Adolph Freiherr Knigge
Die Verirrungen des Philosophen oder Geschichte Ludwigs von Seelberg
Adolph Freiherr Knigge

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Neuntes Kapitel

Die Veränderung in Seelbergs Lage war so schnell vorgegangen, daß er wirklich nicht Zeit gehabt hatte weder sich zu besinnen noch seinen neuen Führer gehörig in die Augen zu fassen. Jetzt reisete er mit demselben über das Eichsfeld nach Göttingen, und die schlimmen Wege, auf welchen das Fuhrwerk äußerst langsam ging, gaben ihm Muße und böse Laune genug, den Herrn Wasserhorn mit aller möglichen Aufmerksamkeit zu beobachten, seine Manieren, seine Gesichtsbildung und seine Mienen zu studieren und zugleich allem demjenigen nachzusinnen, was vorgegangen war. Was diesen letzten Punkt betraf, so wußte er nicht, zu was er sich entschließen und was für eine Art von Betragen er in seinen gegenwärtigen Umständen annehmen sollte. Um hierüber etwas festzusetzen, war es auch freilich nothwendig, daß er erst von Grund aus mit dem Charakter des Herrn Wasserhorn bekannt werden mußte. Er fing also jedes Wort auf, so aus seinem Munde ging, und lauerte auf jede kleine Bewegung, die er machte, nahm indes ein feierliches, ernsthaftes und trockenes Betragen gegen ihn an, und da, wie wir schon wissen, Ludwig ein nicht unfeiner Beobachter war, so hatte er in wenig Tagen seinen Mann inwendig und auswendig ziemlich kennengelernt. Zu dem nun, was er damals auf diese Art über Wasserhorns Charakter entdeckte und nachher durch längern Umgang näher entwickelte, will ich einige Berichtigungen hinzufügen und Ihnen ein Bild von diesem getreuen Hofmeister vorlegen.

 

Herr Wasserhorn war von niedriger Abkunft und hatte von Jugend auf, um das liebe Brot zu gewinnen, sich schmiegen und beugen müssen. Sein Temperament war sanguinisch-phlegmatisch; er hatte keine sehr heftige Leidenschaften, keinen großen Ehrgeiz, keine übertriebene Eitelkeit, und also ließ er sich alles von andern Menschen gefallen, insofern er nur ruhige Tage, Gemächlichkeit und gut zu essen und zu trinken hatte. Um diese irdischen Güter zu erlangen, hatte er früh gelernt, nach Personen und Umständen sich bequemen. Ohne also zu einem feinen, schlauen Manne sich gebildet zu haben, hatte er einen gewissen esprit de conduite erlangt, den mittelmäßige Genien oft in höherm Grade besitzen als Leute von glänzenden Geistesgaben, nämlich eine sorgsame Vorsichtigkeit im Umgange; die Gabe, es mit niemand zu verderben, jeden Mann von Ansprüchen glauben zu machen, er sey einer seiner wärmsten Verehrer und Anhänger; die Kunst, allen seinen Handlungen einen gewissen Anstrich von Bonhommie zu geben, also daß jeder ihn einen guten, dienstfertigen und behutsamen Mann nannte; endlich das Talent, durch abgelockte Vertraulichkeit und Einschleichen in Familiengeheimnisse sich nothwendig zu machen. Da alle diese Züge einen Menschen bezeichnen, der nach Zeit, Personen und Umständen andre Formen annimmt, so versteht sich's von selbst, daß Herr Wasserhorn nicht einen einzigen Zug von Selbständigkeit hatte, daß ihn Niederträchtigkeit, Schmeicheley und Heucheley wenig kosteten und daß er, um seinen Zweck zu erlangen, nicht sehr edel in der Wahl seiner Mittel war. Dabey schweifte er heimlich aus und liebte besonders das Frauenzimmer; doch wußte er das Ding so listig anzufangen, daß alle Ehemänner und Väter ihn für einen spaßhaften Mann sans consequence ansahen, denn er nahm sich immer in ihrer Gegenwart gegen Weiber und Töchter, die er Alle seine Schäfchen nannte, verschiedene kleine Freiheiten und bahnte sich dadurch den Weg, sich noch größere nehmen zu dürfen, wenn er mit den Schäfchen allein war. Gelernt hatte er übrigens grade so viel, als nöthig war, um von Leuten, die sich freueten, daß sie mehr wußten als er, ohne offenbare Lüge und Schande für einen Mann, der seine Sache gelernt hat, ausgegeben werden zu können.

