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Der erste Schritt zu Ludwigs sittlichem Verderbnisse war gethan, und wie es denn selten bey diesem ersten Schritte bleibt, so war das auch hier der Fall. Er fing gleich nach seiner Zurückkunft in Göttingen an, heimlich auszuschweifen, wenn er Trieb dazu fühlte und Gelegenheit dazu hatte, und da es dort, wie auf allen Universitäten, viel feile Dirnen gab, so wurde diese Gelegenheit zu finden ihm nicht schwer. War schon vorher seine Meinung von dem größten Theile des weiblichen Geschlechts durch Wasserhorns Lehren sehr herabgesunken, so floh er itzt allen Umgang mit gesitteten Frauenzimmern. Es schien, als hätte er ganz den Ton vergessen, aus welchem er mit ihnen reden und scherzen sollte – Er, der vormals in solchen Zirkeln ganz in seinem Elemente war – Traf es sich aber, daß er von ungefähr mit einem hübschen und sittsamen Frauenzimmer in Gesellschaft kam, so war er zurückhaltend, vorsichtig, scheu, wog seine Worte ab aus Furcht, Zweideutigkeiten zu sagen, erlaubte sich keine auch noch so unbedeutende Freiheit und glaubte immer, sich zu viel herauszunehmen und von Andern beobachtet zu werden, denn er dachte sich bey jeder Freiheit etwas Böses, weil Unschuld von ihm gewichen und er doch noch nicht so tief gefallen war, dem Glanze der Tugend sich entgegenstellen zu können, ohne zu erröthen und ohne die Augen niederzuschlagen. Oft brach er, wenn er mit andern Jünglingen redete, in Schmähungen gegen alle Weiber aus und schwur mit erbittertem Gemüthe, sie seien Alle falsch und untreu und verdienten nicht, daß ein redlicher Mann ihretwegen Kummer leide und seine Ruhe stören lasse. Allein zu einer andern Zeit widersprach diesem Allen sein Herz, das sich nach jenen seligern, reinern Gefühlen der Liebe zurücksehnte, und noch war er nicht frech genug, sich seiner Ausschweifungen zu rühmen, sondern er schämte sich derselben, selbst gegen seinen Hofmeister, von dem er doch wußte, daß er die Weiber nur für Werkzeuge unsrer Wollust und für Gegenstände unsrer Verachtung hielt. Er schlich heimlich zu den Freudenmädchen, ohne einen Vertraueten zu haben, schlich nur hin, wenn seine nun einmal entzündeten Begierden ihm keine Ruhe ließen, ging aber nicht eigentlich darauf aus, Reizung und Gelegenheit zum Laster zu suchen; er hatte Gefühl für Unschuld und Würde, und obgleich er glaubte, daß es wenig oder gar keine erwachsene Mädchen mit reinem Herzen gäbe, so würde er es doch nimmermehr darauf angelegt haben, ein noch unverführtes junges Mädchen von dem Wege der Tugend abzuleiten. Dabey verlor seine Seele noch nicht den Hang, sich an Andre sympathetisch anzuschließen. Wir haben gehört, daß er in seiner ersten Jugend viel Sinn für Freundschaft und Wohlwollen hatte; auch hatte er sich daher so fest an seinen ehemaligen Führer, Krohnenberger, gekettet. Nachher, als er anfing zu lieben, erfüllte diese mächtigere Leidenschaft ganz seine Seele, so daß er eben keine neue innige Freundschaft in Leipzig schloß. Allein Krohnenberger blieb ihm immer noch werth; seine Trennung von ihm schmerzte ihn sehr, nur der Kummer, in welchen er darüber verfiel, daß ihm Julie entrissen war, übertraf jenes Gefühl. Unterdessen hatte Krohnenberger nichts von sich hören lassen, bis, noch ehe Seelberg nach *** reisete, ein junger Mensch aus der Gegend von Eisleben, der in Göttingen studierte, ihm die Nachricht von dieses seines ehemaligen Hofmeisters Tode gab; er war an der Auszehrung gestorben. Für Wasserhorn konnte er nie etwas fühlen, das einer herzlichen Zuneigung geglichen hätte. Das ganze Wesen des Mannes war ihm im Grunde zuwider, und nur die Verbindlichkeiten, welche er ihm zu haben glaubte und welche der alte Bösewicht durch niederträchtige Gefälligkeit und Nachsicht täglich zu vermehren suchte, erweckten in ihm Empfindungen von Dankbarkeit, die, aber auf sehr unvollkommne Art, die Stelle der Freundschaft einnahm. Es blieb also in seinem Herzen noch immer ein warmer Platz für einen Freund – leer. Was endlich Seelbergs Beschäftigungen betrifft, so fuhr er fort, Kollegia zu besuchen und allerley Bücher durcheinander zu lesen, aber das alles ohne festen Plan, ohne bestimmten Zweck, ohne Trieb.
Ein Mensch, der keinen vertraueten Freund und keine Geliebte hat; der an nichts hängt; der anfängt, seinen Glauben an Tugend und Treue zu verlieren; der sich unkeuschen Trieben überläßt; in welchem also kein Ressort besserer Art wirkt, weder Religion noch Tugend, noch Liebe, noch Ehrgeiz, noch Wohlwollen; dessen Fantasie ganz herabgespannt ist, der also auch nicht einmal durch Zauberbilder unschädlicher Gattung zu irgendeiner glänzenden Narrheit angelockt, hingerissen wird; endlich, der keinen Lebensplan, keine geordnete Beschäftigung hat – der ist wahrlich sehr zu bedauern, und doch war Ludwig jetzt in diesem Zustande, schlaff an Leib und Seele. Glücklicher Weise konnte man aber von seinem Temperamente hoffen, daß diese Apathie nicht von langer Dauer seyn würde, nur kam es freilich auf die Umstände an, ob er zu guter oder böser Thätigkeit erwachen würde, und das werden wir nun bald erfahren.
