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Die Schlafkrankheit

20. Januar

Vor einigen Monaten war durch einen Bericht, den die Mission nach Berlin geschickt hatte, die Aufmerksamkeit der Regierung auf das Vorkommen der Schlafkrankheit unter den Negern der Landschaft Boëm im Bezirke von Misahöhe gelenkt worden. Dr. H. war von Lome aufgebrochen, um sich an Ort und Stelle über dieselbe zu informieren. Seit seiner Rückkehr zur Küste weilt augenblicklich Dr. Kr., der inzwischen aus Deutschland zurückkehrte, am Herd der Krankheit, um ebenfalls ihre Entwicklung zu studieren und ihre Bekämpfung in Angriff zu nehmen. Wie es scheint, ist es nur ein kleines Gebiet dieser gebirgigen Gegend, in dem die Seuche festen Fuß gefaßt hat. Wieviel Eingeborene ihr bereits zum Opfer gefallen sind, wird sich kaum ermitteln lassen, aber jetzt scheint sie durch Aussterben der davon befallenen Ortschaften schon im Erlöschen zu sein Die Schlafkrankheit ist leider trotz der aufopferungsvollen Arbeit der Deutschen Schlafkrankheitskommission im Schutzgebiet nicht erloschen, sondern hat sich in den letzten 25 Jahren seht ausgebreitet. Ihre Bekämpfung wird eine der wichtigsten hygienischen Aufgaben nach Wiedergewinnung des Schutzgebietes sein..

Die Schlafkrankheit ist eine epidemisch auftretende, wohl in allen Fällen tödlich verlaufende Krankheit, über deren Ursachen man sich lange im unklaren war, bis vor nicht langer Zeit von Castellani in Uganda ihr Erreger in der Cerebrospinalflüssigkeit der Erkrankten entdeckt wurde. Dieser Parasit gehört zu den Trypanosomen und ähnelt in seiner äußeren Gestalt dem Erreger der Nagana der Rinder und Pferde, so daß man daraus wohl mit Recht auf eine analoge Übertragung der Schlafkrankheit schließen darf. In anderen Gebieten West- und Ostafrikas scheint ihre Ausbreitung weit stärker zu sein als hier, so daß dort der Bevölkerung große Gefahren drohen.

Die Krankheitserscheinungen sind im Beginn des Leidens wechselnd: hohes Fieber, Mattigkeit, heftige Kopfschmerzen usw., bis sich ein durch immer kürzer werdende Pausen unterbrochener, schlafartiger Zustand einstellt. Selbst zur Aufnahme der Nahrung müssen die völlig apathischen Kranken erst geweckt werden. Oft erst nach wochen-, selbst monatelangem Bestehen dieses Sopors gehen die hilflosen Patienten an Entkräftung zugrunde.

Rückkehr vom ersten Heimaturlaub

Kleinpopo, 2. August

Am 28. Juli kam ich mit dem Adolph Woermann glücklich wieder vor Lome an. Dasselbe Schiff brachte außer mir noch den Baumeister M. und den Landrentmeister G. nach Togo. Mehrere Europäer begrüßten uns schon an Bord, und Graf Z. schickte mir durch den Polizeimeister eine Einladung, im Gouvernement zu wohnen. Bis zum 29. abends war ich sein Gast und konnte mit ihm die mir in Berlin bereits angekündigte Impfreise ins Hinterland besprechen. Die Zeit bis Anfang Dezember, also vier Monate, stehen mir für diese Reise zur Verfügung. Dr. H. wird das Krankenhaus bis dahin weiter behalten und nach meiner Rückkehr zur Küste auf Urlaub gehen.

In Lome hat sich wenig verändert; das Äußere sauber, sonnig und freundlich wie immer. Leider wurde mir die Freude des Wiedersehens durch die Nachricht vom Tode des braven Assessors T. schmerzlich getrübt. Am 8. Juli war er im Nachtigal-Krankenhause gestorben. Nur ein Jahr war er in der Kolonie tätig gewesen und hatte bei all seinem guten Willen und Pflichteifer nur wenig Freude beruflich und außerberuflich erlebt. Seine aufreibende Arbeit scheint nicht ohne schädigenden Einfluß auf seine körperliche und geistige Widerstandskraft geblieben zu sein. Ein heimtückischer Typhus hat ihn schließlich dahingerafft.

