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Indes die Anzahl von Ludwigs Gesellschaftern durch die Abreise des Grafen von Storrmann vermindert wurde, bekam dieselbe von einer andern Seite einen nicht gar glücklichen Zuwachs durch ein paar Livländer, welche, von einer andern Universität getriebenen Unfugs wegen verwiesen, während Seelbergs Lustreise in Göttingen angekommen, mit Alwerth in Bekanntschaft gerathen und von demselben den übrigen lustigen Freunden vorgestellt worden waren. Diese suchten Ludwigs Umgang angelegentlichst, und er gefiel sich deswegen bey ihnen, weil sie sehr gute Tonkünstler waren und manchen Winterabend mit ihm durch Musik verkürzten. Außer diesem Talente aber, das freilich auch oft von den elendesten und schwächsten Menschen mit Erfolge kultiviert wird, hatten diese beiden livländischen Edelleute gar kein Verdienst. Sie waren ausschweifende Jünglinge ohne Grundsätze und ohne Adel des Herzens – Hier erlaube man mir einen kleinen Seitensprung!
Wenn ich gesagt habe, daß man ein guter Tonkünstler und doch dabey ein sehr unedler und dummer Mann seyn könne, so habe ich zwar, was den ersten Punkt betrifft, das gemeine Vorurtheil aller enthusiastischen Liebhaber dieser schönen Kunst gegen mich, indem Diese zu behaupten pflegen: es sey schon ein Merkzeichen von einem guten Herzen, wenn jemand Geschmack und Gefühl für Musik habe; allein ich nehme dennoch, und obgleich ich selbst Musiker bin, mein Wort nicht zurück. Freilich mag nach den gemeinen Begriffen, die man mit dem Ausdrucke »ein gutes Herz haben« verbindet, jene Behauptung wahr seyn. Wenn man nämlich eine gewisse Reizbarkeit der Nerven, vermöge welcher sie leicht allerley wahre und falsche, schädliche und nützliche Eindrücke annehmen, eine natürliche, von schwachen Organen, sanguinischem Temperamente, inconsequenter Erziehung und eigener Verzärtlung herrührende weibische Weichlichkeit, Lenksamkeit und Empfindsamkeit mit dem Ehrennamen eines guten Herzens belegen will, so mag meinetwegen jeder Fiedler und Pfeifer den sichersten Anspruch auf dies Lob machen dürfen. Wenn man aber ein gutes Herz ein von nüchterner Vernunft geleitetes inneres Bestreben nennt, ein Bestreben, alle seine Handlungen so einzurichten, daß wir gegen uns und Andre immer gerecht, grade und edel handeln, dann sehe ich nicht ein, was das Geigen und Blasen darauf für Einfluß haben könne. Und was die Idee betrifft, daß ein guter Musiker durchaus ein offner Kopf seyn müsse, so leugne ich schlechterdings, daß dies gewöhnlich der Fall bey den bloß ausübenden Tonkünstlern sey, und wären sie noch so geschickt, auch könnte ich dies durch manche Beispiele darthun. Redet man aber von großen Tonsetzern, die tiefe Blicke in die höhere Theorie und Praxis der Kunst gethan haben, dann gebe ich das gern zu und ehre den philosophischen Künstler in allen Fächern, wo ich ihn antreffe – Doch, wohin führt mich meine Feder? und was wird mein Herr Verleger dazu sagen, der mich bogenweise bezahlt? – Lenken wir geschwind wieder ein! –