Es mochten ungefähr vier Wochen nach ihrer Zurückkunft von *** verstrichen seyn, als Seelberg und sein Hofmeister zu gleicher Zeit Briefe von Haus bekamen, deren Inhalt für Beide wichtig war. Ersterem meldete man folgende Nachrichten: Der Major von Krallheim war plötzlich an einem Schlagflusse gestorben; die Landesregierung hatte also ex officio einen andern Vormund ernannt, und zwar einen geschickten Advokaten mit Namen Gerlach, der schon bey Krallheims Lebzeiten der Vormundschaft bedient gewesen war. Dieser sah sich aber gleich bey Antritt des Geschäftes in einen weitläufigen Prozeß verwickelt, der schon lange gedauert hatte, nun aber seinem Spruche nahe war. Es wurde dieser Prozeß nämlich von gewissen Verwandten väterlicher Seite gegen Ludwig geführt, von Verwandten, welche dem alten Seelberg sehr viel zu verdanken hatten und nun nicht nur undankbar genug waren, alte Ansprüche, die sie an der Hälfte der seelbergischen Güter zu haben vorgaben, gegen den Sohn ihres Wohlthäters gelten zu machen, sondern auch diesen Prozeß auf die unedelste Art zu führen und durch Bestechung und Entwendung von Dokumenten einen letzten, entscheidenden Spruch zu ihrem Vortheile zu erschleichen. Diesen letzten Spruch erwartete jetzt Herr Gerlach täglich und bereitete seinen Mündel in seinem Briefe an denselben dazu vor, das Ärgste zu erwarten und dann sich gefaßt zu halten, eine sparsamere und eingezogenere Lebensart zu führen, wie sie seinen veränderten Vermögensumständen angemessen seyn würde.
Wasserhorns Brief hingegen enthielt angenehmere Dinge. Es hatte dieser ehrliche Mann längst durch allerley schiefe Wege sich Empfehlungen und Schutz zu verschaffen gesucht, um eine kleine Bedienung zu erhalten und das Hofmeisterleben zu verlassen. Jetzt war sein Wunsch, durch Vermittlung des seligen Krallheims, der dem Minister des Departements so viel gute Dinge von Wasserhorns Geschicklichkeit und seinem Verdienste um Ludwigs Bildung gesagt hatte, erfüllt und ihm eine Beamtenstelle zu Theil worden.
Um nicht zu weitläufig in meinen Erzählungen zu werden, will ich hier gleich hinzufügen, daß der Hofmeister die Bedienung mit großer Freude annahm und daß vierzehn Tage nachher, leider! die Nachricht von dem gänzlichen Verluste des Prozesses eintraf. Der Vormund fügte nun nochmals seine Bitte um gute Hauswirthschaft hinzu: »Ew. Hochwohlgeboren«, schrieb er, »haben immer noch genug, um als ein mäßiger und verständiger Mann auch standesmäßig leben zu können, und wenn Sie itzt fleißig das Studium der Jurisprudenz fortsetzen, so wird Ihnen Ihre Geschicklichkeit in der Folge reichlich wieder einbringen, was itzt Chikane und Schelmerey Ihnen geraubt haben; allein ich muß Ew. Hochwohlgeboren nochmals eine gute Ökonomie empfehlen. Sie sind der Vollbürtigkeit ziemlich nahe und also alt genug einzusehn, was zu Ihrem Frieden dient. Ich halte es auch deswegen und zu Ersparung der Kosten für überflüssig, Denenselben einen andern Hofmeister an des Herrn Wasserhorns Stelle zuzugesellen« u. s. f.