H. war schon seit April als stellvertretender Kanzler nach Lome versetzt worden, hatte also kein halbes Jahr das Bezirksamt Kleinpopo verwaltet; an seiner Stelle ist ein Oberleutnant Sch. mit Frau in Sebe eingezogen, der bisher acht Jahre in Kamerun war.

Die Nacht vom 29. zum 30. benutzte ich zur Hängemattenreise von Lome nach Kleinpopo und traf gegen 5 Uhr morgens im Krankenhause ein. Alles lag noch im tiefen Schlafe. Ich zog mich möglichst geräuschlos in eines der leerstehenden Krankenzimmer zurück, bis beim Sonnenaufgang das Haus zum Leben erwachte. Farfara und Moritz waren die ersten, die mich mit verschlafenem, freudigem Grinsen begrüßten. Im Krankenhause fand ich mancherlei verändert. Äußerlich war es zwar dasselbe geblieben, nur unser kleiner, mit vieler Mühe zusammengebrachter und unterhaltener Tiergarten, der mir und vielen anderen so manche Freude bereitet hatte, war aufgelöst worden. Und von den Schwarzen sind gerade die besten alten Kräfte dem Hospitale untreu geworden. August ist nicht mehr im Dienste, und die beiden poliklinischen Lazarettgehilfen Dovi und Heinrich haben ebenfalls ihre Stellung verlassen. Heinrich ist Clark einer Firma geworden, und Dovi hat sich kurz nach meiner Abreise im Februar taufen lassen und hat daraufhin von der wesleyanischen Mission eine Anstellung als Lehrer erhalten. Schwester F. L. ist inzwischen auf Urlaub gegangen, eine Schwester Fr. M. ist an ihre Stelle getreten. Schwester G. K. hat aus gesundheitlichen Rücksichten ihren Tropendienst aufgeben müssen und wird ohne Ersatz bleiben, so daß fortan nur zwei Schwestern im Krankenhause Hilfe leisten.

Im Laufe der nächsten Tage muß ich meine Vorbereitungen zur Reise treffen. Ich will den Osten des Schutzgebietes, die beiden Bezirke Atakpame und Sokode, aufsuchen und will sehen, möglichst viel Schutzpockenimpfungen unter den dortigen Eingeborenen selbst vorzunehmen, um die Schutzimpfung bei ihnen einzubürgern. Da in diesen Gegenden genügend Rinderherden vorhanden sind, will ich die erforderliche Lymphe an Ort und Stelle selbst herstellen. Für den Anfang hat Dr. Kr. in Lome mir 2000 von ihm gewonnene Portionen Lymphe überlassen. Hoffentlich wird diese Impfreise der Beginn einer ersten allgemeinen Durchimpfung des Landes sein. Ich will versuchen, auch eingeborene Hilfskräfte in beiden Bezirken so weit zu bringen, daß sie sachgemäß impfen lernen und das unter ihren Landsleuten begonnene Werk fortsetzen können. Zu einer weiteren Aufgabe wird diese Reise voraussichtlich ebenfalls günstige Gelegenheit bieten: zu Nachforschungen über die Ausbreitung der Lepra unter den Eingeborenen.

Damit habe ich den Hauptzweck meiner Reise genannt. Im einzelnen muß ich natürlich die Ausführung meines Programms den örtlichen Verhältnissen anpassen und werde mir dabei zuvor den Rat der Stationsleiter in Atakpame und Sokode einholen, die beide schon durch jahrelange Tätigkeit ihre Bezirke genau kennen. Lieber wäre mir, ich hätte die doppelte Zeit zur Verfügung, um auch den Westen des Landes durchziehen zu können. August, der augenblicklich beschäftigungslos ist, hat sich erboten, mich auf der Reise zu begleiten. Da er im Impfen und sonstigen ärztlichen Hilfeleistungen ganz gewandt ist, nehme ich ihn sehr gern mit. Außerdem wird Adubi als Küchenmeister mit mir gehen. Im Oktober werde ich voraussichtlich mit Dr. Sch. im Hinterlande zusammentreffen können, der dort umfangreiche Impfungen gegen Nagana vornehmen will.

Neuer Zolltarif

Kleinpopo, S. August

Seit dem 1. August ist ein neuer Zolltarif für Togo in Kraft getreten, der eine wesentliche Steigerung der bisherigen Zolleinnahmen des Landes erwarten läßt. Entscheidend war für seine Einführung an erster Stelle das Bestreben, die Verzinsung und Amortisation des Kapitals zu ermöglichen, das die nunmehr bewilligte Bahn von Lome nach Kpalime erfordert. Ob alle Änderungen des Zolltarifs von den Europäern mit besonderer Freude begrüßt werden, möchte ich bezweifeln. Der allgemeine Wertzoll, der für alle Einfuhrartikel, die nicht einem spezifischen Zoll unterliegen, bisher 4 Prozent betrug, ist von jetzt ab auf 10 Prozent erhöht worden. Es unterliegen ihm also auch alle nicht dem Handel dienenden, sondern nur für den persönlichen Bedarf des Europäers eingeführten Waren und Lebensmittel.