Die beiden livländischen Edelleute waren schlechte, liederliche Pursche, aber angenehme Gesellschafter; Ludwig fühlte das Bedürfnis der Geselligkeit; Storrmann war fort; Alwerth wurde Doktor und ging auch in seine Vaterstadt zurück; Luisens Bild in Seelbergs Herzen verlor immer mehr von der Lebhaftigkeit seiner Farben, seitdem er nicht mehr so oft von ihr mit dem Grafen reden konnte. Ein Briefwechsel, der sich monatlich auf höchstens drey Briefe und die Antworten darauf einschränkte, war nicht hinreichend, das Feuer wieder anzufachen; und so verloschen denn nach und nach die guten Eindrücke wieder, welche die Bekanntschaft mit diesem herrlichen Geschöpfe auf ihn gemacht hatte. Dazu kam, daß seine ökonomischen Umstände sich nicht in der besten Verfassung befanden. Er war nie sparsam gewesen, und als sein neuer Vormund, der Advokat Gerlach, ihm eine sorgsame Hauswirthschaft anempfohl, weil der gegen seine Verwandten verlorne Prozeß ihn um die Hälfte seiner Einkünfte gebracht hatte, wurde es ihm nicht nur schwer, von der einmal gewöhnten Lebensart nachzulassen und manchen Bedürfnissen zu entsagen, sondern es drückten ihn auch noch alte Schulden, die er in der letzten Zeit von Wasserhorns Führung ohne Vorwissen desselben gemacht hatte. Da ihn dies in vielfache Verlegenheit setzte, so wendete er sich endlich an den Herrn Gerlach und forderte in Ausdrücken, wie ein junger Cavalier sich zuweilen derselben gegen einen Advokaten bedienen zu dürfen erlaubt, einen ziemlich ansehnlichen Geldzuschuß; allein Jener antwortete in dem Ton eines Vormundes und erklärte sehr deutlich: er könne außer der ihm ausgesetzten Summe nicht einen Heller schicken, und wenn der junge Herr Lust habe, sich zum Bettler zu machen, so müsse er damit Anstand nehmen, bis er vollbürtig sey oder sich veniam ætatis geben lassen, wozu er gern die Hände bieten wolle. Ludwig gerieth fast in Verzweiflung über diesen Bescheid. Es fehlten noch elf Monate, um die Anzahl der Jahre vollzumachen, die in seinem Vaterlande zu Erlangung der venia ætatis erfordert wurden, und da ein zweiter Versuch, den Vormund zu Zahlungen zu bewegen, ebenfalls fehlschlug, so wurden die Gläubiger mit guten Worten hingehalten. Allein sie murrten, drängten immer mehr, und so mußten sie denn mit terminlichen Zahlungen auf kurze Zeit abgespeiset werden. Hierauf gingen die wenigen Barschaften hin, Seelberg war fast immer ohne Geld und mußte zu Befriedigung seiner nöthigsten Bedürfnisse täglich neuen Kredit suchen.
Eine unordentliche Haushaltung wirkt, wie bekannt, sehr nachtheilig auf die Moralität eines Menschen; Ludwig fand zu Hause Langeweile, Überdruß, und suchte, damit er die unangenehmen Gedanken zerstreuen möchte, Gesellschaften. Um in seinen Stadtzirkeln willkommen zu seyn, muß man freie, heitre Laune und ein gewisses, aus Kleidung und andern äußern Dingen hervorleuchtendes Ansehn von Wohlstand mitbringen. Es bleibt nicht lange verschwiegen, wenn wir in ökonomischen Verlegenheiten stecken, und in der heutigen Welt ist diese Entdeckung hinreichend (ohne daß untersucht wird, ob wir daran Schuld sind oder nicht) zu machen, daß wir uns Andern, die in glänzenderm Aufzuge erscheinen, nachgesetzt sehen müssen. Ein ehrgeiziges Gemüth aber, das von mancher Seite sich weit über die Reichsten erhaben fühlt oder zu fühlen glaubt, verträgt dergleichen Zurücksetzung nicht, und da alle diese Umstände bey Seelbergen eintraten, so floh er gesittete Gesellschaften und suchte die liederlichen, ungesitteten auf. Dissipat Euius curas edaces, das heißt: der Gott des Weins verscheucht die nagenden Sorgen; Seelberg nahm seine Zuflucht dahin und fing also an, zuweilen ein Gläschen über Gebühr zu trinken, wovor er sich bis itzt gehütet hatte; und wie dann der Wein manche andre Begierde rege zu machen pflegt, so gerieth er bey dieser Lebensart immer tiefer in das Labyrinth, stand fast jeden Morgen mit Reue auf und sammlete doch jeden Abend wieder neuen Stoff zur Reue. Kam ein Brief von Luisen an, so erwachte wohl das Gewissen um desto plötzlicher; aber diese Eindrücke waren vorübergehend. Jeder ehrenfeste Mann in Göttingen sagte: »Schade um den jungen Menschen, daß er so liederlich ist! Er hat viel gute Eigenschaften.