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An Bord, 29. Juli
Unser Dampfer naht sich nach zwanzigtägiger Fahrt dem Ziele. Gerade diese Reise bedeutet für die Reederei einen Markstein ihrer Entwicklung, es ist die erste Fahrt ihres neuesten und schnellsten Schiffes, der »Eleonore Woermann«. So kam es auch, daß der Reeder selbst und eine große Zahl seines Verwandtenkreises teils bis Southampton, teils bis zu den Kanarischen Inseln an ihr teilnahmen. Leider verunglückte der erste Akt dieser Premiere: unsere Ankunft in Southampton. Eine stürmische Fahrt in der Nordsee hatte den neuen Maschinen Schaden zugefügt, so daß wir mit erheblicher Verspätung dort einliefen. Diese Verzögerung war deshalb höchst unwillkommen, weil in Southampton ein Repräsentationsdiner an Bord vorgesehen war. Die Geladenen mußten sieben Stunden auf uns warten. Das Diner fand trotzdem statt, allerdings in gedrängtem Verlaufe. Den folgenden Tag lagen wir zur Reparatur des Maschinendefekts vor Anker, und der unfreiwillige Aufenthalt gab uns Gelegenheit zu einem Besuche der Stadt, die noch den Festschmuck von Tausenden von Fahnen, Transparenten und Girlanden für die verunglückte Krönungsfeier König Eduards zeigte.
Als ich vor zwei Jahren entlang der afrikanischen Westküste nach Südafrika zog, da trug mich eines der ältesten und kleinsten Fahrzeuge der Woermann-Linie, die alte wackelige »Gertrud«, und es war ihre letzte große Meeresfahrt. Die Zeichen der nahenden Altersschwäche verbannten sie von der hohen See, so daß sie von da ab nur noch den Küstenverkehr von Südwestafrika vermitteln durfte.
Unsere Weiterreise ging von Southampton ab glatt vonstatten. Sie war über Madeira und die Kanarischen Inseln mit allen ihren malerischen Reizen, ihren Weinbergen, dem schmutzigen, aber heiteren Völkchen ihrer Bewohner, die von der Ausbeutung durchreisender Fremder leben, die gleiche wie damals. Auch bis Monrovia, dem Hauptplatze der Negerrepublik Liberia, an dem wir wieder die Zerrbilder einer dem »freien« Neger aufgepfropften europäischen Kultur bewundern konnten, bot sie mir nichts Neues. Von Monrovia ab liefen wir die Hafenplätze der Elfenbein- und Goldküste an. Leider sahen wir alle diese Orte nur von der See aus, denn unser Aufenthalt war nirgends mehr als auf einige Stunden bemessen, so daß ein Besuch an Land unmöglich war. Ich hätte sie gern kennengelernt, um wenigstens einen äußeren Vergleich zwischen diesen westafrikanischen, französischen und englischen Niederlassungen mit denen der deutschen Kolonien zu haben.
Sehr gern hätte ich auch die Stätten besucht, an denen vor langer Zeit die ersten deutschen Kolonialträume geträumt wurden. Es wird vielleicht nicht allen bekannt sein, daß vor mehr als zwei Jahrhunderten kein geringerer als der Große Kurfürst mit weit vorausschauendem Blick hier in dieser Gegend die Flagge Brandenburgs hatte hissen lassen. Mehrere brandenburgische Forts, von denen noch heute vereinzelte Trümmer und Erdwälle als letzte Reminiszenzen vorhanden sind, hatte er hier zum Schutze des Handels mit afrikanischen Produkten errichtet. Nach seinem Tode wurden auch seine Kolonialpläne bald zu Grabe getragen, wo sie still geruht haben, bis sie im neuen Deutschen Reiche zu neuem Erwachen kamen und auf die kurze kurbrandenburgische Kolonialepoche die hoffentlich lange währende des Deutschen Reiches folgen wird.
Heute abend noch gedenken wir vor »unserm« Afrika, vor Lome, dem Hauptorte Togos, einzutreffen und morgen in aller Frühe an Land zu gehen.
