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3. September
Unser koloniales Alltagsleben ist an bedeutungsvollen Ereignissen arm. Gleichförmig und eintönig fließt es oft lange Zeit dahin; selbst diejenigen Vorgänge, die bei ihrer Entwicklung die Welt zu Hause in Spannung erhalten, stehen erst nach Wochen als fait accompli vor uns; aber heute war ein »großer Tag«, ein dies festus für uns in Kribi. Neun Abgeordnete der Budgetkommission hatten sich aufgemacht, um ihre Sommerferien mit einer Studienreise nach der Togo- und Kamerunküste auszufüllen und kamen heute hier am südlichen Endpunkte ihrer Fahrt an. Einer der Ausgezogenen war leider auf der Ausreise gestorben und liegt auf dem Friedhofe Lomes begraben. Ein zweiter hatte mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand von dort aus die Rückreise antreten müssen.
Nun, ein Vergnügen ist diese Reise für die Abgeordneten sicher nicht gewesen. Das Programm, das sie sich für knapp zwei Wochen – mehr Zeit stand ihnen für den Besuch zweier ganzer Kolonien nicht zur Verfügung – zur Erledigung zusammengestellt hatten, war ein äußerst strapaziöses; ich war erstaunt, daß die Herren, die teilweise doch schon den älteren Altersklassen angehörten, sich diese Anstrengungen zumuteten. Mußten sie doch die Nächte mehrmals zu ihren See- und Flußfahrten benutzen, um tagsüber alles das zu sehen, was sie sich vorgenommen hatten. Ich glaube, soweit die äußeren Bedingungen, unter denen die Reise stattfand, es überhaupt zuließen, haben sie alles, was sie von ihrem Unternehmen erhoffen konnten, in Erfüllung gehen sehen.
Die Kürze der Zeit steckte ihnen freilich enge Grenzen. Der Besuch konnte sich natürlich nur auf die Küstenregion beschränken, und auch dafür reicht bei allem guten Willen diese Zeit nicht aus, um ein vollständiges Bild vom Leben und Treiben in ihr zu bekommen. Ein Einblick in die ebenso wichtigen wie schwierigen Unternehmungen des weiten Hinterlandes mußte ihnen völlig verschlossen bleiben. Es gibt fernerhin viele, gerade fürs koloniale Leben wichtige Dinge, die weder durch kurze eigene Anschauung noch durch eine selbst eingehende Aussprache mit Ortskundigen bei einer solchen Reise gründlich und objektiv erfaßt werden können. Das sind z. B. das Verhältnis der Eingeborenen zu den Europäern, die Lebensgewohnheiten der Weißen und Schwarzen, die Arbeitsverhältnisse in unsern Schutzgebieten u. a. m. Alles dies läßt sich nur bei längerem Verweilen, nur durch innigere Fühlung, durch langes, fortgesetztes Studium, durch zahlreiche sich ergänzende Beobachtungen ergründen. Trotzdem begrüßen wir den Schritt der Abgeordneten mit großer Freude. Das Interesse, das sie für alle Verhältnisse an den Tag legten, war entschieden ein weitgehenderes, als wir erwarteten.
Die Notizbücher waren in fleißiger Benutzung. Am lebhaftesten schienen die beiden süddeutschen Abgeordneten bemüht zu sein, sich eine richtige Anschauung von unserm Leben und Wirken zu verschaffen.
Noch in der Dunkelheit des Morgens ging die »Herzogin Elisabeth«, mit der sie über Nacht von Viktoria her gekommen waren, vor Anker; 7 Uhr bereits wurde gelandet. Ich hatte absichtlich keine Festlichkeiten für die Ankommenden arrangiert, und auch Regierungsrat St., der gestern nachmittag erst von einer Buschreise zurückkehrte, war damit einverstanden und setzte nur gemeinsames Mittagessen im Bezirksamt an. Potemkinsche Dörfer bekamen sie hier nicht zu sehen. Das Bild von Kribi sollte ein ungeschminktes sein und war es auch, sogar mit reichlicher Wasserbeigabe vom Himmel herab, denn leider ließ die gerade jetzt herrschende Regenzeit das Äußere des landschaftlich sonst freundlichen Ortes in etwas gar zu trübem Lichte erscheinen. Die Leute suchten offenbar nach besten Kräften einen richtigen Gesamteindruck der Verhältnisse zu bekommen. Faktoreien, Missionsanlage, Beamtenwohnungen, Gefängnis, Brücken, Wege, Bezirksamt, Büro, alles wurde mit gleich eingehendem Interesse besichtigt und erörtert. Mit gutem Humor ertrugen sie die ungewohnte, mit Regen gepaarte Tropenschwüle. Zwei von ihnen bestiegen sogar einen Gaul und »versuchten« den Weg nach Plantation zu reiten. Ich glaube, sie hatten bald genug davon, denn an der ersten »Brücke« kehrten sie um, nachdem der eine kühne Reiter, Dr. S., vom Pferde abgeworfen worden war; bei der Kleinheit des Tieres und bei der respektablen Schwere des Reiters immerhin ein Kunststück. Eine andere Gruppe pilgerte die Jaundestraße in den Urwald hinein bis zur nächsten Mabeaniederlassung.
