwicklung eines Landes, fast so groß wie das Deutsche Reich, bei beschränkten Hilfsmitteln keine gleichmäßige sein. Die Küstenplätze sind weit voraus. Während wir in ihnen bereits ein reges wirtschaftliches und selbst gesellschaftliches Leben emporblühen sehen, haben wir in nicht zu großer Entfernung von der Küste Gebiete, deren politische Sicherung noch keineswegs als vollendet gelten kann.
Je weiter wir in die Entwicklungsmöglichkeiten Kameruns eindringen, um so zahlreichere neue Probleme tauchen auf. Neuland allerorten. Aussichten auf Erfolg überall. Aber auch Schwierigkeiten überall; denn nicht alle Aufgaben können gleichzeitig und mit gleichem Nachdruck gefördert werden trotz allen Drängens der Interessenten, deren jeder in begreiflichem Eifer gerade sein Gebiet für das wichtigste hält. Einer der schwierigsten Zweige kolonialer Verwaltungskunst wird immer der sein zu entscheiden, welche von den vielen sich darbietenden Aufgaben am wenigsten einen Aufschub vertragen. Bausteine werden von allen Seiten fleißig herbeigetragen; selbst für äußere Ornamentik ist man nicht unbedacht, obwohl gerade sie wohl am ehesten warten darf. Wer aber mit einer dauernden Entwicklung unserer Kolonien rechnet, wird immer im Auge behalten müssen, daß gerade die Arbeit unserer Jahre die Grundpfeiler zu setzen hat, auf denen der ganze spätere Bau ruhen soll. Vergessen wir nur einen von ihnen an wichtiger Stelle oder fügen ihn nicht fest genug, so ist die Zukunft des Ganzen gefährdet.
Jeder Abschnitt im kulturellen Fortschritt eines Landes pflegt sein eigenartiges Gepräge durch ein besonders hervortretendes Merkmal zu erhalten, das gerade ihm sein Siegel aufdrückt, und um das sich die Hauptarbeit und das Hauptinteresse konzentrieren. Von der augenblicklichen Epoche Kameruns können wir sagen: sie steht im Zeichen des Bahnbaues. Am Ende dieses Jahres wird unsere erste Kameruner Inlandbahn dem Verkehr übergeben werden. Die Strecke von Duala, dem Haupthafenplatze der Kolonie durch die Waldzone hindurch nach dem Norden zum Manengubahochlande, der Eingangspforte des Graslandes, die wir vor vier Jahren noch in mühsamem sechs- bis siebentägigen Marsche zu durchwandern hatten, wird nunmehr in der gleichen Anzahl von Stunden zu bewältigen sein. Die baldige Fortführung der Trasse weiter ins Inland hinein, dem Adamauagebiete entgegen, ist zu erhoffen. Ortschaften und Gegenden, deren Bewohner noch vor wenigen Jahren beim Nahen des Weißen scheu in den Busch flüchteten, in deren Farmen die Elefanten häufige Gäste waren, werden heute von der Lokomotive durcheilt. Ein gewaltiger Kontrast in kurzer Zeit! Und während die eine Bahn dicht vor ihrer Vollendung steht, wird an einer zweiten, der »Mittellandbahn«, die von Duala aus über den Sanagastrom hinweg nach Edea und von dort durchs Jaundeland dem schiffbaren Oberlaufe des Njong zustrebt, mit emsigem Fleiße gearbeitet; für eine dritte, die sogenannte »Südbahn«, wird eifrig Propaganda gemacht, namentlich von den in Südkamerun ansässigen Firmen, für deren spezielle Interessen sie von großer Bedeutung sein würde.
Der Einfluß der Bahnen auf die weitere Gestaltung der Verhältnisse Kameruns ist in seinen Einzelheiten schwer im voraus zu beurteilen. Fast in allen Kolonien fremder Nationen hat der Bahnbau in seinen Folgen ungeahnte Überraschungen gebracht. Hoffen wir, daß sie für unser Land nur günstige sein mögen. Es ist kaum zu bezweifeln, daß die Bahnen gerade für Kamerun von ganz einschneidender Bedeutung sein werden. In keinem anderen deutschen Schutzgebiete, außer in Neuguinea, ja in keiner anderen außerdeutschen Kolonie war das Vordringen des Handels ins Innere mechanisch so erschwert wie hier. So werden durch die vollendete Bahn Personen- und Güterverkehr einen besonders starken Aufschwung nehmen, zumal diejenigen Gebiete Kameruns der Küste angegliedert oder nähergerückt werden, die am besten bevölkert sind, und deren Bewohner infolge ihrer intensiven Bodenkultur am produktivsten zu sein scheinen.