Läßt zum Beispiel ein Europäer jährlich für den Betrag von 1000 Mark Nahrungsmittel aus Deutschland kommen, so hatte er bisher 40 Mark Zoll zu entrichten, von jetzt ab 100 Mark; also immerhin eine sehr empfindliche Steigerung. Ebenso werden die ohnehin schon hohen Preise der Faktoreien für Konserven, Getränke und andere Artikel dadurch noch beträchtlich steigen, so daß die allgemeine Lebensführung in der Kolonie erheblich verteuert werden wird. Wertvoller sind die übrigen Änderungen des Zolltarifes, die einen Mehrertrag der Einnahmen auf Kosten der Eingeborenen versprechen. Für Salz, das bisher in Togo völlig zollfrei war, ist eine Abgabe von 2 Mark für 100 kg eingeführt worden. Da es besonders im Hinterlande ein von den Schwarzen sehr begehrter Handelsartikel ist und in kleinen Mengen zu ganz enormen Preisen verkauft wird, kann es diese Besteuerung sehr gut vertragen. Der Zoll für Feuerwaffen ist pro Stück von 2 auf 3 Mark und von Pulver von 50 Pfennig auf 1 Mark fürs Kilogramm erhöht worden. Vielleicht wäre es für Togo sogar möglich gewesen, gerade auf Salz, Pulver und Gewehre nicht nur einen erhöhten Zoll zu legen, sondern genau wie für den Alkoholverkauf eine besondere Lizenz einzuführen. Der Handel mit ihnen ist so rentabel, daß er auch diese Belastung noch gut vertragen könnte. Zucker und Petroleum, die bisher ebenfalls zollfrei waren, sind von jetzt ab mit 5 Mark für 100 Kilogramm bzw. mit 5,5 Pfennig fürs Liter zu verzollen.

Zur allgemeinen Überraschung ist der Spirituosenzoll vorläufig vom neuen Zolltarif unberührt geblieben. Selbst die Firmen hatten eine wesentliche Erhöhung, mit der sie sich einverstanden erklärt hatten, erwartet, und in dieser Erwartung große Vorräte von Branntwein aufgestapelt. Ich glaube, daß diese Erhöhung doch sehr bald eintreten wird und nur durch Verhandlungen mit den Nachbarländern verzögert wurde. Es ist für Togo natürlich von großer Bedeutung, daß es bei einer Erhöhung des Zolls auf Spirituosen nicht über die Höhe der Zölle der englischen Gold-Küste und des französischen Dahome hinausgeht, womit nur ein lebhafter Grenzschmuggel zugunsten der ausländischen Firmen erzielt werden würde Im November 1904 trat auch die Erhöhung des Einfuhrzolles für Spirituosen in Kraft. Alle Alkoholika von 50 % Gehalt sind pro Liter mit 64 Pf. belastet. Jedes Prozent mehr erhöht diesen Betrag um 1,3 Pf. Früher betrug der Satz 48 Pf..

Von größerer Bedeutung für das Schutzgebiet wird auch eine andere Neuerung werden, die sich im Laufe der letzten Monate vollzogen hat: der sogenannte Kitta-Vertrag mit England ist von Deutschland gekündigt worden und seit Ende April dieses Jahres außer Kraft getreten. Mit diesem Namen bezeichnen wir in der Kolonie ein Zollabkommen mit England aus dem Jahre 1894, durch das der östlich vom Volta liegende Teil der englischen Gold-Küste, der direkt dem Hinterlande von Togo vorgelagert ist, mit Togo in Zollunion stand. Es hieß das nichts anderes, als daß die Firmen der englischen Hafenplätze dieses Gebietes: Kitta und Denu ihre Waren zollfrei vom englischen Gebiete direkt ins deutsche bringen durften. Dieses Kitta-Abkommen setzte seinerzeit der schon unbegreiflichen Regulierung der westlichen Grenze, die ich wohl früher bereits erwähnte, die Krone auf.