Dieser Brief und die Abreise des Hofmeisters, der nun sein Amt antrat, machten auf Ludwig allerley Eindrücke. Es kam ihm schmerzlich an, sich einschränken, sich manche Bedürfnisse versagen zu müssen; die Niederträchtigkeit Derer, die seinem Vater so viel zu verdanken gehabt hatten, erbitterte ihn auf das Neue gegen die Menschen und benahm ihm den Sinn für allgemeines Wohlwollen und Zutrauen; die Trennung von Wasserhorn schmerzte ihn nicht sehr; allein da er durch dessen Abreise nun noch isolierter wurde und einen Drang fühlte, seinen Verdruß und Mißmuth loszuwerden, so suchte er Zerstreuungen, ging in Wirthshäuser und besuchte Billarde. Hier fand er Jünglinge aller Art, und sein Herz, das insgeheim nach Freundschaft sich sehnte, wählte unter ihnen ein Paar aus, deren Gemüthsart, Sitten und Laune in seiner jetzigen Stimmung grade den harmonischen Eindruck auf ihn machten. Alwerth und der Graf von Storrmann waren diese Beiden. Alwerth, ein feuriger Jüngling von vierundzwanzig Jahren, voll Lebhaftigkeit, Witz und Talent, studierte die Arzeneikunde, besuchte in der That die Hörsäle ziemlich fleißig, und wenn er, da er viel Stunden des Tages der Geselligkeit widmete, zu Hause nicht sehr emsig bey den Büchern war, so setzten ihn dagegen seine wirklich nicht gemeinen Fähigkeiten in den Stand, mit Leichtigkeit in einer Stunde mehr zu fassen als Andre mit der größten Anstrengung in ganzen Tagen. Dabey aber waren seine Sitten äußerst unregelmäßig. Er hatte aus einem öffentlichen Erziehungsinstitute alle Verderbnisse, die in solchen Anstalten zu herrschen pflegen, mit auf Universitäten gebracht. Das Lesen leichtfertiger Dichter, solcher Schriftsteller, die Unschuld und Moralität nicht respektieren, und solcher Romane und Geschichten, in welchen schlaue Bösewichte, eminente Zerstörer und Verführer mit reizenden Farben geschildert werden, endlich der wirkliche Umgang mit einigen solcher gefährlichen Menschen hatten diese Anlagen noch mehr in das Feine ausgebildet und aus ihm einen gefährlichen Wollüstling gemacht, der Religion und Sittlichkeit theoretisch und praktisch verleugnete, aber dagegen so angenehm, so unterhaltend und so originell war, daß ein junger Mensch von Seelbergs Charakter wie von einem Magnete zu seiner Person und zu seinen Grundsätzen hingezogen wurde. Der Graf Storrmann war auf gewisse Weise Alwerths Schüler in Hippias Weisheit, ein reicher und schöner junger Mensch, nicht ganz so geistvoll, so kühn, so geschliffen noch so kultiviert als Alwerth; aber es fehlte wenig daran, und dies Wenige und ein Schauplatz wie Athen! – und er würde ein zweiter Alcibiades gewesen seyn. Diese Beiden spielten in einem Zirkel noch andrer junger Leute von ähnlichen Dispositionen die ersten Rollen. Sie kamen täglich gegen Abend in einem öffentlichen Hause zusammen, und wenn ihre Unterhaltungen nicht die lehrreichsten und ihre Vergnügungen nicht die unschuldigsten waren; wenn man billig bedauern mußte, daß Jünglinge von so ganz besondern Gaben so leichtsinnig Freuden nachrennten, die sichre Reue zurücklassen; so waren doch gewiß Witz, Satyre und Humor bey ihnen zu Hause. Sie lasen alles, was alte und neue Literatur zu Erweckung derselben aufzuweisen haben, und beobachteten, studierten die Menschen, aber freilich mehrentheils nur von den lächerlichen und schwachen Seiten. Wehe dem, der ihnen eine Blöße von der Art gab und dann in ihre Gesellschaft gerieth, oder auf den Einer von ihnen sonst Plan machte! Er entwischte nicht. Dabey hatten dennoch Einige von der Gesellschaft, besonders Alwerth und Storrmann, so viel Sinn für eine gewisse Art Edelmuth und Großmuth, daß man wohl sah, diese Menschen würden, wenn nicht grade ihr böser Genius ihnen diese falsche Richtung gegeben hätte, mit ebensoviel Enthusiasmus und Feuer Helden in der Tugend gewesen seyn.
Nach allen Bemerkungen, die wir über Ludwigs von Seelberg Charakter von seiner ersten Jugend an gemacht haben, kann es die Leser nicht befremden, wenn ich Ihnen sage, daß der Umgang mit diesen jungen Leuten ihm in seiner jetzigen Gemüthsverfassung neues Leben einflößte, ihm neue Federkraft, aber leider! zum Bösen gab. Auch hing er sich in kurzer Zeit so fest an Alwerth und Storrmann und sie an ihn, daß man sie außer den Stunden, die Jeder einzeln seinen Studien widmen mußte, unzertrennlich beisammen sah. Ich kann aber die Veränderung, welche durch diesen Umgang in ihm vorging, und inwiefern dadurch manche schlafende Kraft, ob zum Guten oder zum Bösen, erweckt wurde, nicht besser schildern, als wenn ich ihn selbst reden lasse. Er hielt ein Tagebuch, schrieb, wenn er des Abends zu Hause kam oder sonst in Augenblicken von Sturm und Drang, seine jedesmaligen Empfindungen mit kurzen Worten auf – Hier sind Auszüge aus diesem Tagebuche:
»Den 20sten November, abends 11 Uhr.
– Welch ein Glück, Freunde zu finden, an deren Feuer man sein Licht anzünden kann, das Licht, mit welchem man so lange vergebens bey den elenden Alltagsmenschen herumgelaufen war! Aber Ihr werdet mir's nicht wieder ausblasen, blödsinnige, ehrenfeste, ernsthafte Herrn! Und lasset mich noch drey solcher Freunde finden, und Ihr sollt sehn, was wir aus Euch machen wollen. Ich fühle neues Leben, neue Kraft in mir; ich bin aufgewacht aus dem Schlafe des Mißmuths und des Überdrusses. Ich will nicht mehr klagen über die Menschen; ich will mit Macht und Gewalt unter sie herumfahren, und Keiner soll mir ein Haar krümmen – Was ist Dem unmöglich, der ernstlich will und mit Feuer angreift? –
Den 22sten um Mitternacht.