Wenn irgendwo in Kamerun, so sind hier die Vorbedingungen für Volkskulturen gegeben: günstige Bodenverhältnisse bei einer zahlreichen, leistungsfähigen und leidlich intelligenten Bevölkerung. Absatz- und Produktionsgebiet werden sich gleichermaßen erweitern, und der Mut der weißen Kaufmannschaft zu neuen Unternehmungen wird wachsen. Es wird sich hoffentlich die bei anderen innerafrikanischen Stämmen gemachte Erfahrung auch hier wiederholen, daß die Produktivität der Eingeborenen enorm gesteigert werden kann, sobald ihnen eine bequeme Absatzmöglichkeit ihrer Erzeugnisse geboten wird. Der Schwerpunkt der Entwicklung Kameruns wird für die nächsten Jahrzehnte in den Ländern der Bali, Bamum und Bati liegen, und zwar in ihrer Landwirtschaft.
Bahnen allein tun es freilich nicht. Die Lebensadern für sie bleiben immer noch die Zufuhrstraßen, und hoffentlich wird man nicht zögern, trotz des Bahnbaues auch den Wegebau nach Kräften weiter zu fördern. Von verschiedenen Herrschern vergangener Zeiten ist das Wort überliefert, daß man einen Fürsten an seinen Straßen erkenne. Möchte jeder Bezirksleiter bedenken, daß eine seinen Bezirk berührende Bahn die bisherige Pflicht des Wegebaues nicht aufhebt, sondern erhöht. Selbst ohne Bahnen ist es möglich gewesen, den Handel Kameruns in stetem Aufstiege zu erhalten. Gelegentliche Depressionen waren immer nur vorübergehend und bedingt durch ungünstige Konjunkturen des einen oder anderen Ausfuhrproduktes auf dem heimischen Markt.
Hinsichtlich seiner wirtschaftlichen Bedeutung können wir unsere Kolonie augenblicklich in drei ziemlich scharf voneinander getrennte Gebiete scheiden, die Kameruner Südküste mit ihrem Hinterlande, die Nordküste mit ihrem Inneren und das Adamaua-Bornu-Gebiet. Am schnellsten sind wir über das letztere unterrichtet, denn es befindet sich für den europäischen Handel beinahe noch im Ruhestadium; Einfuhr und Ausfuhr weisen im Vergleich zur Größe des Gebietes, das fast ein Drittel der Kolonie umfaßt, noch keine großen Ausfuhrzahlen auf.
Anders gestaltet sich das wirtschaftliche Leben der Süd- und Nordküste mit ihren Interessensphären. Der Haupthafenplatz der ersteren ist Kribi, der letzteren Duala. Verfolgen wir die Entwicklung Südkameruns, so ist sie eine dem äußeren Erfolge nach äußerst günstige gewesen, sie hat sich allerdings fast nur auf die Ausfuhr der im Lande vorhandenen großen Gummibestände beschränkt. Die hohe Rentabilität des gewonnenen Gummis, deren durchschnittliche Höhe vorübergehende Krisen des heimischen Marktpreises leicht überwinden läßt, hat bisher kein anderes Produkt in der Ausfuhr Südkameruns aufkommen lassen. In weitem Abstande folgt auf die Millionenwerte des Gummis das Elfenbein als noch nennenswertes Ausfuhrgut mit einem jährlichen Betrage von rund einer halben Million. Bei immer noch steigender Tendenz hat augenblicklich der Preis für Gummi mit 12 Mark fürs Kilogramm eine Höhe erreicht wie nie zuvor.