Am Nachmittage brachten die Boote sie wieder zum Dampfer. Für Dr. A., der ein Freund von ethnologischen Kuriositäten zu sein schien und nebenbei an Land Bogen, Pfeile, Speere u. a. gesammelt hatte, ließ ich in aller Stille als Andenken an Kribi ein ganzes, altes, ausrangiertes Kanu an Bord befördern. Ob er es freilich mit nach Deutschland nehmen wird, weiß ich nicht.
Als ärztlicher Mentor war ihnen Oberstabsarzt Dr. Ziemann beigegeben worden, der, zufällig von einem Heimaturlaub kommend, auch die ganze Ausreise bereits in ihrer Gemeinschaft zurückgelegt hatte. Mir war es eine große Freude, ihn bei dieser Gelegenheit kennenzulernen, nachdem ich schon seit Jahren viele seiner tropenhygienischen Forschungsergebnisse verfolgt und in Duala manche seiner praktischen Erfolge beobachtet hatte.
Von den einzelnen Reichstagsparteien waren Zentrum und Sozialdemokratie nicht vertreten. Die Gründe ihres Fernbleibens kennen wir nicht. Ich bin fest überzeugt, daß selbst dem vorurteilsvollsten Kolonialgegner das Verständnis für unsere Schutzgebiete am ehesten und sichersten dadurch kommen wird, daß er sie kennenlernt.
Als alter Togopatriot freute ich mich besonders, daß ihnen Togo einen äußerst günstigen Eindruck gemacht zu haben schien, trotzdem ja erklärlicherweise ein schwerer Schatten durch den erwähnten Trauerfall auf ihren dortigen kurzen Aufenthalt gefallen war. In Kleinpopo hatten ihnen vor allem die in den Faktoreihöfen gerade aufgestapelten Maisvorräte imponiert. Sehr traurig war ich darüber, daß man unterlassen hatte, ihnen das Nachtigalhospital auch nur äußerlich zu zeigen, obwohl es von der Haltestelle der Bahn nur zwei ganze Minuten entfernt liegt, und obwohl man ja bei einer tropischen Studienreise auch für ein Tropenkrankenhaus bei ihnen Interesse voraussetzen durfte. Daß gegenüber Togo gerade im Kameruner Südbezirk noch viele dringende Aufgaben ihrer Lösung harren, konnte natürlich nicht verborgen bleiben. v. R., der Senior der Abgeordneten, drückte in seiner Erwiderung auf die Begrüßungsansprache bei Tisch diese negative Seite schonend so aus, daß er sagte: die Kultur scheine in unsern Schutzgebieten langsam von Norden nach Süden vorzuschreiten. Zahlreiche Wünsche werden ihnen sicher von allen Seiten vorgetragen worden sein; allerhand Wege, die zum Ziele führen sollen, wird man ihnen mehr oder weniger eindringlich als gangbar geschildert haben. Die Hauptfrage, auf die sie nach beendeter Reise sich und der Heimat die Antwort werden geben müssen, lautet: was tut unseren Kolonien not?
Die Antwort darauf ist nicht leicht in gleicher Kürze gegeben, denn vielerlei Bedingungen müssen erfüllt werden, viel Arbeit ist zu leisten, um die Entwicklung unserer Schutzgebiete zu sichern, aber etwas, was ihnen allen not tut, mögen sie in Süd-, Ost-, Westafrika oder der Südsee gelegen sein, das ist ein lebendiges, nachhaltiges Interesse der Heimat. Erhoffen wir von dem Unternehmen der Abgeordneten eine Erweckung derselben. Geht nur diese eine Hoffnung in Erfüllung, so ist schon viel gewonnen. Ich glaube auch, daß eine Rückwirkung auf breitere Schichten daheim nicht ausbleiben wird. Es wird Sauerteig in die bisher kolonialträgen Massen unseres Volkes gebracht werden. Die Gelegenheit dazu ist gerade jetzt günstig, denn der Aufstand in Südwestafrika hat manchen Schläfer aufgerüttelt und ihm ins Gedächtnis zurückgerufen, daß auch außerhalb der Karte Europas noch deutsches Land zu suchen ist. Wird es den Heimkehrenden gelingen, überdies auch einzelnen der vielen berechtigten Wünsche, die ihnen gegenüber geäußert worden sind, Gehör zu verschaffen, so wird der Schritt, den sie gewagt haben, den doppelten Nutzen für unsere Kolonien und für das Vaterland haben. Möchte ihr Beispiel Nachahmung finden.