O! des jämmerlichen Haufens, der feierlichen Tugendprediger, der ängstlichen Vorurtheilsschüler, die bis in ihr graues Alter vor Ammenmärchen zittern, sich mit allerley moralischen Maskaradenkleidern ausstaffieren, untereinander herumtanzen, sich necken und sich Namen in die Hände schreiben, als kennten sie sich nicht, und sind doch Alle aus Einem Hause, aus dem großen Hospital und Narrenhause in der Dunkelheit herausgeschlichen! – Aber ich will ihnen die geborgten Lumpen vom Leibe reißen – Weg mit der Larve von dem Gesichte! – So! Und nun schaue mich an, ob ich schlechter, häßlicher bin als Du! – Meinst Du, mich täusche Deine scheinheilige Ernsthaftigkeit? Meinst Du, ich, der ich die Menschen kenne, ich wüßte nicht, daß Du, wenn Du allein in Deinem Kämmerlein bist, wünschest, wie ich wünsche, begehrest, wie ich begehre, und heimlich treibst, was ich öffentlich thue? – Und warum nicht? Wer gab uns die Triebe? Die Natur? Aber man soll diesen Trieben Grenzen setzen. Wer soll das thun? Die Vernunft. Was ist Vernunft? Resultat unsrer Erfahrungen; und diese Erfahrungen: steht es in meiner Macht, welche ich haben will und ob sie auf meine Empfindungen die nämlichen Eindrücke machen sollen als auf die Deinigen? Ist es meine Schuld, wenn in mir der Kampf zwischen kaltem Raisonnement und glühenden Trieben zum Vortheile der letztern ausfällt? Sucht nicht jedes Geschöpf von Natur sein Glück, seine Vollkommenheit? Würde nicht jedermann Eurer hochgepriesenen Tugend nachrennen, wenn ihm seine Erkenntnis, die von Gefühlen geleitet und modificiert wird, immer laut genug sagte, diese mache ihn glücklich, und wenn sie es ihm nicht laut, nicht oft genug oder gar nicht oder nicht zu rechter Zeit sagt, kann er seiner Erkenntnis eine Elle zusetzen, seine Gefühle umschaffen? Fehlt es an der Erkenntnis, so bedauert ihn! Ist er klug, vielleicht klüger als Ihr, so urtheilet nicht! Er hat gewiß an seinem Glücke gearbeitet, soviel er konnte, aber auf seine Manier gearbeitet – Und was ist denn Glück in diesem Erdenleben? Was anders, als was Jeder einzeln, was jeder Stand, jedes Alter dafür hält? Dir das Geld; einem Andern Mädchenliebe; einem Dritten Gewalt und eingebildete Ehre; einem Vierten ein Almosen von wenig Groschen; einem Fünften die Eroberung einer Provinz; einem Sechsten eine Pfeife Tabak; und wer wird einem von diesen Narren beweisen, daß er Unrecht hat, wenn auch alle übrigen Thoren einstimmig wären, ihn davon zu überzeugen? Also lasse man Jeden seinen Weg gehn; aber wehe dem, der künftig mich auf dem meinigen stören, der mich zwingen will, das für Gesetz, Richtschnur der Tugend anzuerkennen, was Er dafür erkennt! Was ist die Richtschnur der Tugend nach den gemeinen Begriffen? Ein konventionelles System, Regeln nach den bürgerlichen, nicht natürlichen Verhältnissen abgemessen, nicht ewige Wahrheit, sondern in ein Nichts zerfallend, sobald die Verhältnisse aufhören, sonst müßte ich auf einer wüsten Insel, wohin mich der Sturm getrieben hätte, lieber verhungern, als die Früchte anrühren, die mir ein schöner Garten darböte, aus Furcht, die Rechte eines Menschen zu kränken, der sich etwa als Eigenthümer einfände, weil er ehemals diesen Fleck durch Gewalt erobert oder ererbt oder aus Langerweile oder aus Eigennutz angebauet hätte. So hätten Adams Kinder erst, gegen die Gebühr, Dispensationen vom Consistorio zu ihrer Verheirathung untereinander einholen müssen! Wenn also diese schönen Gesetze auf Umständen und Konventionen beruhen, wer zwingt mich dann, diese Übereinkünfte anzuerkennen, wenn ich nicht will? Wer kann in mein Herz sehn, ob nicht etwas in mir ist, das alle die Ursachen aufhebt, worauf jene schönen Konventionen beruhen? Aber freilich kann mich das Zusammentreten Vieler, die bürgerliche Gesellschaft, zwingen, und das ist dann das Recht des Stärkern, das einzige natürliche und anerkannte Recht, anerkannt und über alles herrschend, Eigenthum und alle andre Rechte und Verbindungen aufhebend, von jeher, solange die Welt steht. Und wer ist der Stärkere? Wer war es von Anfang der Schöpfung an? Der Klügere und Kühnere war es und wird es immer seyn – Rex est, qui metuit nihil, und der, welcher die Schwachheiten der Menschen kennt und zu seinem Vortheile zu benutzen versteht. Aber ist das nicht eine gefährliche Lehre? Wie, wenn Jeder so denken wollte? Was würde aus der Welt werden? – Nichts Schlimmers, als was sie jetzt ist! – Wenn Jeder so denken wollte? Es kann, es wird nicht Jeder so denken, weil nicht Jeder so fühlt, weil nicht Jeder Kraft, Geist, Drang, Schwung genug dazu hat; und würde ein mittelmäßiger Kopfes versuchen, so würde er scheitern, man würde ihn bey den Ohren fassen; und also paßt diese Lehre nur für privilegierte gute und böse Genies, und Diese haben von jeher darnach gehandelt. Bey allen Übrigen heißt es nur: Ein Schwert hält das andre in der Scheide, und diese Rücksicht allein ist es, welche Ordnung erhält, nicht Eure Moral, nicht die Überzeugung von dem, was recht und unrecht ist, denn Ihr sehet ja täglich, daß durch diese die Leute nicht zurückgehalten werden, den bürgerlichen Frieden zu stören. Aber Alcibiades, Alexander der Große, Carl der Zwölfte, Lovelace, Richelieu, Masaniello, Ihr und Eures Gleichen! Ihr werdet, solange die Welt steht, Euch nie die Fesseln der Konventionen anlegen lassen.
