Adolph Freiherr Knigge
Die Verirrungen des Philosophen oder Geschichte Ludwigs von Seelberg
Adolph Freiherr Knigge

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Drittes Kapitel

Diejenigen, die nur lesen, um die Zeit auf eine lustige Art hinzubringen, und denen mehr mit Erzählung einer Reihe abentheuerlicher Begebenheiten als mit Entwicklung der feinern Falten des menschlichen Herzens, Geschichte der frühen Entstehung leidenschaftlicher Triebe und Enthüllung der Bewegungsgründe und Veranlassungen, die den Menschen zum Handeln bestimmen, gedient ist, werden freilich finden, daß ich mich zu lange bey den unbedeutenden Jugendjahren unsers Helden aufhalte; allein, ich sage es frey heraus, für solche Leser schreibe ich nicht; sie können dies Buch ungekauft lassen oder, wenn sie es etwa aus Neugierde in die Hand nehmen, die ersten drey bis vier Kapitel überschlagen – Doch, ich fahre ohne weitere Entschuldigung fort.

Wir haben gehört, daß der alte Seelberg starb, ehe Ludwig das vierzehnte Jahr erreicht hatte. Sein Tod war wie der letzte Akt eines mittelmäßigen Trauerspiels. Es wurde viel dabey deklamiert und wenig empfunden. Es war nicht das Hinscheiden eines liebevollen Menschenfreundes, der noch einmal, obgleich mit schon halbgebrochenen Augen, in dem kleinen Zirkel der Theuren umherblickt, die voll stummen Schmerzes dastehn und die Hände ringen, indes der sterbende väterliche Freund und Wohlthäter, gestärkt durch den himmlischen Boten, der ihm die Hand reicht, sie durch Winke mit Trost und Hoffnung des Wiedersehens zu erfüllen sucht – Nein! es war denn so eine gemeine Sterbescene; zur Seite ein Arzt und ein Geistlicher, die Beide für die Gebühr ihr Amt mit gehöriger Kälte und Ernsthaftigkeit verrichteten; die Bedienten, ermüdet von vielem Wachen, heute ein wenig lebhafter und geschwinder zu den nöthigen Handreichungen, da sie die Hoffnung nahe vor sich sahen, bald des Zwangs überhoben zu seyn und dann einen andern Herrn zu suchen – Ludwig, freilich nicht ohne Thränen, doch immer mehr deswegen, weil es der Anstand erforderte, als aus Zärtlichkeit – Der Sterbende selbst (wie er immer gewesen war), sobald er Linderung fühlte und glaubte, er könne noch davonkommen, hing das Schild der Religion aus, gab seinem Sohne kalte Lehren, verzieh seinen Feinden, die er beleidigt hatte, sagte gewaltig viel gute Dinge über seinen Zustand, zeigte Verleugnung und machte Parade mit Grundsätzen, nach denen er nicht gehandelt hatte. Sobald aber der Augenblick des Schmerzens kam oder der Todesengel ihm an das Herz griff und zurief: »Es ist Ernst!« dann ängstlich oder, nach den Umständen, ärgerlich, ungläubig oder stumm, aber die Hände ringend, das Bettuch kneipend, bis endlich Natur und Kunst sich erschöpft hatten und die Maschine ohne großes Geräusch stockenblieb.