Meine Reise nach Atakpame

Voga, 12. August

Während ich diese Zeilen meinem Tagebuche einverleibe, sitze ich zur Mittagsrast in Voga unter einem großen schattigen Affenbrotbaume des Dorfplatzes, umringt von einer Schar neugieriger Kinder. Über mir zwitschern ungezählte Webervögel, deren Nester zu Hunderten an den Zweigen hängen.

Heute morgen bin ich aufgebrochen, omnia mea mecum. Bis nach Atakpame ist mein Weg derselbe, den ich vor dreiviertel Jahren in eiliger Fahrt mit dem Rade zurücklegte. Diesmal werde ich mir diese Reise etwas bequemer machen können. Die erste Einkehr hielt ich bei Lahwson in Wokutime, meinem »Freunde«; so nennt er sich wenigstens selbst, und zum äußeren Zeichen dafür hat er meine Visitenkarte, die er, wer weiß von wem, nur nicht von mir selber bekommen hat, nebst einer Reihe anderer am Spiegel seines »dinner-room« befestigt. Er servierte mir ein stattliches Frühstück, die Quantitäten natürlich nach dem Negerappetit bemessen; denn als erster bescheidener Gang figurierte eine große kalte Hammelkeule. Als Getränk setzte er mir in aufmerksamer Erinnerung meiner Verachtung des Alkohols eine Flasche Cola-Champagner vor. Auf der Etikette stand, trotz des deutschen Ursprungs des Fabrikates: free from alcohol zu lesen.

In allen größeren Ortschaften, die ich von Sebe aus berührte, kamen die Häuptlinge zur Begrüßung. Teils war ich ihnen von früherem gelegentlichen Aufenthalte in ihrem Dorfe her bekannt, teils kannten sie mich als Arzt, teils auch aus meiner kurzen, bezirksamtlichen Vertretungszeit. Mit besonderer Vorliebe behandelte ich in den Gesprächen mit ihnen den Anbau von Mais, suchte ihnen möglichst die Vorteile, die sie davon haben würden, auseinanderzusetzen und knüpfte regelmäßig die Ermahnung daran, möglichst viel davon anzubauen. Ich lebe der festen Überzeugung, daß es für Togo außer den bereits jetzt in Blüte stehenden Ausfuhrprodukten der Ölpalme eine weitere Trias gibt, deren rentabler Export zu großem Umfang entwickelt werden kann: Baumwolle, Erdnuß und Mais. Von diesen dreien bedarf die Hebung des Maisanbaues sicher der geringsten Nachhilfe des Europäers, und gerade für den Lagunenbezirk kommt er an erster Stelle in Betracht. Lahwson behauptete, daß schon während der jetzigen Farmzeit bedeutend größere Flächen von den Lagunenbewohnern angebaut worden seien als früher, und daß in der folgenden eine weitere Zunahme zu erwarten sei, wenn die Leute nur erst sähen, daß ihnen der Mais wirklich abgekauft werde. Hoffentlich beurteilt er seine Landsleute richtig.

Game, 13. August

Zu meinem größten Ärger höre ich eben von dem hier stationierten schwarzen Polizisten, daß Oberleutnant Pr. heute hier durchgereist sei und erst vor wenigen Stunden in der Richtung nach Lome abmarschierte. Ich hätte gern den Abend mit einer weißen Seele verlebt. Game liegt in der nordöstlichen Ecke des Lomebezirkes, dessen Bezirksamtmann Pr. ist. In der Nähe von Game treffen die drei Bezirke: Lome, Kleinpopo und Atakpame zusammen. Pr. hat ein sehr schönes Rasthaus errichtet, in dem ich eben sitze und schreibe, bis mein Abendbrot fertig ist.

Gestern gegen acht Uhr abends erreichte ich das Dorf Tschegbo. Leider mußte ich einen Teil des Gepäckes bei Einbruch der Dunkelheit in Akumape zurücklassen, da auf der letzten Strecke zwei Flüsse zu passieren waren und die Träger sich weigerten, schwere Stücke in der Dunkelheit hindurchzutragen. Ich gab ihnen die Weisung, beim Morgengrauen nachzukommen. Da die große Regenzeit für die Küste eben zu Ende gegangen ist, führen die Flüsse jetzt alle reichlich Wasser. Mehr als der Flußlauf selbst macht das Durchwaten des Sumpfes Schwierigkeiten, der sich in Ausdehnung von einigen hundert Metern an beiden Seiten dem Flußbett in der Regenzeit anschließt.