Den 23sten morgens.
Was habe ich gestern geschrieben? – Richelieu – Lovelace – Also könnte ich das gutheißen, daß man eminente Talente anwendete, den Schwachen zu mißbrauchen, aus hilflosen Brüdern leidende Sklaven zu machen, durch Einen Wink Tausende in das Elend zu stürzen, häuslichen Frieden zu stören, die Unschuld zu verderben, den Genuß eines Augenblicks mit dem Jammer ganzer Generationen zu erkaufen? Ich könnte vergessen, daß größere Verstandesgaben, vorzügliche Kräfte ein höherer Beruf der Natur sind, Schutz und Rath zu verleihen Denen, die dessen bedürfen? – O! so möge kein Schlaf je wieder meine matten Glieder erquicken, wenn ich eine so abscheuliche Lehre niederschreiben könnte! Aber ist denn die Rede von dem, was also seyn sollte und was besser seyn könnte? Nein! von dem rede ich, was ist, was leider! also ist und immer seyn wird. Schreibe dem Feuer vor, daß es nur wärme, daß es nie brenne, nie verzehre! Schreibe dem Weine vor, daß er den Durst stille, ohne zu berauschen! – Doch ein Wort des Trostes! Zum Glücke des gesellschaftlichen Lebens gibt es der Zerstörer Wenige, und die Wenigen, welche ausgerüstet sind mit Herrscherskräften, welchen Macht und Gewalt gegeben ist über subalterne Geister, diese Wenigen haben mehrentheils auch hohe Tugenden, Edelmuth, Mitleid, Großmuth, Nachsicht, Duldung, oder – glückliche Schwachheiten, Weichlichkeit, Eitelkeit, Liebesdrang, oder – keinen Schauplatz, keinen Spielraum. Selten wird ein Wesen erzeugt mit so unharmonischer Stimmung und unter solchen Verhältnissen, daß Verstand, Schnellkraft und Feuer mit Schadenfreude, Verwüstungsgeist und Grausamkeit bey der Gelegenheit zu schaden vereinigt wären – Nein! aus der Hand der Natur kömmt keines so; und lebt ein solches Ungeheuer, so habt Ihr Elenden es selbst dazu gemacht, habt Euch so lange mit ihm herumgebalgt im Finstern, es geneckt und gekneipt, bis es auffuhr, seine Kräfte maß, rasend herumlief unter Euch und alles zertrat, solange kein Stärkerer über ihn kam.
Den 1sten December.
Hast Du schon einen Menschen gesehn, der nach Grundsätzen handelte? Ich noch keinen einzigen. Alle werden von Gefühlen getrieben zu dem, was Ihr gut und böse nennet. Das Weib ist treu, bis der Augenblick der höchsten Versuchung kömmt; aber freilich, was Versuchung für die Eine war, ist für die Andre keine; deswegen ist Diese tugendhaft. Der Richter ist unbestechbar, und könnte er Millionen durch eine ewig verschwiegen bleibende Beugung des Rechts gewinnen; ich will auch glauben, daß er, besonders wenn er alt ist, den Zaubertönen einer schönen Klientin widerstehen kann; aber der wahrheitslügende Styl eines schlauen Sachwalters, der einfache, unschuldige Vortrag einer Parthey, die Recht zu haben glaubt gegen einen Menschen, der bey der besten Sache in Verlegenheit geräth; die feine Schmeicheley eines Großen, der nur, indem er den Handel seiner Protektion empfiehlt, an des Richters tiefe Einsicht, an seine unbestechbare Rechtschaffenheit appelliert – das blendet den guten, tugendhaften Mann und läßt ihn Gründe sehn, wo keine Gründe sind. Der tapfre Offizier läuft nicht weg aus der Schlacht, wo tausend Augen auf ihn gerichtet sind; aber er zittert unter vier Augen vor den Gardinenpredigten seines bösen Weibes. Der Pfarrer eifert gewiß aus innerer, reiner, heiliger Überzeugung gegen die Unkeuschheit; aber ich fordere ihn auf, zu bekennen, wie oft er den Text zu seiner Kanzelrede in den Armen seiner Köchin vergessen hat – O! ich bin jung; allein ich habe viel Menschen en robe de chambre gesehn. Da sehen sie ganz anders aus als en habit de cour – Doch Ihr wollt und könnt das nicht sehn. Wer ist unter Euch, der sich unterstünde zu behaupten, er schätze die Menschen immer nach ihrem wahren Werthe, nicht nach dem Grade der Achtung und Zuneigung, die sie ihm beweisen, oder nach dem Grade der Ähnlichkeit, die sie mit ihm haben? Ihr lüget und laßt Euch belügen – Was soll aber alle diese Heucheley, das Moralisieren und Deklamieren, womit Ihr Euch einander ohne Unterlaß hintergehet? – Noch einmal! Wer wagt es, zu sagen, er sey besser als ich? Und doch, so wie ich da stehe, ist kein Laster, wozu ich nicht fähig wäre, wenn das Schicksal mich in solche Lagen setzte, daß ich müßte. Aber ich bin mitleidig; ich theile meinen letzten Heller mit dem Armen; ich kann nicht leiden, daß der Schwache unterdrückt, mißhandelt werde; ich begehre keines noch unverführten Mädchens, befriedige meine Triebe, respektiere aber die Unschuld; ich lüge nicht; ich diene und helfe gern, wo ich kann; ich ehre das hohe Verdienst und bin ein treuer und warmer Freund – Und meinet Ihr, ich rechne mir das alles als Tugend an? – O Ihr Blödsinnigen! Ich bin freigebig und mitleidig aus Temperament und Reizbarkeit der Nerven; ich schütze die Schwachen aus Stolz; ich vergreife mich nicht an der Unschuld, weil es der schon verführten Mädchen zu Stillung meiner Begierden genug gibt; ich lüge nicht, weil dadurch nichts zu erlangen ist, weil das nicht Stich hält; ich diene Andern aus Eitelkeit und Thätigkeitstriebe; ich ehre das Verdienst, insofern es mich nicht verdunkelt; ich liebe meine Freunde aus Seelenbedürfnis und weil sie mich noch nicht betrogen haben – Und doch bin ich besser als Ihr tugendhaften Heuchler, ja! ich bin besser, denn ich zeige mich, wie ich bin.«