Ludwig von Seelberg hatte keinen nähern Verwandten im Lande als von mütterlicher Seite einen gewissen Major von Krallheim, und dieser wurde ihm auch von den Gerichten zum Vormunde gesetzt. Er war ein redlicher Mann, ohne Firnis, nicht unverständig noch unbelebt, obgleich nicht äußerst poliert noch schlau, ein Witwer, der die Hälfte des Jahrs in der Residenz bey dem Regimente, die andre Hälfte auf seinem Gute zubrachte. Er hatte nicht zum Besten mit dem alten Seelberg gestanden, weil theils ihre Gemüthsarten sehr verschieden waren, theils alte Prozesse, die sie miteinander geführt, vorzeiten Uneinigkeit unter ihnen gestiftet hatten. Als aber dem alten Major die Vormundschaft über seinen Vetter übertragen wurde, nahm er dieselbe mit gutmüthigem Herzen an und ließ sich einen geschickten und redlichen Sachwalter beifügen, der dann alle Geschäfte mit ebensoviel Gewissenhaftigkeit als Ordnung führte. Im Grunde waren die Vermögensumstände des alten Seelbergs nicht so sehr zerrüttet, daß nicht noch dem Sohn ein sehr beträchtliches Vermögen übriggeblieben wäre. Nachdem dies nun vollkommen in das Reine gebracht und ein Etat zu baldiger Bezahlung der Schulden gemacht war, kam es darauf an, wo, wie und wozu Ludwig von Seelberg erzogen werden sollte. Der Major ging hierüber mit einigen studierten Männern zu Rathe, und es wurde beschlossen, der junge Mensch solle ein Civilist werden und in einem öffentlichen Erziehungsinstitute Unterricht erhalten, bey einem ehrlichen Schullehrer aber in Kost und Aufsicht gethan werden: »Der Soldatenstand«, sprach der Major, »ist ein undankbares Handwerk. Wenn man sich die paar alten Knochen hat krumm und lahm schießen lassen und immer seine Schuldigkeit gethan und unser Gesicht kömmt aus der Mode und es bleibt lange Frieden, so daß man Unsrer nicht bedarf, so kommen die jungen Gelbschnäbel, die nie wie Pulver gerochen haben, in die Höhe, rennen einem aller Orten in den Weg, und man muß sich wohl gar von Prinzen oder andern Kindern schuhriegeln lassen, von Knaben, deren Väter man auf dem Arm getragen hat. Nein! Soldat soll der Junge nicht werden, sondern studieren. Ich habe auch Gelehrte gekannt, zwar nicht viele, aber einige, die deswegen doch vernünftige Kerle waren. Wer weiß: ob der Pursche es nicht noch einmal bis zum Minister bringt, denn er ist wahrlich so dumm nicht, als ihn sein närrischer Vater machte; und damit er gewürfelt werde und lerne mit andern Menschen seines Gelichters umgehn, so denke ich, wir schicken ihn in die öffentliche Schule. Ich halte nichts von Hausinformatorn. Man findet selten einen, der so ist, wie er seyn sollte. Hätte ich Geschicklichkeit dazu, so nähme ich ihn zu mir und wollte selbst ihn unterrichten; so aber, denke ich, wollen wir ihn nach *** zu dem Rektor Werkmann in das Haus thun. Da ist er gut aufgehoben und kann nebenbey das Gymnasium besuchen.«

Dieser Plan wurde ausgeführt; der alte Major brachte Ludwigen selbst zu seinem neuen Pflegevater, empfahl ihn demselben so dringend, als wenn es sein eigener Sohn gewesen wäre, und wies dem Rektor eine jährliche ansehnliche Geldsumme an, wovon die Unkosten für Kleidung, Tisch, Unterricht und alles Übrige bestritten werden sollten. Werkmann und seine ehrliche Hausfrau waren würdige, uneigennützige, gewissenhafte Menschen, die für die jungen Leute, welche man ihnen anvertrauete, mehr als gemeine Sorgfalt trugen. Sie hatten verschiedene Solcher im Hause, aber Ludwig war der einzige Edelmannssohn unter denselben. Fehlten nun der gute Rektor und seine Frau irgendwo, so war es darin, daß sie dem jungen Seelberg äußerlich zu viel Vorzug vor seinen Gespielen einräumten. Nicht, daß die reichliche Pension, welche der Vormund ihnen auszahlen ließ, sie bestochen hätte (denn sie waren weise genug einzusehn, daß sich Dienste von der Art gar nicht bezahlen lassen), sondern aus dem verjährten Vorurtheile, daß man einen Junker anders behandeln müsse als einen andern Jungen und daß man ein Edelmann seyn könne, ehe man ein Mensch ist. Ludwig wurde daher wirklich ein wenig verzärtelt, besonders, was die Sorgfalt für seine Gesundheit betraf – »Der Einzige von der Familie«, hieß es immer; als wenn es nicht besser wäre, eine von den unzähligen Familien auf dem Erdboden aussterben als sie durch einen verzogenen Taugenichts fortpflanzen zu lassen!