Während nun die Ausfuhrwerte des Gebiets Kribis auf Gummi und die Dualas auf der Ausnutzung eines in reichstem Maße vorhandenen Urproduktes gegründet sind, stehen Viktoria und sein Bezirk vorläufig als einziges Gebiet der Kolonie da mit einer ansehnlichen Ausfuhr eines vom Europäer neu geschaffenen Wertes, des Kakao. Und wenn seine Ausfuhr schon jetzt den Wert von drei Millionen erreicht hat, so ist das für die Kürze des Bestehens der Pflanzungen ein Ergebnis, auf das die Kolonie stolz sein kann. Mit den vorstehend genannten Handelswerten des Gummis, Elfenbeins, der Ölprodukte und des Kakaos sind die hauptsächlichsten Ausfuhrgüter der Kolonie überhaupt genannt. Sie haben augenblicklich zusammen einen Jahreswert von ca. 16 Millionen erreicht, während alle übrigen in kleineren Mengen zur Ausfuhr gelangenden Produkte im ganzen erst einen Wert von einer halben Million repräsentieren.
Damit soll indessen nicht gesagt sein, daß in absehbarer Zukunft neben den bisher schon bedeutungsvollen nicht auch andere Landesprodukte, seien es bereits vorhandene, seien es erst neu im Lande einzubürgernde einen Aufschwung erleben könnten. Im Gegenteil dürfen wir mit Sicherheit auf eine Massenausfuhr neuer Werte rechnen. Große Flächen im Innern des Landes bieten ohne weiteres die günstigsten Bedingungen für den Anbau von Mais und Erdnüssen, andere für Reiskultur, wieder andere für Tabak, Baumwolle oder Sisalhanf. Auch die Vorarbeiten zu einer Bananenausfuhr im großen sind von einem Syndikat in Angriff genommen worden; Kultur und Verwertung anderer Erzeugnisse befinden sich im Stadium gründlicher Versuche. Kurz, es regt sich allerorten die Lust zu kolonialwirtschaftlichen Unternehmungen.
Auch politisch ist noch manches zu tun, und auf die teilweise dem Kannibalismus ergebenen tiefstehenden Eingeborenenstämme ist noch kein sicherer Verlaß. Unlängst erst fiel ein friedlich seine Straße ziehender weißer Kaufmann mit seiner Karawane dem Kannibalismus der Makkas zum Opfer. Ein halbes Jahr zuvor hatte ich aus Anlaß einer dort ausgebrochenen Pocken- und Dysenterieepidemie in derselben Gegend gelebt und feststellen können, wie die Leute selbst die Leiche eines an Dysenterie Gestorbenen nicht geschont, sondern aufgefressen hatten. Kurz vor meiner Ankunft in dem betreffenden Dorfe beschwerte sich der Häuptling eines anderen Stammes bei mir darüber, daß die Makkas zwei Tage zuvor einen seiner Jungen aufgefressen hätten, der auswärts an Dysenterie erkrankt und auf dem Wege in seine Heimat gewesen sei. Als ich die Ortschaft erreicht hatte, erkundigte ich mich beim Häuptlinge nach dem Verbleibe dieses Jungen und bekam zunächst zur Antwort, er sei gestorben und begraben. Auf mein Verlangen führte er mich zu seinem angeblichen Grabe. Ich ließ es von meinem farbigen Heilgehilfen und einem mich begleitenden Soldaten öffnen und fand von einer dünnen Erdschicht bedeckt einige in ihren Gelenken zerteilte fleischlose Skelettreste neben mehreren Fetzen verwesender Haut. Alles übrige fehlte. Unter dem Eindruck dieser Exhumierung leugnete der Häuptling nicht weiter, daß seine Leute den Leichnam des an Dysenterie Verstorbenen zerteilt und aufgefressen hätten.