Im ganzen hat solch ein nächtlicher Flußübergang etwas von afrikanischer Poesie an sich. Die schwarzen Gestalten bis zu den Hüften im Wasser, ihre Köpfe mit Lasten beschwert, vorweg einer von ihnen mit einer Laterne auf dem Kopfe, vorsichtig von Schritt zu Schritt die Tiefe prüfend, am Ufer die riesigen gespenstischen Waldbäume, von denen die Stimmen der schreienden Neger in die Nacht hineinhallen, die sich ohne Unterbrechung einander zurufen, welche Stelle der Hintermann zu wählen hat; dazu Legionen zirpender Grillen. Leider war mir herzlich wenig poetisch dabei zumute, denn ich mußte mich, links und rechts einen Arm in ängstlicher Zärtlichkeit um den Nacken je eines Schwarzen geschlungen, durchschleppen lassen. Abgesehen von der ständigen Gefahr, dabei ins Wasser oder in den Sumpf gesetzt zu werden, benutzten mich unzählige Moskitos als willkommene Beute. Ich hatte zwar krampfhaft eine kurze Pfeife zwischen die Zähne geklemmt und dampfte verzweiflungsvoll drauflos, aber diese blutdürstigen Bestien kehrten sich nicht daran, und da ich meine Hände zum Festhalten nötig hatte, war ich ihnen wehrlos preisgegeben.

Beim Häuptling von Tschegbo, einem alten Bekannten, bezog ich Nachtquartier. Heute vormittag bin ich bis Esse gewandert, wohin der Weg streckenweise durch herrliche Palmenhaine führt. Hinter Esse hört, genau wie es vor dreiviertel Jahren auch war, ein wirklicher Weg auf, und man muß sich auf einem krummen Negerpfade durch hohes Gras und Gebüsch mühsam hindurchquälen. Dazu kam am Nachmittage zwischen Esse und Game der Übergang über den Haho, einen zur Regenzeit ganz ansehnlichen Fluß. Das Überschreiten bestand freilich in einem dauernden Voltigieren und Klettern über umgerissene oder angeschwemmte Baumstämme, die eine fehlende Brücke ersetzen mußten.

Ein kleines Mißgeschick verdarb mir leider die gute Laune für den Rest des heutigen Marsches. Ich war eben trocken über den Haho gekommen und wollte, müde von meinen turnerischen Leistungen, auf dem bis Game noch fehlenden Stück des Weges mich in der Hängematte tragen lassen. Ich hatte mich eben zurechtgelegt, die Landkarte unter den Rücken geschoben, um sie zur Orientierung nötigenfalls zur Hand zu haben, und war gerade in einen molligen Halbschlaf versunken, als ich jäh aus meinen Träumen emporschreckte. Die schwarzen Kerle, die mich trugen, waren mit mir hart über den Stumpf eines abgeschlagenen Baumstammes gefahren, der unerbittlich das Herz meiner Hängematte zerfleischte. Zum Glück war die auf Leinwand gezogene Landkarte unter meinem Rücken etwas tiefer gerutscht, so daß durch sie weiteren Zerstörungen vorgebeugt wurde, was ich im Interesse meiner Khakihosen mit Genugtuung konstatierte.

Eine kleine Bestrafung folgte für die Schuldigen auf dem Fuße. Notgedrungen mußte ich zu Fuß weitermarschieren. Im nächsten Dorfe kramte ich aus einem meiner Blechkoffer mein Nähzeug hervor und flickte mühsam nach allen Regeln der Chirurgie die schwere, klaffende Wunde meiner Hängematte. Eine halbe Stunde lang hielt das Meisterwerk, dann gab es wieder ein ominöses Geräusch, und ich zog es vor, den Rest der Strecke bis nach Game auf den Beinen zu bleiben. Morgen früh will ich meine Kunst noch einmal versuchen, und zwar wegen der Größe des Defektes mit Zuhilfenahme der Transplantation; »untersetzen« heißt wohl der eigentliche terminus technicus der Nähkunst?

Einen kleinen Trost hatte ich wenigstens bei diesem körperlichen und seelischen Schmerze. Während ich die Hängematte flickte, hörte August in dichter Nähe ein Buschhuhn schreien und bat mich um die Erlaubnis, es mit meinem Gewehr schießen zu dürfen. Nach zehn Minuten brachte er es an. Die Aussicht auf das gebratene Huhn half mir einigermaßen über meinen Kummer hinweg. Adubi ist eben dabei, es zuzubereiten, und ein einladender Duft zieht vom Hofe bereits ins Rasthaus zu mir herein.