Ich schließe hier die Auszüge aus Ludwigs Tagebuche und füge nur noch einige Züge zu dem Bilde hinzu, welches uns dieselben darstellen, um die Leser ganz mit der Richtung bekannt zu machen, die sein Charakter bekommen hatte. Er verachtete alle bürgerlichen und überhaupt alle engeren Verhältnisse, das Familienband und jede Art von Verbindung, welche die Menschen nach Konventionen und nicht nach freiem Herzenstriebe aneinanderknüpfte. Alle gute und kluge Menschen, behauptete er, seien verwandt, und wenn man einen Fremden irgendwo anträfe, der weiser und besser wäre als unser eigener Vater, so sey es Pflicht, denselben Diesem in allen Stücken vorzuziehn. Die ganze Welt hielt er für sein Vaterland und alle Anhänglichkeit an den Staat, in welchem man geboren, erzogen und gepflegt worden, für Vorurtheil und Schwachheit. Alle Wissenschaften, die Kenntnis der Natur und deren Kräfte, das Studium echter Philosophie und die Arzeneikunst ausgenommen, erklärte er für Kinder der Noth, unnützer Bedürfnisse, der Barbarey, der Charlatanerie und des Verderbnisses, für elenden Tand, nur so lange etwas werth, als die unnützen, unnatürlichen Verhältnisse und bürgerlichen Bande unter den Menschen Statt hätten. Selbst die Geschichte und die Erdbeschreibung standen bey ihm in keinen höhern Würden: »Was«, rief er, »kümmert's mich, auf welche Art die Menschen vor tausend Jahren ihre Narrheiten getrieben haben! War es nicht immer das nämliche Possenspiel? Was kümmert's mich, wie es in Afrika aussieht, kenne ich doch noch kaum den kleinen Fleck, auf welchem ich täglich umherwandle! Auch mag ich nichts studieren als das menschliche Herz; alles Andre ist keinen Pfifferling werth.« Was übrigens die Erlernung positiver Wissenschaften betraf, so war er überzeugt, daß es einem Genie von höherer Art (versteht sich, daß er immer dabey dachte: si come anche io sono) leicht sey, wenn dasselbe es ernstlich angreifen wolle, in kurzer Zeit jede Wissenschaft, jede freie und unfreie Kunst, jedes Handwerk gründlich zu erlernen. »Ich verstehe«, pflegte er zu sagen, »nicht das Geringste davon; allein der böse Feind müßte sein Spiel haben, wenn ich nicht in Jahresfrist, insofern ich es darauf anlegen wollte, als Professor der orientalischen Sprachen oder als Schreinermeister oder als Seiltänzer Aufsehn erregen wollte.« Wenn ihm alle Familienverhältnisse gleichgültig waren, so achtete er noch weniger auf die von der bürgerlichen Gesellschaft geordneten Klassen unter den Menschen. Er nahm keine Rücksicht auf Stand, Alter, Vermögen, Geburt; wen er für den Klügsten hielt, der war ihm der Vornehmste, der Reichste, der Mächtigste, der Älteste. Er hielt es für ein Vorurtheil unter den Menschen, das Eigenthum zu respektieren. Wir haben vorhin gehört, daß er nur Ein Recht, das Recht des Stärkern anerkannte, nur Eine Sicherheit, nämlich die Rücksicht, daß ein Schwert das andre in der Scheide halte, und für den Schwächern nur Einen Schutz gegen Mißhandlung, nämlich die Zuversicht zu den natürlichen edeln und guten Dispositionen der stärkern Menschen. »Übrigens«, sagte er, »wenn es dem Stärkern beliebt, nimmt er gewiß und hat von jeher immer genommen, was ihm gefiel und er mit Sicherheit nehmen konnte. Also helfen da keine vorgeschriebene Regeln der Billigkeit, und die positiven Gesetze über das Eigenthum sind nichts weiter als der erklärte Wille des Stärkern, nämlich des Staats, welcher der Folgen wegen verordnet, daß der Schwächere bis auf weitern Befehl behalten solle, was er habe. Es gibt auch keinen allgemein überzeugenden, allgemein anerkannten Beweis darüber, daß sich jemand auf irgendeine Art ein ausschließliches Recht auf irgend etwas in der Welt erwerben könne. Demonstriere, wenn Du kannst, einem Menschen im natürlichen Zustande, der Bedürfnisse fühlt, daß Dein Fleiß Dir auf die Sache, welche er begehrt, ein größeres Recht gäbe als seine Stärke! Er wird Dir sagen: Wer hat Dir geheißen zu arbeiten? Wer kann denn auch berechnen, auf wie lange Zeit die Arbeit Recht zum Besitze gibt? Wer kann wissen, ob jemand nicht aus Langerweile oder aus natürlichem Thätigkeitstriebe gearbeitet hat? Soll nicht Jeder arbeiten? und zwar der Schwächere für den Stärkern mit, weil er desselben Schutzes bedarf? Noch abgeschmackter ist die Idee, daß man Eigenthum verschenken, vererben, daß der Fleißige oder Starke, wenn er schon im Grabe liegt, noch dem Faulen oder Schwachen den ruhigen, unverdienten Genuß eines Guts sollte zusichern können, woran Jeder Anspruch machen darf, der seine Kräfte daran wenden will.« Von der Rache meinte er, sie sey zwar gar nicht unerlaubt, denn es sey nichts natürlicher und in der ganzen Schöpfung gegründeter als Gegenstoß gegen Stoß, Erwiderung des Empfangenen, und die mehrsten hochweisen Strafgesetze beruheten mehr oder weniger auf diese Erwiderung, nur daß der Staat sich das Recht anmaße, in die Stelle der Einzelnen zu treten; allein er hielt die Rache für unvernünftig und unzweckmäßig, weil sie das geschehene Übel nicht hebt.