Wenn indessen von Einer Seite Ludwig hier leicht hätte auf immer verderbt werden können, so wurde er auf der andern sehr unwillkürlich zur Demuth und Bescheidenheit geführt; denn als der Rektor an dem Tage, da der junge Mensch ihm überliefert wurde, mit demselben und den übrigen jungen Leuten in seinem Hause eine kleine Prüfung anstellte, um zu sehn, wie weit Ludwig die Andern überträfe oder von ihnen übertroffen würde, fand sich's, daß der Cavalier im Grunde gar nichts wußte und daß also die Bürgerssöhne, die in der That unter der besten Anführung große Fortschritte in den Wissenschaften gemacht hatten, ihn weit hinter sich ließen. Der ehrliche Rektor sprach kein böses Wort darüber, sondern sagte nur immer: »Ey nun! Es wird schon kommen! Der junge Herr wird die Andern wohl noch einholen, wenn Fleiß und Genie da sind.« So tröstend dies nun auch war, so niedergeschlagen blieb dennoch Ludwig dabey. Wäre er zurückgesetzt und verachtet worden, so würde ihm sein Stolz zu Hilfe gekommen seyn; aber hier wurde er geehrt und – bedauert; er selbst fühlte jeden Augenblick seine Schwäche; er wurde muthlos, und diese Muthlosigkeit nahm zu, als es an die Arbeit ging, mit der es gar nicht fortrücken wollte. Er war nicht daran gewöhnt, zu wetteifern, von jüngern Knaben beschämt, übertroffen, ja, nicht nur an Kenntnissen, sondern an Talenten und Scharfsinn übertroffen zu werden, und das war hier oft der Fall, den seine Eitelkeit sich nicht verbergen konnte. Er war nicht gewöhnt an fortgesetzten Fleiß, an eine festgesetzte Stundenreihe; seine aufgeschnappten Kenntnisse galten hier nichts; sobald er mit einem Fragmente von der Art angezogen kam, so fragte man auf die freundlichste Art von der Welt nach dem Grunde der Sache, so wie er es ehemals mit seinen Hofmeistern gemacht hatte; und da war die Gelehrsamkeit zu Ende. Seine Menschenkenntnis und Geschmeidigkeit halfen ihm noch weniger; er hatte es nicht mit leidenschaftlichen Leuten zu thun, die geschmeichelt seyn wollten, sondern mit Personen, die systematisch ihre Pflicht thaten. Wie gern hätte er diese Personen geringgeschätzt! Wie gern grobe Fehler an ihnen gefunden, um sich selbst ein bißchen größer zu scheinen! – allein er konnte nicht. Kleine Schwachheiten bemerkte er wohl, aber dabey so viel Güte, Würde, Konsequenz, Plan, Regelmäßigkeit, Sorgfalt und Liebe für ihn, daß er täglich mißmuthiger und fast des Lebens müde wurde.

In dieser Zeit nun kam eine Gesellschaft deutscher Schauspieler in die Stadt. Der Rektor war kein großer Freund davon, den jungen Leuten Geschmack für das Theater, so wie es jetzt ist, einzuflößen; weil er indessen gern alles thun wollte, was seinem Zöglinge Vergnügen machen konnte und wovon er glaubte, daß es einem jungen Cavalier gezieme, so fragte er bey dem Vormunde an, ob es erlaubt sey, den jungen Seelberg zuweilen in die Komödie zu schicken? Der Major war gefällig und gestattete es. Da nun aus Werkmanns Familie niemand das Schauspiel besuchte, so wurde ein Hofmeister in einem vornehmen Hause, der nebst seinen Untergebenen kein Spektakel versäumte, gebeten, den jungen Seelberg zuweilen mit dahin zu nehmen. Ludwig fand unendlich viel Wonne an dieser Unterhaltung. Sein zartes Nervensystem wurde durch die empfindsamen Stücke gar sehr gerührt; die Fantasie bekam einen romanhaften Schwung; sein Ohr wurde durch die wollüstige Musik gekitzelt; sein schlauer Beobachtungsgeist durch Darstellung der Folgen menschlicher Thorheiten und Leidenschaften geschärft, sein Witz durch feine Satyren und Spöttereien zugespitzt, sein Hang zum andern Geschlechte durch die mannigfaltigen Liebesintriguen, welche er vorstellen sah, und durch die reizenden Gebärden der Theaterschönen lebhafter – Mit Einem Worte! das Theater bildete ihn sehr, nur nicht zu dem Zwecke, zu welchem er in Werkmanns Hause war und der doch bey herannahenden Jünglingsjahren so äußerst wichtig wurde. Im Gegentheil! ein Trauerspiel, ein Lustspiel oder eine Oper verdarben ihn gewöhnlich drey Tage und machten ihn zu aller Arbeit untüchtig, nämlich den Tag vorher, an welchem er sich darauf freuete, den Tag der Vorstellung und den folgenden Tag, wenn die Fantasie noch erhitzt und der Geist zerstreuet war.