« Aber nicht einer fand sich, der sich die Mühe gegeben hätte, den Quellen seines Verderbnisses nachzuspüren und ihm mit Rath und That beizustehn; sondern man that, was man leider! gewöhnlich in solchen Fällen thut, nämlich man begegnete ihm mit einer Art von Geringschätzung, die ihn nicht besserte, sondern nur noch mehr gegen die Menschen, gegen das Schicksal und gegen sich selbst erbitterte. Merket es Euch, Ihr gestrengen Herrn! Durch Verachtung ist nie, solange die Welt steht, noch kein Mensch gebessert worden, aber Mancher verschlimmert; und wer gar einen Jüngling von großen Anlagen, noch erst auf halbem Wege, im Begriff an den Abgrund hinzuirren, durch Verachtung von sich stößt, der ist Mitschuldiger an seinem Verderben, wenn er zu Grunde geht.
So stand es mit Seelbergen, als ihm Storrmann seine nahe Verbindung mit Marien berichtete und daß er im Begriffe sey, zu seiner Braut zu reisen. Er lud seinen Freund ein, das Hochzeitsfest auf Wallenholzens Gute mitzufeiern; allein durch einen Zufall wurde der Brief auf der Post aufgehalten, und Ludwig bekam ihn so spät, daß, obgleich er augenblicklich nach dem Empfange desselben sich auf den Weg machte, er doch dem Feste nicht mehr beiwohnen konnte, sondern die jungen Leute auf dem Punkt fand, zwey Tage nachher abzureisen. Diese Zeit war indessen hinreichend, Storrmannen und Seelbergen gegenseitig die Veränderungen wahrnehmen zu lassen, die in dem Herzen eines jeden von ihnen vorgegangen waren. Ludwig sah in des Grafen Mienen und in seinem Betragen eine gewisse Würde und ruhige Heiterkeit, die nur ein gutes Gewissen und innerer Frieden gewähren können. Diesem hingegen blieb es nicht verborgen, daß seines Freundes sittliche Verschlimmerung auf seinem Gesichte geschrieben stand. Beide Bemerkungen aber verstimmten sie untereinander. Sie konnten nicht zusammentreffen. Die Harmonie, welche ehemals durch die Ähnlichkeit ihrer Ideengänge und ihres Geschmacks entstand, war verschwunden. Storrmann wußte nicht recht, was er seinem Freunde darüber sagen sollte; die Zeit war zu kurz, um eine Kur mit ihm anzufangen. Er begnügte sich also, ihn bey dem Abschiede auf die Seite zu rufen und ihm ein paar liebevolle Worte an das Herz zu legen: »Lebe wohl, Seelberg!« sprach er. »Ich hätte Dir wohl vieles zu sagen; aber es geht nun in der Eile nicht. Ich habe Dich sehr verändert gefunden, und Du mich auch, nicht wahr? Möchtest Du Dich so wohl dabey befinden als ich! Ich beschwöre Dich, gehe keinen Weg, dessen Du Dich nicht noch spät freuen könntest, nachdem Du ihn zurückgelegt haben wirst! Kehre um, weil es noch Zeit ist, und traue mir! es wird Dich nicht reuen. Du siehst, wie froh, wie ruhig ich bin. Fliehe nicht das Vergnügen; aber wirthschafte damit, und verschwelge nicht Deine Jugend, Deine Kräfte und Deine herrlichen Talente! Ich kann aus Erfahrung reden. Allein Du wirst so