Als er sich dem Herrn von Krallheim als Hofmeister bey dessen Mündel empfehlen ließ und nachher Weisung bekam, wie er sich in dieser Stelle betragen und welche sorgsame Aufsicht er über Seelberg führen sollte, da machte er sich gleich einen Plan, wie er das äußere Ansehn von strenger Amtsverwaltung mit des jungen Herrn Zufriedenheit und mit seiner eigenen Gemächlichkeit und Freude vereinigen wollte. Diesem gemäß stellte er sich schon auf der Reise äußerst muthwillig und lustig, scherzte mit allen Wirthshausmädchen, ließ guten Wein hergeben und hoffte durch diese jugendliche Aufführung Ludwigs Zutrauen zu gewinnen; allein er betrog sich; Seelberg war nie ein Freund von solchen lauten, ungezogenen Freuden gewesen; dazu hatte die Liebe seine Sitten sanfter und milder gemacht, und bey seiner verdrießlichen Laune wurden ihm diese Spaße noch unleidlicher. Herr Wasserhorn merkte das und stimmte desfalls in einen andern Ton. Er wollte den Empfindsamen spielen, sprach von schönen Fluren und von unschuldigem Genüsse des Lebens; aber das kleidete den alten Sünder so übel, daß Ludwig nur mit verächtlichen Mienen und einsilbigen Worten darauf antwortete. Als er sah, daß seine schönen Reden verlorengingen, glaubte er, er müsse sich deutlicher erklären, und fing daher folgendermaßen an: »Ich merke wohl, Herr von Seelberg! daß Sie mir nicht trauen und daß Sie mich nicht als Ihren Freund, Gefährten und Führer, sondern als einen Spion betrachten, der auf den kleinsten Ihrer Schritte lauern und Ihnen jede unschuldige Freude mißgönnen und verbittern wird. Allein da thun Sie mir himmelschreiendes Unrecht. Ich bin Ihrem Herrn Vormunde zu einem Hofmeister vorgeschlagen worden und habe die Stelle erhalten, ohne daß ich wußte, in welchen Verhältnissen Sie übrigens mit ihm standen. Als er mich nachher mit einer Instruktion versah, die mir nicht sehr gefiel, stellte ich mich doch mit Vorsatz, als wenn ich gänzlich seine Absichten billigte, indem ich mich freuete, daß ich dadurch Gelegenheit erhalten würde, Ihre Lage angenehmer zu machen; und das soll dann gewiß mein Bestreben seyn, wenn Sie Zutrauen zu mir haben wollen. Ich bin auch jung gewesen, habe auch geliebt und weiß, was es heißt, dem Herzen Gewalt anthun zu wollen. Und was den weitern Plan Ihres Lebens und Ihrer Studien betrifft, so seyen Sie überzeugt, daß ich dabey gewiß Ihre Neigung nicht einschränken werde. Nur begreifen Sie leicht, daß man doch, der Folgen wegen, gewisse ökonomische Rücksichten nehmen muß, an welche der gute junge Herr Krohnenberger nicht gedacht hat, und dann, daß man auch, um des Publikums willen und damit der gestrenge Herr von Krallheim keine üble Nachrichten von uns höre, im Äußern ungefähr sich nach seiner Vorschrift richten muß. Wir dürfen es nicht ganz mit ihm verderben, besonders ich nicht. Sie bleiben indessen nicht ewig in der Vormundschaft, und ich habe die Zuversicht, Sie werden, sollte ich auch, aus guter Meinung für Sie, Verdruß haben, mich demnächst, wenn Sie Ihr eigener Herr sind, entschädigen.« – So redete er und fügte noch manches hinzu, um wo möglich Ludwigs Zutrauen zu gewinnen. Dieser fühlte nun in der That eine unüberwindliche Abneigung gegen diesen Menschen, und sein Herz sagte ihm, daß er ein Heuchler wäre; dennoch aber ließ er sich durch den treuherzigen Ton, aus welchem derselbe redete, insofern einnehmen, daß er freundlicher wurde und ihm offenherzig bekannte, wieviel er durch seine Trennung von Julien litte, wie lebhaft er es fühlte, daß er ohne sie nicht leben könnte, und wie groß sein Widerwillen gegen die juristischen Studien wäre; Herr Wasserhorn tröstete, so gut er konnte, versprach, nach besten Kräften zu helfen, und so kamen sie in Göttingen an.