 

Nuotschä, 14. August

Heute vormittag in leichtem Marsche Nuotschä erreicht, den ersten größeren Platz im Atakpamebezirke, seit dreiviertel Jahren Sitz einer von einem Europäer verwalteten Nebenstation. Leider ist letzterer gerade abwesend, um den Wegebau in der Umgegend zu inspizieren. Statt seiner kam mir auf dem Hofe der Stationsanlage ein sauber weißgekleideter Neger, mit gelben Lederstiefeln und blitzenden Goldplomben in den Vorderzähnen entgegen. »My name is Mr. (!) Robinson«, stellte er sich unter leichtem Lüften seines Tropenhelmes vor und lud mich ein, sein Gast zu sein, was ich indessen mit dem Hinweise auf meine eigene, genügende Verproviantierung dankend ablehnte. Im Laufe des Gesprächs entpuppte er sich als der amerikanische Baumwollexperte Robinson, der durch Vermittlung des Kolonialwirtschaftlichen Komitees nach Togo gekommen ist.

In einem leeren Räume der Wohnung des abwesenden S. habe ich mich häuslich eingerichtet, da ich bis übermorgen hierbleiben will. Gleich nach meiner Ankunft kam der Häuptling zu mir, der mich auch von meiner Durchreise im vorigen Jahr wiedererkannte. Er behauptete, den Zweck meines Kommens bereits zu kennen und erklärte mir, daß seine Leute gern bereit seien, sich impfen zu lassen; es seien gerade in den letzten Monaten wieder neue Pockenfälle in der Umgegend vorgekommen. Heute will er eine Bekanntmachung im Dorfe erlassen, und morgen früh werden die Impflinge antreten. Auch über die Lepra verhandelte ich mit ihm. Die Krankheit ist den Eingeborenen gut bekannt, und in der hiesigen Gegend nehmen sie in fortgeschrittenen Stadien sogar eine Art Isolierung der Aussätzigen vor. Sie müssen ihre Wohnungen abseits der anderen aufschlagen. Bei Märkten und anderen Zusammenkünften freilich mischen sie sich ungehindert unter die Gesunden. Da gerade die schwer Aussätzigen wahrscheinlich nicht zum Impfen kommen werden, so bat ich den Häuptling, sie mir zuzuschicken. Weil ich einen größeren Vorrat an Verbandmitteln und Medikamenten mit mir genommen habe, so erklärte ich ihm, daß auch alle anderen Kranken und Verletzten während meiner Anwesenheit zu mir kommen dürften; soweit ich könne, würde ich ihnen gern Arznei geben oder sie verbinden.

In den Nachmittagsstunden machte ich mit Robinson einen Rundgang durch die Umgegend, auf dem er mich über seine Arbeiten unterrichtete. Unter seiner Leitung steht hier in Nuotschä eine Baumwollschule für junge Eingeborene aus den verschiedenen Teilen des Landes. Zwischen 40 und 50 Schüler werden in allen Zweigen der Kultur, der Aberntung der Baumwolle sowie im Betriebe der Ginmaschinen und Pressen, die in Nuotschä aufgestellt sind, unterwiesen, damit sie ihre Kenntnisse später den Bewohnern ihrer Heimatdörfer vermitteln können. Auch einige frühere Regierungsschüler aus Sebe sind unter ihnen. Sie kamen gleich nach meinem Eintreffen zur Begrüßung an, hatten allerhand Wünsche auf dem Herzen, aus denen mir hervorzugehen scheint, daß ihnen die ungewohnte anstrengende Arbeit, zu der sie angehalten werden, nicht recht behagt, und daß sie sich wieder in ihre Heimat zurücksehnen. Die Lehrzeit beträgt zwei Jahre. Ihre praktische Unterweisung erfolgt auf den Baumwollpflanzungen, die Robinson in der Umgegend angelegt hat. Sie umfassen in diesem Jahre ungefähr 70 Hektar, von denen er mindestens 50 000 Pf. unentkernte Baumwolle zu ernten hofft. Soviel ich mit meinen Laienaugen urteilen kann, stehen seine Baumwollfelder sehr gut. Auf der Rückreise im Dezember werde ich hoffentlich Gelegenheit haben, sie in der Ernte zu sehen.