glücklich werden, als ich es jetzt bin, wenn Du dies Glück nicht von Dir stoßest. Luise liebt Dich unaussprechlich. Sie ist Deiner ganzen Zärtlichkeit und Hochachtung würdig, und sie ist schön und reich. Es hängt von Dir ab, mich zu vermögen, daß ich über sie wache und Dir dies Kleinod aufbewahre; aber denke auch, daß es meine Pflicht ist, für das solide Glück meiner Schwester zu sorgen; und eher müsse die unglückliche Leidenschaft so lange an ihrem Herzen nagen, bis die Zeit die Wunde heilt, ehe ich sie einem Manne aufopfern wollte, der Ihrer nicht würdig wäre. Und nun, mein Lieber! umarme mich! Verzeihe, daß ich so deutsch vom Herzen weg geredet habe! Doch Du bist mir theuer und wirst auch abwesend an mir den wärmsten Freund, aber auch einen unsichtbaren Beobachter haben. Das Übrige müssen wir nun schriftlich verabreden, da Du nicht früher hast kommen können.« Der Graf ließ Seelbergen nicht Zeit, auf diese nachdrückliche Anrede zu antworten; aber er hinderte auf alle Weise, daß Dieser nicht Gelegenheit fand, Luisen allein zu sprechen. Das gute Mädchen wußte nicht, wie sie sich betragen sollte. Sie fand, Seelberg sähe kränklich und traurig aus. Sie hätte ihn auch gern um die Ursache gefragt, hätte überhaupt so gern ihrem Herzen Luft gemacht; allein der Graf und die junge Gräfin ließen ihr nicht die Zeit, bis die Stunde des Abschieds kam; und da wankte sie in dem Zirkel der Lieben herum, blaß und schluchzend, umarmte ihre Eltern und Verwandten, und als sie an Ludwig kam, trat Storrmann herzu und sagte: »Auch Einen Kuß für meinen Freund! Er wird dieser Umarmung gedenken, sooft er eine gute That begehn will und sooft er einen edeln Menschen kennenlernt. Er wird ihrer gedenken, sooft ein böser Vorsatz in ihm aufkeimen möchte.« – Und nun umschlang Luise den Jüngling mit ihrem Arme; Seelberg küßte sie ehrerbietig; ihm rollten Thränen der besten Art von den Wangen herab – Sie stiegen in die Kutsche. »Die Butterbrote stecken in der rechten Wagentasche«, rief die Mutter nach. »Vergessen Sie meine englischen Hühnerhunde und das Wunderpflaster nicht, Herr Sohn!« rief der alte Wallenholz. – Sie fuhren ab; Seelberg ritt nach Göttingen zurück und schwur in seinem Herzen: »Ich will alle Kräfte aufbieten, Ihrer würdig zu werden.« – Ob er Wort hielt, das wollen wir bald sehn. Soviel aber ist gewiß; wenn er damals aus seiner unangenehmen Lage wäre herausgerissen, dem Umgange mit ausschweifenden Menschen entzogen, in bessere Zirkel eingeführt, mit Zutrauen und Achtung behandelt, auf solche Art mit der menschlichen Gesellschaft ausgesöhnt, endlich seiner unruhigen Gemüthsart, seiner Lebhaftigkeit, seinem Thätigkeitstriebe ein nützlicher Gegenstand dargeboten worden, wenn ein treuer und weiser Freund ihn bewacht, wenn er Luisen oft gesehn und dies kunstlose, unschuldige Geschöpf soviel mehr von der erlaubten weiblichen Coketterie verstanden hätte, als dazu gehört haben würde, einen Menschen von Seelbergs Gemüthsart und Erfahrung zu fesseln und das, was itzt in seinem Herzen nur ein hoher Grad von Verehrung war, in echte, feurige Liebe umzuschaffen – dann würde er gewiß von diesem Augenblicke an das geworden seyn, wozu ihn die Natur mit so herrlichen Gaben ausgerüstet hatte. Allein da dies alles nicht der Fall bey ihm war, so mußte er noch manche Prüfung aushalten, noch manchen Fehltritt thun, in manchen Irrthum verfallen.
