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Ich überlasse jedem unpartheiischen Manne, die Wichtigkeit oder Unwichtigkeit dieser Gründe zu prüfen; Seelberg und Alwerth aber waren keine unpartheiische Männer, denn das System, welches Oberschirm angriff, war das Kind ihrer Fantasie, und Eltern sind nie kaltblütige Richter über ihre Kinder. Desfalls nun fanden auch Beide, wenigstens in den ersten zwey Jahren, da sie dies Geschäft trieben, des Herrn Obristlieutenants Einwürfe ziemlich unbedeutend, und ihr Umgang mit ihm wurde, durch seine Freimüthigkeit, seltener und kälter. Als aber Seelberg nach und nach durch Erfahrung lernte, wie sehr dieser Mann in manchen Stücken Recht gehabt hatte, und endlich, als Jener sich gänzlich von der Gesellschaft trennte, da suchte er denselben wieder auf, bekannte ihm: er sey sehr herabgestimmt von seinen hohen Erwartungen und fühle jetzt lebhaft genug, wie wenig Hoffnung da sey, die Welt umzuschaffen; allein er entsage mit Betrübnis so schönen, anmuthigen Träumen und fühle eine gewisse Leere in sich; er sey überzeugt, daß er gemacht sey, etwas für seine Nebenmenschen zu thun, und doch wisse er nicht, wie er es angreifen solle – kurz! er wollte von Oberschirm leben, ruhig, glücklich und nützlich leben lernen, und dies veranlaßte dann manche sehr ernsthafte Gespräche unter ihnen, in welchen Dieser seine ganze Denkungsart entwickelte, wovon ich hier den Lesern eine kleine Skizze liefern will.
»Es gibt«, behauptete Oberschirm, »nur eine einzige, von jedermann anzuerkennende Richtschnur unsrer Handlungen, und das ist die gesunde Vernunft, und nur Eine Tugend, welche diese Vernunft uns lehrt, und das ist die strenge Gerechtigkeit; alle übrigen Grillen der Fantasie, des Witzes und der Konvenienz und alle Herzensergießungen und schönen Gefühle sind Unsinn und Narrheit. Jene gesunde Vernunft ist allen Menschen von der Natur beschieden, und wenn wir dieselbe nicht verkrüppeln, uns nicht von bösen Beispielen hinreißen lassen, sondern über alle Vorurtheile und Autoritäten hinaus immer nur das thun, wovon sie uns Zweck und wahrscheinlich zu erwartende Wirkung sagt; wenn wir unsern Körper so unverzärtelt und doch so stark erhalten, daß unser Urtheil wirklich aus dem Kopfe und nicht aus dem Magen oder aus noch schlimmern Theilen herkömmt, dann werden wir nie einen Schritt thun, der uns reuen könnte, und wir werden immer gerecht handeln, der Erfolg sey dann auch pünktlich, so wie wir ihn erwartet haben oder nicht. Wir sollen uns also immer fragen: ist es vernünftig, dies zu thun? Macht mich das glücklicher, und ist es gerecht, so zu handeln, oder nicht?
Nun fängt aber die Gerechtigkeit und die Beförderung des Glücks natürlicher Weise zuerst bey uns an; wo also der nämliche Grad von Glückseligkeit Andrer gegen einen ebensogroßen Grad von Unglück für mich in die Waagschale kömmt, da handle ich unweise, wenn ich Andre auf Unkosten meiner Ruhe glücklich mache; wo aber fremde Wohlfahrt bloß mit meiner Ungemächlichkeit oder mit einiger Aufopferung erkauft werden kann, da bin ich als gesellschaftliches Glied schuldig, meinem Mitmenschen zu dienen. Alle übrige konventionelle Gefälligkeit, Hingebung, Höflichkeit – kurz! alles, was mir unbequem ist, ohne einem Andern reelle, dauerhafte Vortheile zu gewähren, oder gar, was mir schädlich ist (zum Beispiel: wenn ich dadurch Zeit verschwende, Eigenthümlichkeit des Charakters und Wahrheit verleugne), ist gegen die Pflicht der Gerechtigkeit, ist eines verständigen Mannes unwürdig, wäre auch der Zwang, den ich mir auflege, noch so geringe! und alle sogenannten Tugenden, die bloß in der Fantasie oder in einem hochgepriesenen guten, gefühlvollen Herzen ihren Grund haben, mit Einem Worte! wovon ich der Vernunft nicht Rechenschaft geben kann, sind Narrheit, so wie alle Beschäftigungen, welche nicht den festen Zweck haben, mich verständiger und glücklicher zu machen, sondern nur die Sinne kitzeln, Begierden erwecken, Leidenschaften nähren, die Fantasie beschäftigen und mich nach der thörichten Meinung des großen Haufens und nach verjährten Vorurtheilen handeln lassen, schädlicher Zeitverderb – Narrheit sind. Glücklich aber bin ich: zuerst, wenn ich den reinsten Genuß des Lebens und der mannigfaltigen Schätze, welche die Erde mir darbietet, schmecke; wohlverstandener, reiner Epikurismus