Leider sind seine Pflanzungen nicht von Schädlingen verschont geblieben, die sich auch in anderen Gegenden Togos gezeigt haben. Vielleicht sind sie mit amerikanischer Saat ins Land gekommen, vielleicht sind es aber auch einheimische Schädlinge, für welche die neuen Saaten nur besonders empfänglich sind. In den nächsten Wochen soll ein Pflanzenpathologe aus Deutschland im Schutzgebiete eintreffen, um speziell die Frage der Bekämpfung dieser Schädlinge zu studieren. Robinson sieht keine allzu große Gefahr in diesen Schädlingen, deren Auftreten, wie er meint, meist nur ein periodisches ist; die Baumwolle »gewöhne sich« an sie. In Amerika soll ihre Beseitigung zum Teil dadurch gelingen, daß man zwischen die Baumwolle Pflanzen aussät, die der Schädling erfahrungsgemäß lieber aufsucht als die Baumwolle (z. B. Mais), und daß man diese Zwischensaat dann, wenn sie von den Schädlingen befallen ist, ausreißt und verbrennt. Daß sich die Baumwolle an die Schädlinge gewöhnt, glaube ich freilich nicht. Die Tatsache, daß diese in neu bebauten Gebieten anfangs auftretenden Schädlinge oft von selbst wieder verschwinden, hängt wohl anders zusammen. Das mäßige Auftreten eines solchen Schädlings – greifen wir eine Blattmilbe als Beispiel heraus – gibt einem Gegenschädling, etwa einem insektenfressenden Käfer, besonders günstige Lebensbedingungen, so daß er sich besonders stark vermehrt und schließlich die Oberhand über den Schädling bekommt. Diesen Vorgang habe ich oft genug an den Gemüsebeeten unseres Krankenhausgartens beobachtet.

 

Nuotschä, 15. August

Nach des Tages Last und Hitze sitze ich auf dem Stationshofe von Nuotschä und rauche meine Friedenspfeife. Eben wird es finster, und August setzt mir die Laterne auf den Feldtisch. Um die Krone eines der riesigen Bäume der Nachbarschaft fliegen ungezählte große Fledermäuse, fliegende Hunde. Ihr Flügelschlag bringt ein eigenartig schwirrendes Geräusch hervor, halb wie das Rascheln trockenen Laubes, halb wie das Rauschen frischer Blätter im Winde. Auf mehreren anderen Baumriesen haben sich Aasgeier zur Nachtruhe niedergelassen. Im feuchten Grase ringsum leuchten Tausende von Glühwürmchen auf und nieder. Nur ab und zu stört der laute Klageton einer Eule die sonst tiefe afrikanische Ruhe.

Mit dem Ergebnis des heutigen Tages kann ich zufrieden sein. Schon vom frühen Morgen ab kamen die Impflinge zur Station, und im Laufe des Tages habe ich mit Augusts Hilfe über 500 Schwarze geimpft. Jeder Geimpfte bekommt auch einen einfachen Impfschein, auf dem nur aufgedruckt ist: Geimpft, Regierungsarzt, 1904. Ich halte eine Austeilung von Impfscheinen aus verschiedenen Gründen für zweckmäßig. Erstens legt der Neger einen großen Wert auf jeden schriftlichen oder gedruckten Ausweis des Europäers. Er verlangt deshalb bei jeder Gelegenheit einen »Oma«, womit er Brief, Rezept, Quittung, Attest, Zustellung, Strafbefehl, Impfschein, Zeitung, kurz alles versteht, was er geschrieben oder gedruckt vom Weißen in die Hände bekommt. Einen »Oma« hebt er auf wie ein Heiligtum, wobei er oft gar nicht weiß, was er enthält. So wollte kürzlich ein Schwarzer bei mir als »boy« in Dienst treten und zeigte mir stolz einen Oma seines früheren Herrn vor, auf dem zu lesen war, daß er sich durch besondere Faulheit ausgezeichnet habe und vor ihm nur gewarnt werden könne. Ferner bieten aber diese Impfscheine auch die Möglichkeit einer Kontrolle bei späteren Nachimpfungen, und endlich kann ich durch ihre Verteilung bequem und sicher feststellen, wieviel Impfungen ich vorgenommen habe.

Einige hochgradig Aussätzige, bei denen die Krankheit bereits den Verlust mehrerer Zehen und Finger herbeigeführt hatte, kamen im Laufe des Tages zu mir; auch viele, andere Patienten suchten mich auf.