Mit dieser verschrobenen, originellen Denkungsart nun, gegen welche dennoch (ich bekenne es zu seiner Ehre) sein oft erwachendes besseres, richtigeres Gefühl sich auflehnte, verband Ludwig feinen Witz, eine überaus satyrische Laune, die täglich schärfer wurde, und eine Gabe, die Leute lächerlich zu machen und ihre komischen Gewohnheiten und Gebärden zu erlauern und nachzuahmen. Dabey war ein Geist von Aventüre in ihn gefahren; er liebte alle außerordentlichen Begebenheiten, Entführungen, schlau ausgeführten Pläne, alle überspannten Charaktere, Mordgeschichten, Trauerspiele nach englischer Manier, Reisebeschreibungen, in welchen Erzählungen ganz seltener Unglücksfälle und Verlegenheiten und Schilderungen von wilden Menschen sonderbarer Art vorkamen. Leute von mittelmäßigen Gaben oder, mit Einem Worte! was er gemeine Menschen nannte, konnte er gar nicht leiden – alles sollte ungeheuer groß seyn. Er verlor den Sinn für Bewunderung stiller Privattugenden und einer gewissen negativen Güte, die oft mehr werth ist, als man gern glaubt, verlor Einfalt und wahren Kindersinn, und innerer Frieden wohnte nicht mehr in seinem Herzen. Wenn er allein, sich selbst überlassen war, dann rollten tausend verschiedene Pläne durch seinen Kopf. Des Nachts träumte Er, der sonst gewiß mit Vorsatz keine Kreatur quälte, von nichts als gewaltsamen, unangenehmen Dingen. Bald kämpfte er mit einem Thiere oder verfolgte es; bald zielten eine Anzahl Kriegsmänner mit Flinten bloß nach ihm; bald kam es ihm vor, als wäre Julie seine Frau und habe ihn in den Armen einer Buhldirne überrascht –
Und nun einen allgemeinen Blick auf Ludwigs Gemüths- und Denkungsart, wie wir sie itzt beschrieben haben! Ich habe das Gemälde nicht überladen, und wer Menschen kennt und über das nachgedacht hat, was ich von Seelbergs ersten Anlagen und von den Einwirkungen äußerer Dinge auf seinen Charakter gesagt habe, der wird mir das auf mein Wort glauben. Sein System zu widerlegen (wenn man so etwas System nennen kann), das wollen wir dem Schicksale überlassen, indem ich den Lesern zeigen werde, wieweit ihn dasselbe in der wirklichen Welt führte, wohin ihn seine Irrthümer stufenweise leiteten und lange herumleiteten, ehe er wieder zurückkam auf den Weg der Wahrheit und des Friedens – Doch, ein Wort über unsre heutigen Kraftgenies! Wie Mancher unter ihnen wird nicht, wenn er jene theils gefährlichen, theils fantastischen, theils abgeschmackten Sätze liest, sie aus ganzer Seele unterschreiben! Wie Viele unsrer neuern Schriftsteller verbreiten nicht einzelne Sätze von der Art in dem anlockendsten Gewande! Zum Beispiel die Lehren: daß der Weise Herr der Welt und daß dem kühnen Unternehmer nichts unmöglich sey; daß man aus den Menschen machen könne, was man wolle, wenn man sie nur am rechten Zipfel anzugreifen verstehe; daß jedermann nach Gefühl handle, auch nicht anders handeln könne; daß moralische Freiheit ein Unding sey; daß auch nicht Ein Mensch durch Grundsätze der Tugend vom Bösen abgehalten und zum Guten getrieben werde, sondern daß Instinkt, Temperament und Umstände ihn zum Thun und Lassen bestimmen; daß auch die Reinsten nicht die strengere Prüfung und nicht eines Einzigen Grundsätze gegen Gefühl, Reizung und Versuchung die Probe aushalten; daß kein unbestechbarer, kein unpartheiischer Mensch auf der Erde lebe; daß es kein Glück in dieser Welt gäbe, so jedermann dafür anerkennen müsse, sondern daß eines Jeden Glück in seiner Einbildung beruhe; daß religiöse Vorschriften und Regeln der Tugend den Stärkern nie abgehalten haben, nie abhalten werden, den Schwachen zu mißbrauchen; daß es gewisse privilegierte Genies gäbe, die kein Mensch von gemeinem Schlage weder beurtheilen noch richten, noch einschränken könne oder dürfe; daß Furcht vor Strafe das einzige Mittel sey, dem Mißbrauche der natürlichen Kräfte zu steuern; daß alle Gelehrsamkeit Thorheit und aller Tand, der in Büchern stehe, leicht zu erlernen sey, ja! daß ein großes Genie alles wisse, alles durchschaue, sich mit dem kleinen