Allein das Schauspiel hatte noch einen andern, wichtigern Einfluß auf Ludwig, wovon die Folgen zwar anfangs sehr bedenklich schienen, nachher aber so sehr zu seinem Besten gereichten, daß er von diesem Augenblicke an ein ganz andrer Mensch wurde. Ich habe vorhin gesagt, daß ein Hofmeister aus einem vornehmen Hause ihn mit in die Komödie zu nehmen pflegte. Da nicht in allen vornehmen Familien die Erziehung die sorgsamste ist, so war auch hier manches daran auszusetzen. Unter andern hatte ein junger Taugenichts, ein gewisser Herr von Weidel, der Fahnenjunker und ein Vetter vom Hause war, bey den jungen Herrn freien Zutritt. Mit demselben machte denn auch Ludwig bey diesen Gelegenheiten Bekanntschaft. Weidel war ein lebhafter, witziger Schelm, von angenehmer Bildung und einnehmendem Wesen, aber im Sittlichen schon von Grund aus verdorben; Seelberg hingegen empfänglich für jeden Eindruck, weich, leicht zu gewinnen, unzufrieden mit sich selbst, mit seinem Zustande, und voll Sehnsucht nach einem Freunde, der mit ihm gleiche Stimmung hätte. Weideln kostete es nicht viel, sich nach Zeit und Umständen umzustimmen, und so hatte er bald Ludwigs Freundschaft und Zutrauen gewonnen, da ihm dann Dieser seine Lage und seine Abneigung gegen das saure Studieren entdeckte. Weidel malte ihm dagegen den Militairstand als den Stand der Freiheit und des Wohllebens mit so bezaubernden Farben vor, daß unser junger Mensch den festen Entschluß faßte, Soldat zu werden. Er trug die Sache seinem Vormunde vor, der aber mit Güte und Vernunft ihn von seinem Vorsatze abzubringen suchte und endlich gradezu und sehr bestimmt erklärte, er werde gewiß nicht eher dazu einwilligen, als bis Ludwig so viel gelernt habe, daß er jedem Stande Ehre machen und die Vortheile des einen gegen den andern abwiegen könne.