Hier versäumte Wasserhorn nicht, sobald er für sich und seinen Zögling eine Wohnung gefunden hatte, zu den Angesehensten und Berühmtesten unter den Herrn Professorn herumzulaufen und sich und seinen jungen Herrn ihrer Gewogenheit zu empfehlen. Es dauerte auch nicht acht Tage, so war er in einigen Familien als Hausfreund aufgenommen und der Grund zu seinem Rufe gelegt. Sodann wurden die Lehrstunden gewählt; man übernahm einige juristische Kollegia, besuchte dieselben fleißig und stellte sich, als sey es recht Ernst damit, gab sich zwar zu Hause nicht viel Mühe mit dem Repetieren, erlangte aber doch dadurch und durch des Herrn Wasserhorns Briefe an den Major, daß Dieser wieder gänzlich versöhnt, mit seinem Mündel zufrieden wurde und einmal über das andre ausrief: »Da sieht man, was ein rechtlicher Kerl aus so einem jungen Menschen machen kann! Ich sagte es immer, daß die Schuld an dem vorigen Hofmeister läge.« Der ehrliche Vormund schrieb deswegen die verbindlichsten Briefe an Beide, schickte einen kleinen Extrawechsel, der um Johannis zu einer Reise auf den Harz angewendet wurde, und Wasserhorn gab sich immer mehr Mühe, seinem jungen Herrn in allen Stücken sich gefällig zu beweisen.

Ein offnes junges Herz ist leicht zu hintergehn; Seelberg fing daher auch nach und nach an, sein Mißtrauen gegen Wasserhorn aufzugeben; allein fröhlich konnte er doch immer nicht seyn, und die Ungewißheit, wie es um Julien stünde, kostete ihn manche Thräne. Doch auch von dieser Seite suchte der Hofmeister sich in seine Gunst einzuschleichen; er redete oft von dem Fräulein und erbot sich, insofern nur die Sache verschwiegen bliebe, zu Fortsetzung ihres Briefwechsels, ja! zu einer persönlichen Zusammenkunft selbst behilflich zu seyn. Ludwig bekannte ihm darauf, daß er gleich nach seiner Ankunft in Göttingen heimlich geschrieben, aber gar keine Antwort bekommen habe. – »Ich weiß es«, erwiderte Wasserhorn. »Sie haben den Brief in eigner Person auf die Post gebracht, und weil ich auf Befehl Ihres Herrn Vormundes dort hatte bestellen müssen, daß man dergleichen Briefe alle in meine Hände zurückliefern sollte, so schickte der Postsekretair mir auch diesen wieder; allein ich ließ ihn nicht nur unerbrochen fortgehn, sondern, da ich vermuthen konnte, daß man auch von Seiten des Herrn von Grätz Anstalten zu Hemmung Ihres Briefwechsels würde gemacht haben und die Ankunft Ihres Schreibens zugleich ein Zeugnis gegen meine strenge Aufmerksamkeit gewesen seyn würde, so machte ich noch einen Umschlag mit der Aufschrift an einen sichern Freund in der Gegend von Leipzig darum, und von Diesem habe ich nun gestern nicht nur Ihren Brief (den Sie hier unverletzt sehen) zurückgesendet, sondern noch folgende Nachricht dabey erhalten:« – Er ließ ihn sodann lesen, was der gute Freund geschrieben hatte, nämlich: das Fräulein von Grätz sey seit sechs Wochen fort, und zwar als Hofdame nach *** geführt worden, ohne daß sie vorher im mindesten etwas von dieser Reise erfahren habe – »Sie sehen«, fuhr darauf Wasserhorn fort, »daß es des armen Fräuleins Schuld nicht ist, wenn sie Ihnen nicht geschrieben hat. Wer steht Ihnen dafür ein, daß sie nur einmal weiß, daß Sie nicht mehr in Leipzig sind? Kann ich Ihnen indessen behilflich seyn, in ***, wo ich auch, selbst am Hofe, einige Bekanntschaft habe, ein Mittel ausfindig zu machen, ihr Nachricht von Ihnen zu ertheilen, so setzen Sie mich auf die Probe, ob ich es redlich mit Ihnen meine oder nicht.«