Gegen 4 Uhr hatte ich genug, nahm meine Flinte, um in Begleitung von August die Felder der Nachbarschaft der Station nach einem Huhn zu durchstreifen. Wir waren kaum zehn Minuten durch ein Maisfeld gegangen, als August mir triumphierend allerhand Spuren zeigte. Leider bin ich selbst in deren Beurteilung noch sehr unsicher. Aber August behaupte mit großer Bestimmtheit, es seien die von Hyänen, Katzen und Antilopen. Als ich ihm eben auseinandersetzte, daß er über Nacht Fallen, von denen ich zwei mit mir führe, aufstellen solle, setzte kaum 30 Schritt entfernt quer durch das Maisfeld eine Schirrantilope. Ich schoß, obwohl ich nur Hühnerschrot im Lauf hatte. August versicherte, sie sei gut getroffen und demonstrierte mir durch Taumeln und Einknicken seiner langen Beine die Wirkung des Schusses auf die Antilope. Jedenfalls war sie zunächst für uns im benachbarten, dichten und mannshohen Grase verschwunden. Obwohl ich wenig Hoffnung auf Erfolg hatte, ließ ich mich durch die wiederholte Erklärung meiner schwarzen Autorität: »Esê (Antilope) wird bald sterben, ich werde sie bald finden«, zum Suchen bestimmen. Nachdem ich ihm eine gute halbe Stunde vergeblich durch dick und dünn gefolgt war, wobei er immer behauptete, ihr auf der Spur zu sein, wollte ich mißmutig den Rückzug antreten. Aber August widerriet sehr energisch: »égbòna víde«, es kommt gleich. Zwei Minuten später stieß er ein Freudengeheul aus: Oh hohoho; er hatte das verendete Tier gefunden. Stolz lud er es auf den Rücken. Augenblicklich zieht er ihm im Verein mit Adubi das Fell ab.

Morgen will ich die um Nuotschä herumliegenden Dörfer zu Impfungen und nach Leprösen absuchen und übermorgen nach Atakpame Weiterreisen.

Atakpame, 18. August

Gestern früh brach ich von Nuotschä auf und pilgerte bis Gley. Überall auf dieser 40 km langen Strecke waren die Spuren rastloser und planmäßiger Arbeit zu sehen. Seit Dezember vorigen Jahres waren allein zwischen diesen beiden Orten 22 kleinere und größere Brücken über die den Weg kreuzenden Wasserläufe geschlagen worden. Die Größe dieser Arbeitsleistung kann man nur würdigen, wenn man bedenkt, unter welchen erschwerten Verhältnissen sie geleistet werden müssen: ungeschulte Neger müssen die Bäume fällen, behauen, zersägen, die Brückendämme aufschütten, Ziegelsteine brennen, das Mauerwerk aufführen usw.

Auf halbem Wege begegnete ich vormittags einem Deutschamerikaner Buvinghausen Er starb an Schwarzwasserfieber im Mai 1905 auf dem Marsche zur Küste, wo er einen Urlaub antreten wollte, kurz vor Lome. Auch sein Nachfolger ist dem Klima bald erlegen., dem »Baumwollinspektor« der Kolonie, der sämtliche Versuchspflanzungen und sonstige mit der Einbürgerung der Baumwolle in Verbindung stehenden Unternehmungen des Kolonialwirtschaftlichen Komitees im Schutzgebiet zu beaufsichtigen hat. Einige Stunden später traf ich den in Nuotschä stationierten Beamten Sch., der die Arbeiten der Schwarzen am Wegebau leitet. Wir hielten gemeinsame Mittagsrast.

Als ich im Rasthause von Gley eintraf, fand ich zu meiner großen Freude Hauptmann v. D., den jetzigen Stationsleiter von Atakpame und Leutnant R. dort vor, der ersteren während eines Heimaturlaubes, den er in einigen Wochen antreten will, vertreten wird. Sie waren auf dem Marsche nach Nuotschä, woher ich gerade komme; dort wollen sie morgen mit Graf Z., dem stellvertretenden Gouverneur, der sie zu einer Besprechung über verschiedene Angelegenheiten des Bezirkes dorthin beordert hat, zusammentreffen.

Auf dem sauberen, geräumigen Hofe des Rasthauses richteten wir unser gemeinsames Abendbrot und saßen noch bis tief in die Nacht hinein, um alle die großen und kleineren Ereignisse des Togoländchens ausführlich zu besprechen. Für sie brachte ich ja eine Menge neuer Nachrichten aus Deutschland mit.

Heute morgen zogen sie südwärts, ich nach Norden den blauen Bergen Atakpames entgegen. Um die Mittagszeit traf ich auf der Station ein.


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