5. August
Gewiß wollt Ihr nun gern von mir alles mögliche über Land und Leute, über die ersten Eindrücke, welche die neuen Verhältnisse auf mich gemacht haben, wissen. Wie soll ich sie Euch schildern? Alles ist neu für mich. Bisher komme ich mir noch vor wie ein entwurzelter Baum, herausgerissen aus dem alten Erdreich, verpflanzt in einen neuen, ungewohnten Boden, ohne zu wissen, ob er dauernd feste Wurzeln schlagen wird. Welcher gewaltige Kontrast, beruflich und außerberuflich, in so kurzer Zeit! Vor wenigen Wochen noch im idyllischen Bergdorfe, den langen Talweg zu meinen Kranken wandernd, heute in den engen Gassen des Negerortes Kleinpopo. Vor kurzem noch im trauten Heim, bei meinem Weib und frohem Kinderlachen, heute unter fremden schwarzen Gesichtern. Unlängst noch um mich die imposanten, dicht bewaldeten heimatlichen Berge mit ihren Fichten und Tannen, die Täler mit wogendem Korn, das der Ernte entgegenreifte, heute in der afrikanischen Küstenebene, unter Kokosbäumen, Eukalypten, Ölpalmen und anderer exotischen Vegetation; einen Steinwurf weit vom Hause entfernt das immer brandende Meer, mit seiner weiten, endlosen Fläche. Vor wenigen Wochen noch einen Ausblick auf eine der schönsten Gegenden des deutschen Vaterlandes; heute schaut das Auge, soweit es nicht die See streift, über die strohgedeckten Hütten der Eingeborenen und niederes Buschwerk. Kurz, ein großer Gegensatz in allem. Aber er wird nicht unüberwindlich sein. Eine Hilfe habe ich dabei, die mir vom alten zum neuen Erdteile treu bleiben und mich auch hier heimisch machen wird: die Freude an meinem Berufe! Sie wird mir ein Führer aus dem altgewohnten, heimatlichen Leben hinein ins neue, afrikanische sein. Ich habe guten Mut. Das Arbeitsfeld ist hart, aber gewiß fruchtbar, wenn es ordentlich bearbeitet wird. Ich werde mich anfänglich ganz auf meine Berufstätigkeit zu beschränken haben und auch da erst vorsichtig tastend herausfühlen müssen, was von europäischen, mit herausgebrachten Anschauungen in die neue Umgebung herein paßt, was einer Umwandlung bedarf und was völlig über Bord geworfen werden muß.
Am 30. Juli morgens verließen wir sechs Passagiere für Togo, darunter auch eine Krankenschwester F. L., unsern Dampfer. Die Bordkapelle spielte uns noch einen Abschiedsgruß, und zehn Minuten später fuhren wir durch die gefürchtete Brandung, die es gnädig mit uns machte und uns leidlich trocken an Land kommen ließ. So standen wir wieder auf festem deutschen Boden. Lome macht schon von der See aus einen überaus freundlichen Eindruck, und wenig erweckt in seinem Äußern die Vorstellung vom »dunkeln« Erdteil. Ich glaube nicht, daß sich einer der vielen, gleich großen Plätze der Westküste Afrikas an Sauberkeit mit ihm messen darf. Obwohl es verkehrt ist, so wird man sich unwillkürlich immer im voraus von einem Orte eine Vorstellung machen, ehe man ihn zu sehen bekommt. So hatte ich mir das Bild der Togoküste entsprechend dem mir bekannten Südwestafrika zurechtgelegt, aber die Wirklichkeit war viel schöner als mein Phantasiegemälde. Breite schmucke Straßen, denen selbst die Namenschilder nicht fehlen, mit Kokospalmen oder anderen Bäumen bepflanzt; freundliche Europäerhäuser, weiß in grünem Pflanzenwuchs, zwischen denen nur ganz vereinzelt einige Negerhütten ihr vorläufiges Dasein fristen, das ganze Bild überragt von zwei hohen, schlanken Türmen der neu erbauten katholischen Missionskirche. Wie aus einem Baukasten eben hingesetzt, präsentiert es sich dem ankommenden Fremden.
Eins fiel mir auf. Die Anlage und Bebauung Lomes sind sicher nach einem regelrechten und wohldurchdachten Plane erfolgt. Aber das, was bisher gebaut worden ist, zeugt in seinem Stile von merkwürdig wechselndem und auch verschiedenwertigem Geschmacke. Ich will indessen nicht vorlaut urteilen; mag sein, daß der Baustil in den Tropen hinter hygienischen und andern Nützlichkeitsgesichtspunkten völlig zurückzutreten hat. Ich schätze die Zahl der Europäerhäuser auf etwa 60; und soviel Häuser, soviel verschiedene Bauarten weisen sie auf. Es wechselt der Stil des Schweizerhäuschens mit Anklängen an orientalische Bauart, kasernenartige Gebäude, klosterartige und solche im Barackenstil, alles ist vertreten. Dadurch leidet aber der Gesamteindruck keineswegs; im Gegenteil bieten die verschieden gestalteten Häuser mit ihrem hellen Farbenanstrich im Palmengrün ein abwechslungsreiches Gesamtbild. Zwei gemeinsame Merkmale tragen sie bei aller sonstigen Verschiedenheit wohl sämtlich, das ist die breite gedeckte Veranda und ein hoher Flaggenmast; von ihm herab wehen bei jeder festlichen Gelegenheit, wozu auch die Ankunft des Dampfers aus der Heimat gehört, die deutschen Farben.