systematischen Detail der Wissenschaften gar nicht abzugeben brauche; daß Regeln nur Krücken für Lahme, Gängelbänder für Kinder seyen; daß alle engeren Verhältnisse zu verachten und Anhänglichkeit an Familie und Vaterland, Dankbarkeit gegen Eltern und Verehrung des grauen Alters elende Vorurtheile seyen; daß man die Menschen wieder auf den natürlichen Zustand zurückführen und allen Unterschied der Stände und des Vermögens aufheben müsse; daß niemand Recht auf irgendeinen Besitz, auf irgendein Eigenthum habe, als insoferne er beweisen könne, daß er entweder der Würdigste oder Bedürftigste oder Stärkste sey; daß dem Staat nicht das Recht zustehe, das verübte Verbrechen zu bestrafen, sondern nur dem künftigen vorzubeugen; daß es die Menschen bessere, wenn man laut und dreist über ihre Thorheiten lache und spotte, ihre Fehler aufdecke und Diejenigen, welche schlecht gehandelt, an den Pranger stelle; daß Schwäche des Herzens eher zu verzeihen sey als Schwäche des Kopfs, und daß kein verächtlichers Geschöpf existiere als ein dummer Mensch.
Nun hat man zwar Beispiele, daß einige dieser saubern Sätze, in ihrer größten Stärke, solche Universalgenies an den lieben lichten Galgen oder in das hochlöbliche Zucht- und Tollhaus gebracht haben; allein ich will nicht einmal von diesen Virtuosis in neuerer Philosophie, sondern nur von dem allgemeinen Nachtheile reden, den die Verbreitung solcher pseudophilosophischen Systeme für die bürgerliche Gesellschaft hat. Ihr haben wir es zu danken, daß alle Bande unter den Menschen von Tage zu Tage lockrer werden; daß jedermann Weltbürger seyn will und darüber ein schlechter, unbrauchbarer Staatsbürger und Hausvater wird; Ihr haben wir die herrlichen öffentlichen und geheimen Verbindungen und Reformationsanstalten zu danken, deren einige die Zöglinge zu Narren, andre zu Schurken und Empörern machen, fast alle aber, ohne Unterschied, politische, alchymische, theosophische oder andre Schwärmerey, thörichten Hochmuth, geistlichen Stolz, Impertinenz, Inkonsequenz, unnütze Thätigkeit und Faineantise befördern; Ihr haben wir die stündlich überhandnehmende vortreffliche Polyhistorey zu danken, die uns bald in allen Zweigen der Gelehrsamkeit ebenso schnell zurücksetzen wird, als wir vorgerückt waren; Ihr haben wir zum Theil die so sichtbar in allen Ständen sinkende Moralität, die falsche Aufklärung, die übelverstandene Toleranz und die Verachtung der Religion zu danken; Ihr haben wir es zu danken, daß Zutrauen, Treue und Glaube so selten unter den Menschen werden, daß man Jeden zu jeder Schelmerey fähig hält, und daß deswegen auch Jeder sich gegen Jeden alles erlaubt; Ihr haben wir das beliebte Aufsammlen wahrer und falscher Anekdoten von großen und kleinen Menschen zu danken, wodurch nicht nur Mancher in der Bosheit befestigt, Mancher unschuldiger Weise verleumdet, verdächtig gemacht, um Glück und guten Namen gebracht, sondern auch das Publikum gleichgültig gegen guten und bösen Ruf, gegen Schimpf und Verunglimpfung und mißtrauisch gegen alle Anekdoten und Erzählungen von Thatsachen wird; Ihr haben wir es endlich zu danken, daß niemand sich um seine eigenen Geschäfte und Pflichten, wohl aber um die Handlungen Andrer bekümmert, daß Jeder, der Frechheit genug dazu oder einen geheimen oder öffentlichen Anhang hat, sich als der Übrigen Richter ansieht, redliche und kluge Männer wegen kleiner Fehler öffentlich antastet, indes er selbst der heilloseste Bube ist, von dem sich durchaus nichts Gutes würde sagen lassen; daß stilles Verdienst und häusliche Tugenden, die weder Lärm machen noch Anhang unter dem gelehrten und mystischen Pöbel suchen, verkannt, ja! wohl gar verlästert werden und daß, wer es wagt, dergleichen Unfug mündlich oder schriftlich zu rügen, gegen seine Person oder gegen sein Buch ein Wespennest aufrührt, da er denn lieber in der Folge schweigt, wenn er nicht grade in einer Lage ist, die ihm so wie mir erlaubt, über alle diese Rotten zu lachen – Doch kehren wir zu Ludwigs von Seelberg Geschichte zurück!