Wenn ich nach diesem kurzen Überblick nun mit wenigen Worten auch von meinem eigenen Ergehen während der letzten Jahre berichten soll, so waren sie nicht ärmer an Abwechslung als die ersten. Ich hatte wohl im stillen gehofft, mich an irgendeinem Platze Kameruns in dauernder Tätigkeit einer zusammenhängenden Arbeit widmen zu können; aber das koloniale Geschick – so möge es benannt sein – hat es anders gefügt, und der scheinbar zu kühne Wunsch, einmal wenigstens ein Jahr lang an einem Orte festzusitzen, ist mir in Kamerun bisher noch nicht in Erfüllung gegangen. Trotz mancher Härten und manchen Ungemachs, die ein dauernder Wechsel von Wohnsitz und Berufstätigkeit mit sich bringt, hat er doch auch seine großen Vorzüge und vieles Schöne. Abgesehen von meinem Aufenthalte an verschiedenen Küstenplätzen habe ich auf ausgedehnten Reisen neue, große Gebiete des Inlandes gesehen, von den Hochländern des Manenguba bis hin zu den entlegenen Dörfern der Kannibalenstämme des südkameruner Urwaldes. Mehrere hundert Tagemärsche mit einigen tausend Kilometern Weges durch Wald- und Grasland, über Berge und durch Täler mit allen Freuden und Leiden des Lebens im afrikanischen »Busch« habe ich seither wieder zurückgelegt; neue Volksstämme, friedliche und unzugängliche, heidnische und mohammedanische, habe ich nicht nur im Fluge, sondern in inniger Berührung kennengelernt; denn der helfende Arzt vermag wohl noch immer am raschesten in ungezwungene Fühlung mit den Eingeborenen zu kommen.
Auf meinen Wanderungen habe ich Bezirke wiedersehen können, in denen ich vor einer Reihe von Jahren zum ersten Male weilte, habe ihre Entwicklung und ihre Fortschritte, freilich auch die ihnen drohenden Gefahren beobachten können. Das Durchwandern des Landes und der Vergleich verschiedener Gegenden untereinander stoßen den Beobachter unwillkürlich auf Fragen, deren Bedeutung ihm in ihrer ganzen Größe an der Küste wohl niemals aufgehen kann; denn das einzige Gemeinsame, das alle Verhältnisse des Kameruner Hinterlandes haben, ist das, daß man sie aus persönlicher Anschauung kennengelernt haben muß, um sie wirklich objektiv zu beurteilen. Mit der Erkenntnis ihrer Größe erwächst aber auch die Berechtigung und die Pflicht, für diese Fragen mit allem Nachdruck einzutreten, besonders dann, wenn sie im eigensten Interessengebiete des persönlichen Berufes liegen.
Von diesen vielen vor mir neu aufgetauchten, ihrer Lösung harrenden Aufgaben will ich mich nur einer hier kurz zuwenden, die meiner Überzeugung nach alle übrigen weitaus an Bedeutung übertrifft; das ist das Bevölkerungsproblem, ein humanitäres, ein kolonialwirtschaftliches und ein hygienisches Problem zugleich. Geht es vorwärts mit unseren Eingeborenenvölkern? Sind sie ihrer Zahl und Entwicklung nach im Aufstieg oder im Niedergang begriffen? Wird der Vorteil oder der Schaden größer sein, den sie durch die Berührung mit unserer Kultur und unter der Neuordnung der Dinge durch uns haben? Nimmt ihre Volksgesundheit zu, ihre Sterblichkeit ab? Wird ihre Volkswirtschaft intensiver oder oberflächlicher? Diese und ähnliche Fragen drängten sich mir immer und immer wieder bei meinen ärztlichen Reisen durch die einzelnen Landschaften auf. Ihre Beantwortung ist schwierig, aber sie ist unerläßlich und weittragend, denn mit dem Bestande unserer Eingeborenenbevölkerung stehen und fallen die meisten unserer kolonialwirtschaftlichen Projekte.