Indessen hatten die Scenen auf Wallenholzens Gute und besonders der Abschied von Luisen seine Seele für Eindrücke von sanfter und wohlwollender Art empfänglich gemacht. Sobald er daher nach Göttingen zurückkam, suchte er seine livländischen Gefährten auf, um mit ihnen diese Empfindungen zu theilen. Er erzählte ihnen alles, was vorgegangen war; allein diese schlauen Bösewichte, die gar nicht ihr Konto dabey fanden, daß Ludwig seine Lebensart abändern und den Rath seines treuen Freundes befolgen sollte, suchten, obgleich auf die vorsichtigste Art, ihm Verdacht gegen die Redlichkeit der Absichten des Grafen Storrmann einzuflößen: Daß der Mensch jetzt auf einmal so fromm geworden sey (Er, der sonst bekannt genug mit der Welt und mit den heiligen Masken gewesen, freilich aber auch nun in seinem Vaterlande vielleicht seine Ursachen haben könne, eine ähnliche Larve anzulegen); daß er diese Verkleidung sogar gegen seinen vertrautesten Freund nicht abgelegt; daß er Luisen mit sich in sein Vaterland genommen habe; daß der Brief mit der Nachricht von dem bevorstehenden Hochzeitsfeste grade so spät angekommen sey, da doch sonst die Posten so ordentlich liefen; Seine kalte Bewillkommnung; das frostige Betragen nachher; die vorsätzlichen Hindernisse, die der Graf einem Gespräche unter vier Augen zwischen Seelberg und dem Fräulein in den Weg gelegt; sein beleidigender Vermahnungston, ja! die eingestreueten Drohungen – Das alles kam ihnen, wie sie vorgaben, sehr verdächtig, sehr unlauter vor – »Wenn ich Dir rathen soll, mein Lieber!« fügte einer von den saubern Herrn hinzu, »so sey auf Deiner Hut! Sobald die wenigen Monate vorüber sind, laß Dich majorenn erklären! Bis dahin kannst Du schon Kredit finden. Jedermann sagt, daß Dein Vermögen noch ansehnlich genug seyn soll. Warum willst Du Deine besten Jahre als ein Kopfhänger und Heuchler verträumen? Genieße des Lebens! die schönen Frühlingstage kommen nicht wieder. Bist Du majorenn, dann bringe Deine Sachen in Ordnung, und solltest Du auch ein Kapitälchen aufnehmen, das Du nachher in männlichen Jahren (in denen doch fast jedermann zu knickern anfängt) oder mit Hilfe einer reichen Frau wieder abtrügest, so gehe denn erst auf Reisen, ehe Du Dich auf irgendeine Art in ein Joch gibst. Siehe zu, wo es Dir am besten gefällt; und da bleibe! Und ist dann das strenge, tugendhafte Fräulein von Wallenholz noch immer so strenge tugendhaft, und Du hast indes Keine gesehn, die Dir besser gefiele, und Du hast denn durchaus Lust, in der großen Hahnreierlotterie ein Los zu nehmen, so gehe hin und laß Dich mit ihr kopulieren! Aber jetzt laß die frommen Grillen fahren!«
Durch diese und ähnliche Reden verdrängten die beiden würdigen Freunde bald jeden guten Vorsatz aus Ludwigs Seele, so daß Dieser in kurzer Zeit unbedachtsamer und leichtfertiger als jemals darauf los lebte. Hierzu kam, daß Storrmann (der ohne Zweifel von der Aufführung seines Freundes unterrichtet war) plötzlich seinen Briefwechsel mit ihm abbrach. Weil nun sein Herz sich so gern anschloß und die beiden Livländer sehr viel Einnehmendes hatten, auch seine schwachen Seiten zu benutzen wußten, so hing er sich mit ganzer Seele an dieselben. Diese Unwürdigen aber mißbrauchten seine Freundschaft auf eine Art, die ihm bald, aber zu spät, die Augen öffnete.