ist also gewiß das natürlichste und beste philosophische System. Um aber ungestört, immer froh, rein und lange genießen zu können, muß ich mäßig und mit Vernunft genießen, meine Bedürfnisse einschränken, mich unabhängig machen von Vorurtheilen, von Menschen und Schicksalen. Das alles aber gelingt mir nicht, wenn mein Körper schwach und kränklich ist; desfalls muß sodann genaue Sorgfalt für meine Gesundheit und Stärkung meiner Maschine eines meiner vornehmsten Augenmerke seyn. Befolge ich dies alles, so kann mich in dieser Welt kein Unglück niederbeugen, und ich werde immer frey und glücklich leben; aber dazu gehört, wie schon gesagt worden, daß ich auch nicht den kleinsten Schritt thue, über dessen nützlichen Zweck und vermuthliche Wirkung mir meine Vernunft nicht Rechenschaft geben könnte. Wenn ich daher überzeugt bin, daß etwas weise und gerecht und mir nützlich ist, so bin ich verbunden, es zu thun, und wäre ich auch der Einzige in der Welt, der also handelte; und bin ich überzeugt, daß etwas unzweckmäßig, thöricht oder unrecht ist, so muß ich es unterlassen, und thäten es alle übrigen Menschen um mich her; denn nur meine und nicht fremde Vernunft kann mein Leitstern seyn. Wer etwas um des Publikums Willen thut, der ist ein Thor; die Meinung des Pöbels aller Art, der sogenannten Vornehmen, der sogenannten Gelehrten, die äußere Achtung des Volks, Lob, Ehre, Schmeicheley, Besoldung und was die Welt Freundschaft nennt – das Alles ist nicht einen Pfifferling werth, wenn man es durch die kleinste Inkonsequenz, durch die geringste Abweichung vom graden Wege der gesunden Vernunft erkaufen muß, und der größte Theil jener vornehmen und gelehrten Herrn und Damen sind, in der Nähe betrachtet, thörichte, schwache Menschen, die nach Autorität, Fantasie, Vorurtheil und Gewohnheit reden, schließen, handeln und täglich tausend Dinge schwätzen und thun, wovon sie nicht einen einzigen vernünftigen Grund angeben können. Weg also mit allem Zwange der Konvenienz und der Höflichkeit, wodurch niemand glücklicher wird und der im Grunde Jedem zur Last ist, und sollte ein ganzes Land voll Thoren desfalls mit Fingern auf mich zeigen! Ich kann eher aller Menschen Beifall entbehren als das Zeugnis meiner Vernunft – Weg mit allen Täuschungen der Fantasie und mit solchen Vergnügungen und Beschäftigungen, die uns weichlich, weibisch, wollüstig machen, unsre Leidenschaften in Aufruhr bringen und das liebe Herzchen schmelzen zu sanften, kleinen, artigen Gefühlen! – Weg mit Tanz, Schauspiel, Leier, Pfeife und Spiel!
Bin ich denn aber der bürgerlichen Gesellschaft und jedem einzelnen Menschen gar nichts schuldig? Lebe ich nur für mich allein in der Welt? Nein! ich bin andern Menschen Gerechtigkeit schuldig, insofern ich nicht ungerecht gegen mich handle; und ist diese Gerechtigkeit strenge und im ganzen Umfange erfüllt, dann bin ich auch Gefälligkeiten schuldig, nämlich solche, die weder mit Vernunft noch mit Gerechtigkeit streiten. Diese Pflichten muß ich zuerst gegen solche Menschen ausüben, die unmittelbar von der Natur mit mir in Verbindung gesetzt sind, und nicht eher weiter gehn, als bis ich in dem kleinen Zirkel alles geleistet habe, was in meinen Kräften war. Also kommen zuerst mein Weib, mein Kind, meine Eltern; dann meine nächsten Blutsfreunde, mein Gesinde, meine Nachbarn, die Gespielen meiner Jugend, endlich andre fremde Menschen, die schätzbare Eigenschaften haben; zuletzt der ganze Schwarm der Übrigen, doch also, daß die Pflichten gegen Die, welche mir näher sind, jederzeit den Pflichten gegen die entferntere Klassen der Menschen untergeordnet seyen; aber diesen Allen muß ich leisten, was ich verständiger Weise wünsche und verlange, von ihnen zu erhalten. Also: muß ich immer strenge treu und wahrhaftig seyn, reden und handeln gegen Jeden, pünktlich Wort und Vertrag halten, alle Gesetze, bürgerliche Einrichtungen und was die Menschen unter sich festgesetzt und geheiligt haben, respektieren, solange ich unter ihnen lebe; Jeden in Ruhe lassen, niemand kränken, nie fremdes Eigenthum schmälern und weder des Andern physische, politische noch moralische Existenz schlechter machen, aber immer die Wahrheit mit Wärme und Eifer sagen, nämlich sagen, was ich für gut und vernünftig, für wünschenswerth oder für unerlaubt, unweise und thöricht halte, ohne Rücksicht auf