Im Oktober dieses Jahres tritt nach langer Pause wieder der deutsche Kolonialkongreß zusammen. Hier will ich's nochmals versuchen, in weiteren Kreisen Verständnis für das Wesen und die Ziele der Eingeborenenhygiene zu wecken. Ihrem Wesen nach ist sie für mich eine kolonialwirtschaftliche Aufgabe allerersten Ranges; denn nur sie vermag uns alle die Negerarme, deren wir bei unseren Arbeiten in den Tropen bedürfen, stark zu erhalten und an Zahl zu mehren; je volkreicher ein Distrikt ist, um so rascher und lebhafter seine ganze Entwicklung. Die Gründe, die bisher eine stärkere Volksvermehrung verhindert haben, liegen zum weitaus größten Teile auf hygienischem Gebiete. Nur volkshygienischen Maßnahmen kann es deshalb gelingen, die Bevölkerungszahl vor dem Sinken zu bewahren und womöglich zu heben. Nicht die Vermittelung unserer Kultur an sich, wie man irrtümlicherweise noch vielfach annimmt, ist für den Farbigen gleichbedeutend mit Besserung seiner gesundheitlichen Verhältnisse; mit nichten! Wohl bringt sie ihm mancherlei Vorteile; aber in ihrem Gefolge haben sich auch offene und versteckte Feinde seiner Volksgesundheit genaht. Alkohol, Syphilis und Tuberkulose bedrohen ihn und seine Nachkommenschaft im Keime und gesellen sich zu den anderen Seuchen, gegen die er bereits seit langer Zeit zu kämpfen hat, zu Pocken, Dysenterie, Lepra, oder die ihn neuerdings umlauern wie die mörderische Schlafkrankheit. Die Ausbreitungsbedingungen aller Infektionskrankheiten werden bei der gewaltig durch uns gesteigerten Fluktuation, durch die Massenansammlungen und Massenbewegungen von Eingeborenen, wie sie die Arbeiten der wirtschaftlichen Erschließung, Wege- und Bahnbau, Plantagen- und Steuerarbeit mit sich bringen, um vieles erleichtert, ihre Bekämpfung erschwert. Kamerun ist ein dünn bevölkertes Land. Obwohl es einzelne dicht besiedelte Bevölkerungszentren hat, so entfallen doch durchschnittlich nicht mehr als 5 Bewohner auf den Quadratkilometer; in Deutschland vergleichsweise 92 Heute leben etwa 137 Menschen auf einem Quadratkilometer.. Neben den allgemeinen Volksseuchen hindert vor allem eine übergroße Kindersterblichkeit ein Anwachsen der Bevölkerung. Die Zahl des Nachwuchses ist in vielen Gegenden so gering, daß auf 100 Frauen noch nicht 100 Kinder entfallen! Es liegt durchaus im Machtbereiche der Eingeborenenhygiene, hier erfolgreich einzugreifen.
In erster Linie liegt zunächst das Wesen vieler hygienischer Forderungen in der Verhütung von Schädlichkeiten; also weniger im aktiven Vorgehen als im Fernhalten drohender Gefahren, die man als solche erkannt hat. Bei sanitären Arbeiten aber, die wirklich große Ausgaben verursachen, wie die wirksame Bekämpfung von Volksseuchen, müssen wir uns immer vor Augen halten, daß diese Summen ein werbendes Kapital mit hoher Verzinsung darstellen. Entschließen wir uns nicht, es in genügender Höhe anzulegen, so laufen wir Gefahr, einen scheinbaren wirtschaftlichen Fortschritt in den Kolonien zu erzielen auf Kosten eines Rückganges ihres unersetzlichen Stammkapitals, ihrer Bevölkerung. Handelt es sich doch im Grunde genommen bei vielen Stämmen um nichts weniger als die bündige Frage des Seins oder Nichtseins.
Neben die Personalhygiene hat die ebenso wichtige Volkshygiene zu treten. Was wir nun bisher ärztlich für den Neger tun, liegt zum weitaus überwiegenden Teile auf dem Gebiete der ersteren und muß unter den gegebenen Verhältnissen dort liegen, wenn wir bedenken, daß unser Land vorläufig nur wenige Ärzte hat. Von ihnen wird die eine Hälfte vom Küstengebiete mit seiner verhältnismäßig zahlreicheren Europäerschaft gestellt, die andere verteilt sich über die weite Fläche des Inlandes. Selbst wenn diesen Ärzten neben der Erfüllung ihres täglichen Dienstes für Weiße und Schwarze und neben ihren mannigfachen verwaltungstechnischen Obliegenheiten, noch freie Zeit bliebe, so wären sie doch fast mittellos gegenüber den Riesenaufgaben der Volkshygiene.