Es ist ein großer Unterschied unter zwey Empfindungen, die doch, flüchtig betrachtet, von einerley Art zu seyn scheinen, nämlich unter der Empfindung von Unglauben an alle Festigkeit der menschlichen Tugend im Ganzen genommen und dem speziellen Mißtrauen gegen alle einzelne Menschen, mit denen wir leben. Erstere entspringt gemeiniglich aus einem innern Gefühl unsrer eigenen Schwäche, indem wir zu uns selbst sprechen: »Ich weiß, daß sogar ich, der ich doch wahrlich ein ganzer Mann bin, der Versuchung nicht würde widerstehen können.« Die andre Art von Mißtrauen hingegen entsteht (bey einem Gemüthe, das nicht, wie es deren auch gibt, eine natürliche, im Körperbaue gegründete Anlage zur Melancholie, Ungeselligkeit und Feindseligkeit hat) daraus, wenn wir oft oder auf sehr schmerzhafte Art sind von Freunden und Personen, auf deren Anhänglichkeit und Redlichkeit wir so fest rechneten, getäuscht worden. Ersteres sagt uns: »Die Menschen möchten gern gut seyn, aber sie sind Alle schwach.« Letzteres ruft uns zu: »Traue Keinem: Jeder studiert darauf, den Andern zu hintergehn.« Jenes schadet der menschlichen Gesellschaft wenig oder gar nicht; es macht im Gegentheil tolerant, macht, daß wir unsern schwachen Brüdern gern und willig dienen, ohne Dank und Erfolg zu erwarten, daß wir, wenigstens aus Liebe zum Guten und um unser eigenes Vergnügen zu befördern, Gutes thun und doppelt froh werden, wenn wir unerwartet irgendwo Tugend wahrnehmen, die uns wieder mit der Welt aussöhnt; dieses hingegen macht uns feindselig, hartherzig, und wir fangen zuletzt an zu meinen, wir dürften uns alles erlauben gegen eine Bande von Schelmen, die uns so oft angeführt habe und die nur darauf laure, uns bey der ersten Gelegenheit wieder das prævenire zu spielen. On commence par être duppe, & l'on fini, par être fripon. Der erste Schritt, schlecht zu werden, ist, wenn man Andre dafür hält. Zu jener Art von Mißtrauen wird immer der Mann von Welt- und Menschenkenntnis unwillkürlich mehr oder weniger hingeleitet und kann sich dessen nicht ganz erwehren. Zu dem zweiten Irrthume hingegen verleitet man sich oft selbst, indem man am Anfange seiner Laufbahn zu viel von seinen Mitmenschen fordert und erwartet und nachher gewaltig tobt, wenn sie nicht wahrmachen, was – sie nie versprochen haben, wenn sie dem Bilde nicht gleichen, welches wir – mit verschlossenen Augen gemalt hatten.
Ludwig von Seelberg hatte, wie wir aus seinem Tagebuche wissen, mehr von jener unschädlichen Art von Mißtrauen, als daß er alle Menschen für Betrüger gehalten hätte, ein Mißtrauen, wobey er selbst mehr als Andre litt. Es ist wahr, daß Juliens Untreue und die Undankbarkeit seiner Verwandten sein Gemüth ein wenig erbittert hatten; allein noch war er von keinem Freunde betrogen, mißbraucht worden; Luisens Bekanntschaft und das Andenken an seine vortreffliche Mutter hatten ihn ziemlich wieder mit dem weiblichen Geschlechte ausgesöhnt, so daß er wenigstens glaubte, es gäbe Ausnahmen von der Regel unter ihnen. Dabey war sein Herz von Natur zum Wohlwollen und Mittheilen geneigt, und sein sanguinisches Temperament stimmte ihn nicht dazu, verschlossen, tückisch und zurückstoßend zu werden. Auch hätte ich wirklich, wenn es meine Absicht wäre, den Helden meiner Geschichte auf einen hohen Leuchter zur Schau auszustellen, viel Züge von Großmuth, Offenherzigkeit, Aufrichtigkeit, Freigebigkeit und edler Theilnehmung an dem Schicksal Andrer von ihm erzählen können, die er mitten in seinen Verirrungen nicht selten von sich blicken ließ, Züge, wie sie der große Haufen und die Romanschreiber, welche demselben zu gefallen trachten, gar zu gern als Zeichen erhabener Tugenden ausposaunen und die doch selten mehr werth sind als die Wohlthaten und Almosen der Fürsten, die man in den Zeitungen zu erheben, und die Anekdoten, die man in unsern bunten deutschen Journalen zu publizieren pflegt. Doch will ich diesen und jenen nicht alles Verdienst rauben und bin meines Theils sehr zufrieden, wenn nur das Gute geschieht, komme es auch aus welcher Quelle es wolle – Aber, wo sind wir denn in der Erzählung stehengeblieben? – ja! nun weiß ich es – Seelberg war noch nicht von Freunden betrogen worden; das stand ihm noch bevor, mußte ihm bevorstehn, weil er schlecht wählte; und dies vollendete dann seine moralische Verschlimmerung.