Als unser Held so viel Widerstand von der Seite erfuhr, ging er auf das Neue mit seinem Verführer zu Rathe, und Dieser gab ihm den unseligen Gedanken ein, mit ihm (der sich längst vorgenommen hatte, diesen Schritt zu thun, weil er Schulden und keine Hoffnung, sie zu bezahlen, hatte) durchzugehn, sich außer Landes anwerben zu lassen und dann seinen General um Schutz gegen seinen Vormund zu bitten, welcher Schutz ihm als einem reichen Cavalier (auf dessen künftige glänzende Umstände, im Vorbeigehn zu sagen, der Herr von Weidel große Pläne bauete) gewiß nicht würde abgeschlagen werden. Ludwig von Seelberg war, wie wir gehört haben, von furchtsamer, weichlicher Gemüthsart, und es kostete große Mühe, ihm einen so kühnen Plan annehmlich zu machen. Er hatte tausend ängstliche Einwürfe vorzubringen, bis endlich eines Abends, nach Vorstellung eines Schauspiels (in welchem ein leichtsinniger, unternehmender Jüngling, der alle Pflichten mit Füßen trat, dem aber alles glückte, von einer höchst einnehmenden, interessanten Seite war vorgestellt worden), Weidel die Stimmung nützte, in welche Ludwig durch dies Schauspiel war versetzt worden, um ihn zu dem unbesonnensten Schritte zu bewegen. Dies gelung ihm nach einigem Kampfe. Er ließ ihm sodann keine Zeit, sich zu besinnen, sondern eilte gleich zur Ausführung. In der Komödie hatte er hierzu alles angelegt; nach Endigung derselben erbot er sich, den jungen Seelberg nach Hause zu begleiten (sonst pflegte man ihm einen Bedienten mitzugeben); statt aber zu dem Rektor zu gehn, beschwätzte er ihn, mit zum Stadtthore hinauszuwandern. Anfangs nämlich verwickelte er ihn in ein langes Gespräch über seinen Zustand und über die Mittel, sich demselben zu entreißen, die er so wie die Bewegungsgründe dazu aus der Moral des eben gesehenen Schauspiels hernahm; und als sie indes unmerklich, im Reden, bis nahe an das Thor gekommen waren, stärkte er ihn noch einmal in dem thörichten Vorsatze, und nun – Es kam auf Einen raschen Schritt an – Das Thor war so nahe – Weidel bezahlte das Sperrgeld. Man fragte nicht, wer sie wären (der Fahnenjunker hatte einen grünen Rock an); so faßte dann der Verführer den betäubten Jüngling unter den Arm und riß ihn mit sich fort. Kaum waren sie im freien Felde, als es dem armen Ludwig zentnerschwer auf das Herz fiel; aber theils ließ ihm Weidel nicht Zeit zur Besinnung, theils war nun der erste Schritt gethan und nicht gut wieder zurückzukehren. Das Schauspiel war schon vor einer Stunde geendigt; gewiß hatte man ihn in Werkmanns Hause vermißt, ihn in der Stadt aufgesucht, nach ihm geschickt – was sollte er nun zur Entschuldigung seines Ausbleibens anführen? – Der erste Schritt war gethan; und dieser erste, kleine Schritt hätte können entscheidend unglücklich für sein ganzes Leben werden – Jüngling! Knabe! überlege wohl, was das sagen will! Ein Augenblick von Taumel, von Rausch; ein Nebensprung, ohne nüchterne Überlegung gethan – und Du bist verloren – Blinder! Schwacher! Laß einen einzigen Augenblick die Dich leitende Hand der Weisheit fahren, und Du erhaschest sie vielleicht nie wieder.

Unsre beiden irrenden Ritter waren ungefähr eine Stunde Weges gegangen, als ihnen die reitende Post begegnete. Der Postknecht war ehemals Husar gewesen; er kannte den Herrn von Weidel, bot ihm einen treuherzigen guten Abend, ohne weiter zu fragen: wo hinaus? und so verfolgte ein jeder seinen Weg. Die jungen Leute hatten den ihrigen nach einer benachbarten Reichsstadt gerichtet, weil sie wußten, daß daselbst ein preußischer Werbeofficier war. In weniger als drey Stunden waren sie dort; Ludwig hatte indes nach und nach sich selbst Muth oder vielmehr Unverschämtheit eingesprochen. Zwar zitterte er wie ein Espenlaub, sooft sich etwas hinter ihnen rührte; als ihm aber das Mondlicht die Thürme der Stadt ganz nahe zeigte, da war alle Furcht verschwunden, und er verdoppelte seine Schritte, um bald an das Ziel seiner Wünsche zu kommen.