Das zukünftige Programm unseres Sanitätswesens muß dahin zielen, letzterer zu ihrem Rechte zu verhelfen. Ich will nur einige wenige Aufgaben dieses volkswirtschaftlich so überaus wichtigen Gebietes nennen, die immer ihrer intensiven Förderung bedürfen: wie Seuchenbekämpfung (Pocken, Lepra, Schlafkrankheit, Dysenterie, Wurmkrankheit), Erforschung und Beseitigung der Gründe der übergroßen Kindersterblichkeit, Verhütung und Bekämpfung der venerischen Erkrankungen, Fernhaltung des Schnapses, Wasserversorgung, Studium und Bekämpfung der Entartungserscheinungen gewisser Stämme, die Frage der überhandnehmenden künstlichen Fruchtabtreibungen, die Prüfung, wie unsere Kultur den Neger hygienisch beeinflußt, Arbeiterhygiene u. a. m.
Keinem dieser aufgeführten Probleme wird man eine weittragende Bedeutung absprechen können, von keinem wird man sagen dürfen, daß es nicht ebenso wichtig sei als die ärztliche Versorgung des einzelnen, erkrankten Negers. Freilich wird der Arzt allein kaum eine der genannten Aufgaben bewältigen können, die weitgehende Mithilfe der Verwaltungsbehörden muß hinzukommen. In das wirtschaftliche Programm der Bezirke muß neben Wegebau, Volkskulturen und anderem auch die hygienische Kultur des Volkes aufgenommen werden, damit uns in den kommenden Jahrzehnten nicht der Vorwurf gemacht werden kann, das Fundament aller wirtschaftlichen Entwicklung, die Pflege der Bevölkerung, vernachlässigt zu haben. Ich schwärme keineswegs für übergroße Humanität in der Behandlung unserer Eingeborenen und noch weniger für das Aufzwingen einer hohlen Scheinkultur, sondern wünsche ihnen im Gegenteil zu ihrem eigenen und zu unserem Vorteile ernste Dressur zur Arbeit. Aber gerade je mehr wir sie zur Arbeit für uns heranziehen, um so größer wird unsere Pflicht, auch auf ihre körperliche Leistungsfähigkeit, auf ihre Gesundheit zu achten.
Vielfach ist es in unseren Kolonien so, daß gerade die Kulturerrungenschaft, die dem engeren Wirkungskreise des darüber urteilenden Europäers angehört, für dasjenige Gut gehalten wird, das vor allen anderen unseren überseeischen Besitz einer glücklichen Zukunft entgegenführen soll. Und es ist gut so; denn wir bedürfen eines berufsfreudigen Optimismus der Kolonisten. So setzt der Kriegsmann seine Gefechte, der Verwaltungsbeamte seine Erlasse, der Missionar seine Konfession, der Faktorist seine Waren, der Pflanzer seine Kulturen und wer sonst sich an der Arbeit in den Schutzgebieten beteiligt, sein persönliches Gebiet an die Spitze kolonialer Erfordernisse. Man wird es deshalb einem Arzte und alten Afrikaner um so leichter verzeihen, wenn auch er so unbescheiden ist und sich dem Glauben hingibt, als sei sein Metier, die Volkshygiene im weitesten Sinne des Wortes, vielleicht doch auch eins von den Kulturgütern, dessen Vermittelung an die Eingeborenen nicht zurückstehen darf.
Unter mehr als dutzendfachem Wechsel meines Arbeitsfeldes und auf Reisen habe ich im Verlaufe von acht Kolonialdienstjahren wohl mehr von Land und Leuten in unseren beiden westafrikanischen Tropenkolonien Togo und Kamerun (und gelegentlich auch in fremdländischen) kennengelernt, als anderen gewöhnlich vergönnt ist. Ich rechne mir diesen Zufall nicht zum Verdienst an. Aber in immer mehr sich erweiternder, sachlicher Erkenntnis Kameruner Verhältnisse bin ich zu der festen Überzeugung gekommen – und die Berechtigung, sie zu haben, nehme ich für mich in Anspruch –, daß wir noch intensiver als bisher die Eingeborenenhygiene des Landes in den Kreis unserer dringenden kolonialen Pflichten einbeziehen müssen, wenn wir nicht schwere, ja vielleicht unwiederbringliche Einbuße an seiner Bevölkerung verschulden wollen!