Er hatte, als bey ihm der Geldmangel noch nicht so groß war, sehr oft seinen Freunden gedient, indem er ihnen mit Vorschüssen aushalf, wenn sie deren bedurften und er sich dazu im Stande fand. Manche kleine Summe hatte er nicht wieder erstattet bekommen, aber auch darauf nicht gerechnet, sondern dergleichen geduldig in Ausgabe geschrieben, insofern er nur keinen bösen Willen, sondern Unvermögen sah. Wer nun ein bißchen das Leben auf Akademien kennt, wird leicht glauben, daß es nicht an Leuten fehlte, die von dieser bereitwilligen Dienstfertigkeit Gebrauch machten. Als aber nach und nach das bare Geld bey ihm äußerst selten wurde und er selbst oft gern borgen wollte, da fand sich freilich nicht Einer, der ihm erwidert hätte, was er so Manchem geleistet hatte. Indessen befremdete dies Seelbergen nicht. Er wunderte sich nicht darüber, daß nicht Jeder so dachte wie er, und da man den abschlägigen Antworten irgendeinen scheinbaren Vorwand hinzufügte, so dachte er: »Die Leute haben auch nichts. Ich muß suchen, auf andre Art Rath zu schaffen.« Am härtesten aber drückte ihn der Mangel zeitlicher Güter und eine abschlägige Antwort (Wir müssen das, zur Ehre seines Charakters oder – Temperaments, gleichviel! bekennen.), wenn Er in dem Fall, diese abschlägige Antwort geben zu müssen, und ganz von Gelde entblößt war, wie er es jetzt immer zu seyn pflegte. Indessen besaß er allerley kostbare Kleinigkeiten, einiges Silbergeräthe, goldene Uhren und dergleichen (Im Vorbeigehn zu sagen! Man thut besser, solche Sächelchen nicht mit auf Universitäten zu schicken). Kam nun ein sogenannter Freund, der seine Noth recht kläglich vorstellte, so pflegte er demselben eine Uhr oder einen Leuchter oder so etwas hinzugeben und zu sagen: »Geld habe ich nicht, mein Lieber! aber nimm dies hin und versetze es, bis Du mir's wieder einlösen kannst! Ich kann es solange entbehren.« Die gutherzigen Freunde schlugen das dann nicht aus; allein niemand wußte es sich besser zu Nutz zu machen als unsre beiden Livländer, die ihn auch zuletzt so rein ausgeschält hatten, daß sein ganzer Hausrath in einem leeren Koffer, einem paar schlechten Kleidungsstücken, wenig nothdürftiger Wäsche und einem alten Klaviere bestand; Uhren, Schnallen, Degen, alles war versetzt. Nicht zufrieden damit, hatte der Eine von ihnen Seelbergen bewogen, für eine Summe von zweihundert Thalern gutzusagen, welche er schuldig war, und darüber einen Wechsel auszustellen, der so bündig aufgesetzt wurde, daß kein göttingisches Kreditedikt noch eine restitutio in integrum oder dergleichen dagegen etwas ausrichten konnte. Es ist außer meinem Zwecke, von den Künsten und Lügen Rechenschaft zu geben, deren sich der Livländer bediente, um unsern Jüngling zu der Unterschrift zu bewegen, in welchen Arten von Verlegenheiten (auf denen Ehre und Freiheit beruhe) er zu stecken und welche Silberflotten (die er dann wieder mit seinen Freunden zu theilen versprach) er aus seinem Vaterlande zu erwarten vorgab – Wer unter uns hat nicht ähnliche Betrüger mit Schaden kennengelernt? – Übrigens wußte auch der Jude, der lieber einen der Majorennität nahen Cavalier, der in Sachsen Güter hatte, als einen vorgeblichen Edelmann aus Livland, dessen Güter vielleicht im Monde lagen, zum Schuldner haben wollte, die Sachen bey Ausstellung des Wechsels so süß zu machen, daß ein in Geldsachen äußerst unbedachtsamer junger Mensch, wie Seelberg es war, sich geschämt haben würde, Bedenken zu finden, pro forma, wie er meinte, seinen Namen mit zu unterschreiben.