Personen, in gutem und bösem Sinne, also ohne niedrige Gefälligkeit und ohne hämische Absicht; Jedem wesentliche Dienste leisten, wenn diese Dienste nicht Ungerechtigkeit gegen mich und Andre sind; zur Bildung und Aufklärung meiner Mitmenschen durch Beispiel und Lehre das Meinige beitragen und Vorurtheile bekämpfen, nach meiner Einsicht; aber nicht jedem Narren zu Gebote stehn, ihm meine kostbare Zeit und meine Kräfte widmen ohne weitern Zweck als aus Höflichkeit; nicht dem Dummkopfe schmeicheln, nicht mich vor dem niederträchtigen Vornehmen beugen, nicht eines Menschen Parthey ergreifen, wenn er Unrecht hat, bloß weil mein sanftes Herzchen mich zu ihm hinzieht; nicht einen Herrn Vetter oder einen Menschen, der mir Weihrauch streuet oder mich in der allgemeinen Literaturzeitung gelobt hat, empfehlen, schützen, befördern; nicht auf Unkosten der Gerechtigkeit mich meines Vaterlandes, meiner Eltern, meiner Familie annehmen; nicht leere Visiten geben und empfangen, weil das andre Narren thun; mich nicht unvernünftig, fantastisch kleiden, weil andre Narren sich also kleiden; nicht Almosen geben von dem Gelde, das ich Andern schuldig bin; nicht meinen Kopf verbrennen, um des Andern Hintern zu retten; nicht nach der Mode empfindsam, kraftmännisch, Aufklärung befördernd, mystisch, gegen heimlichen Jesuitismus schreiend andern Schiefköpfen nachlallen; nicht in der Aufwallung eines gefühlvollen, läppischen Herzens einen Gulden hingeben, wo ein Groschen hinreichend wäre, denn das ist Diebstahl an einem Andern, der einen Gulden verdiente; nicht mich zu der Parthey eines Schurken oder Thoren schlagen, weil er Gefälligkeit für mich hat; nicht eine Schrift loben oder tadeln, weil ein Schöps, Laffe oder feiler Schuft von Rezensenten sie gelobt oder getadelt hat – Kurz! ich muß immer die Vernunft zur Leiterin meiner Handlungen nehmen und auch von Andern nicht mehr verlangen, als ich ihnen leisten will. Deswegen fordere ich von niemand, daß er sich Meiner annehme, wenn ich dessen unwerth bin, so wie er auch keinen Ruhm davon hat, wenn er mir einen Vortheil verschafft, den ich nicht verdiene. Bin ich seiner Hilfe würdig, so muß er die Pflicht der Gerechtigkeit erfüllen, und dann gewährt er sich selbst Freude; verdiene ich aber seinen Beistand nicht und hilft er mir überhaupt auf Unkosten einer heiligern Pflicht, so ist er ein Narr, ja! ein Verbrecher!«
Aus dieser Skizze können die Leser sich einen Begriff von des Herrn von Oberschirm System machen, welches Ihnen vielleicht ein bißchen rauh vorkommen wird. Nehmen wir aber Rücksicht auf die Stimmung, in der Seelberg itzt war! Er sehnte sich nach einer glücklichern, friedenvollern Existenz; er fühlte sich wirklich moralisch besser, fühlte, daß er wohl verdient hätte, glücklich zu seyn. An äußern vortheilhaften Umständen fehlte es ihm nicht. Es kam also nur darauf an, sein Herz ruhig zu machen, ihn zu trösten über so manchen verschwundenen schönen Traum und ihn sicher zu stellen gegen neue Täuschungen der Fantasie. Hierzu schien jenes System vollkommen gemacht, und er fand so viel Wahrheit darin, daß er fest entschlossen war, von nun an darnach zu leben im Thun und Lassen – Allein nur zu oft empörte sich sein Inneres gegen die Gründlichkeit dieser Theorie; sein unruhiger, thätiger Geist, das Feuer, welches, obgleich er nahe an vierzig Jahren war, das Alter noch wenig gedämpft hatte, und die Gewohnheit, mit einer Menge Dingen außer ihm beschäftigt zu seyn – dies Alles trieb ihn ohne Unterlaß, drängte ihn, zerstreuete ihn, daß er das Gleichgewicht des Gemüths nicht treffen konnte, dem er nachstrebte. Von einer andern Seite wurde sein reizbares Nervensystem so leicht von Dingen erschüttert, die Oberschirm für erbärmlich klein hielt. Gewöhnt, mehr seinem weichen Herzen als kalter Überlegung zu folgen, durch sein Temperament hingezogen zu Gegenständen, die jener Philosoph nicht eines Blicks würdigte, durch sein warmes Blut so leicht beunruhigt solcher Dinge wegen, die gar keinen Eindruck auf Oberschirm machten, hie und da auch durch Eitelkeit aufgerührt, durch sympathetischen Hang gestimmt zum Mitgefühl, wo Jener nicht so ungerecht an sich selbst handelte, aus seiner gleichgestimmten Gemüthsart gebracht zu werden, that Seelberg zehnmal des Tages, was so viel Menschen thun – das Gegentheil von dem, was er thun wollte.