Wohin sich nun zuerst wenden im fremden Lande? Wir wurden offenbar gar nicht erwartet; keine Seele kümmerte sich um die neu Angekommenen. So fragte ich nach dem Regierungsarzte Lomes – Togo hat zwei Ärzte, den einen in Lome, den andern in Kleinpopo – und pilgerte mit der Schwester zu ihm. Dr. K. gab uns bereitwilligst Auskunft, und von ihm aus wandten wir uns zum Gouvernement. Gouverneur K. war ein halbes Jahr zuvor gestorben, und als Stellvertreter amtierte Assessor H. Von ihm erfuhr ich, daß ich für Kleinpopo ausersehen sei und dort das Nachtigal-Krankenhaus übernehmen solle, das einzige Hospital für Europäer in Togo. Auch Schwester F. war für dasselbe bestimmt. Auf drei Uhr wurde bereits der Abmarsch dorthin festgesetzt. Die kurzen Stunden bis zum Aufbruch waren wir Gäste im Gouvernement.
Die Entfernung Kleinpopos von Lome beträgt etwa 50 km. Da indessen keine Straße diese beiden Hauptplätze der Kolonie verbindet – merkwürdig, da das Innere Togos bis weit ins Hinterland hinein ein Netz guter Straßen haben soll –, so führt der Reiseweg am Meeresstrande entlang. Das Beförderungsmittel ist die Hängematte. Sie wird an einer starken Stange aufgehängt, an deren Enden je ein Querholz befestigt ist. Dieses Querholz legen sich vier Eingeborene, zwei am Kopf-, zwei am Fußende auf den Schädel; so tragen sie die Hängematte mit ihrer Last. Um den Druck zu vermindern, drehen sie ein Tuch ihrer Bekleidung zu einem Knäuel und schieben ihn zwischen Holz und Kopf. Von Zeit zu Zeit wechseln sie mit vier andern Trägern ab. Ebenfalls auf dem Kopfe befördern die Neger Koffer, Kisten und sonstige Lasten.
So zogen wir am Nachmittage mit einigen zwanzig Schwarzen ab, zur Rechten das Meer, zur Linken das leicht ansteigende Ufer. Zwischen schlanken Palmen und niederem Gesträuch wurde hie und da ein Negerdorf sichtbar. Sonst ist der Togostrand ohne besondere Reize. Der Pflanzenwuchs ist im Dünensande spärlich, vereinzelte Kakteen und rotblühende, über den Sand sich hinwindende Schlinggewächse waren das einzige, was ich in nächster Nähe zu sehen bekam. Ab und zu trippelte ein Strandläufer oder eine Möwe ihrer Beute nach, bisweilen begegnete uns ein Eingeborener, der mit neugierigen Blicken den Inhalt der beiden Hängematten zu ergründen suchte. Nach einigen Stunden nahm die einbrechende Dunkelheit uns den Ausblick, und die Träger der kleinen Karawane hielten ihre erste Rast.
Wir waren in Bagida angekommen, wie mir einer von unseren Leuten, der englisch radebrechte, begreiflich machte. Bagida ist der Ort, an dem der erste »Landeshauptmann« Togos – jetzt haben wir dafür das weniger hübsche Fremdwort Gouverneur – seinen Sitz hatte. In der Finsternis war wenig vom Dorfe zu erkennen. Nur dicht am Strande ragten die Trümmer einer großen, zerfallenen Faktorei ins Dunkel der Nacht, wohl die Überreste aus einer vergangenen, besseren Zeit Bagidas. Nachdem die Träger geruht, gegessen und Wasser geholt hatten, setzten wir den Marsch fort. Die Schwarzen fingen an, ihre monotonen Lieder zu singen; zuweilen ermunterten sie sich auch mit lauteren Zurufen und stellten sogar trotz ihrer schweren Last ein lustiges Wettlaufen an. Nach weiteren vier Stunden brachten sie uns nach Porteseguro, wo sie ihre zweite Rast hielten, um sich nach einstündiger Erholungspause auf den Rest des Weges zu machen.
Wieder ertönten die einschläfernden Weisen der Schwarzen, die Brandung wurde leiser und leiser, und endlich schlief ich trotz der unbequemen Lage in der Hängematte ein. Leider, denn ich lag plötzlich nicht mehr in der Hängematte, sondern auf weichem Sande, ich war aus meinem Gestell herausgefallen, und ehe ich mich noch recht besinnen konnte, wurde ich herzhaft von den auslaufenden Wellen der Brandung geliebkost. Pudelnaß rappelte ich mich wieder auf und fror allen Tropen zum Trotz ganz erbärmlich, da die frische Seebrise mir durch die nasse Kleidung strich. Um nicht ein zweites unfreiwilliges Strandbad zu nehmen, entschloß ich mich, den Rest des Weges zu Fuß zurückzulegen. Auf dem Meere waren in der Ferne die ruhig stehenden Lichter eines Schiffes zu sehen, die nichts anderes sein konnten, als die Lichter eines vor Kleinpopo ankernden Dampfers.
Eine gute Stunde war ich neben der Hängematte der Schwester im Sande gelaufen, da wurde auch auf dem Lande ein Licht sichtbar. Zwei Uhr nachts hielten wir todmüde unsern Einzug ins Nachtigal- Krankenhaus.