Jetzt war die Zahlungszeit verstrichen, der Wechsel verfallen, und der Livländer bat Ludwigen, die letzte Güte zu haben, nach ***; wo der Jude wohnte, zu reiten und denselben zu ersuchen, den Wechsel nur noch auf vier Wochen zu verlängern, binnen welcher Zeit das Geld aus Livland gewiß ankommen müßte. Seelberg war sogleich bereit dazu und ritt hin, fand aber den Juden nicht, denn er war auf die Leipziger Messe gereist. Indessen war Seelberg auch im Begriff, seine Universitätsjahre zu beschließen. Er schrieb nämlich, als er die Quittung über sein vierteljähriges Geld an seinen Vormund schickte und Diesen bat, ihm die Summe bald zu senden, es möge ihm derselbe doch erlauben, sich veniam ætatis geben zu lassen und zu diesem Endzwecke nach Hause zu kommen, da er ohnehin seine akademischen Jahre beschließen zu können glaubte. Herr Gerlach hatte dagegen nichts einzuwenden, sondern war vielmehr froh, von der Sorge für einen so unruhigen Mündel befreiet zu werden. Als daher diese Antwort mit dem gewöhnlichen Wechsel ankam, ließ Seelberg seine Gläubiger zusammenrufen und erklärte ihnen: daß er nun in Kurzem im Stande seyn werde, sie gänzlich zu befriedigen, wenn sie ihn nur ruhig die Reise unternehmen ließen, die zum Zwecke hätte, seine ökonomischen Geschäfte in Ordnung zu bringen. Ludwig war bey allen seinen Ausschweifungen dennoch für einen Menschen bekannt, der gern Wort hielt; und also trauete man ihm, versprach, ihn ruhig reisen zu lassen, und bat nur, er möchte bald mit einem vollen Beutel wiederkommen.
Da er sich nun zur Reise anrüstete, kam der Livländer, von dem ich eben geredet habe, mit noch einem kleinen Anliegen. »Du bist nun bald auf dem Trockenen, Brüderchen!« sagte er, »und ich hoffe gleichfalls in Kurzem dahin zu kommen. Allein brauchst Du denn Deinen ganzen Wechsel jetzt gleich? Ich dächte nicht. Nicht wahr? Schulden bezahlst Du erst, wenn Du ganz abziehst, nach Deiner Zurückkunft? Kannst Du also auf die vier Wochen, da Du ausbleiben wirst, zehn Louisd'or entbehren, so thue mir den Gefallen und hilf mir damit aus! Wenn Du wiederkömmst, sollst Du dein Geld bereitliegen finden. Ich weiß nicht, was mein Alter macht; ich warte jeden Posttag ängstlich auf das Geld; indessen muß ich doch nothwendig übermorgen Miethe, Tisch und Wäscherin bezahlen.« Es bedurfte so vieler Worte nicht, um Seelbergen zu bewegen, seinen Beutel zu öffnen. Er theilte seinen Geldvorrath mit seinem vermeintlichen Freunde, reisete ab und kam, da ihn sein Weg über Leipzig führte, am Abend des dritten Tages daselbst an.