Nachdem wir nun die beiden Flüchtlinge bis hierher begleitet haben, so müssen wir doch auch hören, welchen Eindruck ihre Entweichung in dem Hause des Herrn Werkmanns wirkte. Der Rektor machte zuerst die Bemerkung, die Komödie daure heute etwas lange. Als man aber alle Kutschen zurückkommen hörte, glaubte er, der junge Seelberg sey in dem adeligen Hause zum Abendessen eingeladen worden, und da fand er, daß es doch nicht höflich gehandelt sey, ihm nicht einmal, wo nicht die Erlaubnis dazu abgefordert, doch wenigstens Nachricht davon gegeben zu haben. Um gewiß zu seyn, schickte er hin; aber wie groß war sein Schrecken, als man ihm hinterbrachte, Ludwig sey schon vor einer Stunde durch den Herrn von Weidel nach Hause begleitet worden! – »Wo ist er nun? Sagt' ich's nicht, Frau? das kömmt von dem verwünschten Komödienrennen!«– Alles, was im Hause Beine hatte, wurde in der Stadt herumgejagt; aber vergebens! Nirgends konnte man auf die Spur kommen. Da indessen des jungen Weidels Aufführung ziemlich bekannt war und dieser sich schon oft hatte verlauten lassen: er werde einmal seinen Gläubigern die Fersen zeigen, wozu noch kam, daß Ludwig seit einiger Zeit unzufriedener, fauler und zurückhaltender als jemals gewesen, so fiel man bald auf die wahre Lage der Sache. Es wurde sogleich noch in der Nacht ein Freund hinaus auf das Land an den Vormund abgefertigt und zugleich auf der Post und bey allen Lehnkutschern Nachfrage gehalten: ob nicht irgendwo wären Pferde gemiethet worden; allein es kam von allen Orten her eine verneinende Antwort. Gegen Morgen klopfte indessen jemand an des Rektors Hausthür, welche jedoch die ganze Nacht durch offengestanden hatte, denn niemand wollte zu Bette gehn; der Mann aber, der anklopfte, war der alte Postknecht, welcher die jungen Leute unterwegens gesehn, um Mitternacht sein Felleisen in der Post abgeliefert und nachher, als er von ungefähr gehört, daß man sich nach den Entwichenen erkundigte, mit seiner Aussage, die er nun dem Rektor wiederholte, den Weg angegeben hatte, auf welchem man ihnen nachspüren könnte. Während nun dies vorging, stand schon die Sonne über dem Horizonte und der durch den Boten in Alarm gebrachte alte brave Major von Krallheim mit seinem Postzuge vor Werkmanns Thür, stieg aber nach erfolgter Erklärung, weil er glaubte, es sey keine Zeit zu verlieren, wieder in seine Kalesche und fuhr in gestrecktem Trotte der Reichsstadt zu.

Hier haben wir die beiden Jünglinge vor dem Thore verlassen und sind auch nicht geneigt, sie weiterzuführen; denn da das preußische Werbehaus außer der Stadt und grade vor diesem Thore lag, so hatten sie nun den Zweck ihrer großen Unternehmung erreicht.

Der Werbeoffizier hatte sich noch nicht schlafen gelegt. Es war Mitternacht; er las aber noch, wie er vielfältig zu thun pflegte, und zwar diesmal in Thomas Abts herrlichem Werke vom Verdienste, als er durch den Lärm gestört wurde, den die Ankömmlinge nebst dem Unteroffizier machten, welcher sie hereinführte und als zwey Rekruten ankündigte. Der Hauptmann war ein liebenswürdiger, kluger, gebildeter, redlicher Mann, von feinen sanften Sitten und gefühlvollem Herzen. Sobald daher die beiden Jünglinge sich ihm vorstellen ließen, durchschauete er mit Einem Blicke die Geschichte ihres Abentheuers. Er sah bald, daß an dem jungen Weidel nichts zu verderben, daß Seelberg hingegen ein irregeführter, schwacher Knabe war, den man zu seinen Pflichten wieder zurückführen mußte. Jener hatte, beiläufig zu sagen, so jung er auch war, schon sechs Zoll über, Dieser aber noch nicht einmal das vorgeschriebene Maß. Nachdem er daher mit seinem Unteroffizier ein paar Worte allein geredet hatte, rieth er den beiden jungen Leuten, sich zur Ruhe zu begeben, versprach, für sie zu sorgen, ihre Wünsche zu befriedigen, und ließ für Ludwig ein Feldbette in sein Zimmer setzen, dem Andern hingegen durch den Unteroffizier eine Kammer unten an der Erde anweisen. Dieser schlaue Kriegsmann führte also den Herrn von Weidel die Treppe hinunter, reichte ihm aber doch noch vor Schlafengehn einen tüchtigen Trunk zur Erquickung, wobey auf des großen Friedrichs Gesundheit einige Gläser ausgeleert und, auf des Herrn Hauptmanns Befehl, dem jungen Herrn zwey Friedrichsd'or ausgezahlt wurden, um ihn zu überzeugen, wie thätig man sich Seiner annehmen wolle.


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