Ich habe vorhin gesagt, daß Ludwig den Herrn Wasserhorn sehr bald für einen Schelm anerkannte. So sehr ihm nun damals sein Herz sagte, er irre nicht in diesem Urtheile über ihn, so stieg doch oft, und vorzüglich itzt, der menschenfreundliche Gedanke in ihm auf, es sey möglich, daß er dem Manne vielleicht Unrecht thäte. Kaum hatte daher der Hofmeister aufgehört zu reden, als Seelberg, in den ersten Aufwallungen von Freude über diese Äußerungen, ihm um den Hals fiel und sein freundschaftliches Erbieten dankbar annahm. Es wurde also an das Fräulein geschrieben, der Brief einem sichern Manne zu vorsichtiger Überreichung anvertrauet, und indes sie auf Antwort warten, will ich dem Leser Rechenschaft davon geben, was für Veränderungen mit Ludwigs Charakter und mit seiner Stimmung vorgingen.

Die Hoffnung, bald Nachricht von seiner Geliebten zu bekommen, und die Zufriedenheit darüber, daß seine Lage nicht so unangenehm war, als er bey seiner schleunigen Abreise von Leipzig vorausgefürchtet hatte, gaben ihm wieder Augenblicke von froher Laune. Indessen war er weit von Julien getrennt; ihr Bild wurde weder durch Localerinnerungen noch durch Briefe von ihr in seiner Seele so oft erneuert als ehemals, und so fing denn stufenweise seine Fantasie an, nicht mehr so ganz ausschließlich auf diesen einzigen Gegenstand geheftet zu seyn. Man sage, was man will, Zeit, Entfernung und Mangel an neuen Anregungen vermögen jeden guten und bösen Eindruck eines Gegenstandes, der auch noch so fest Wurzel gefaßt hat, nach und nach auszulöschen. Dem Herrn Wasserhorn war es sehr angenehm, daß sein junger Herr nicht mehr so ganz gewaltig in Liebe athmete und webte. Er nützte daher diese Zeit, um ihn zu seinen Endzwecken umzuformen und sich ihm nothwendig zu machen. Hierzu schien es ihm nützlich, seine Moral ein wenig zu humanisieren. Da aber eine tugendhafte Liebe ein kräftiges Bewahrungsmittel gegen schlechte Sittlichkeit zu seyn pflegt, so war es nicht unfein gehandelt, wenn man dem jungen Herrn, wo möglich, einen nachtheiligen Begriff vom weiblichen Geschlechte beizubringen suchte. Hierauf legte es also Herr Wasserhorn an; doch war es, wir gestehen es, nicht sowohl konsequent angelegter, weitaussehender Plan als natürlicher Hang, der ihn trieb, schlecht vom schönern Theile der Schöpfung zu reden, weil er schlecht davon dachte, auch nicht anders denken konnte, da die bessern Frauenzimmer nie viel Gemeinschaft mit ihm gehabt, diejenigen aber, deren Umgang er gesucht und genossen, ihm auch genug schwache Seiten gezeigt hatten. Als daher die Antwort von dem Fräulein ein wenig lange ausblieb und der junge Herr traurig darüber wurde, so wagte der Hofmeister so ein Wörtchen als: »Armer Herr von Seelberg! Ich bedaure Sie; Sie nehmen Sich die Sache zu sehr zu Herzen. Die Hofluft wird unser Fräulein angesteckt haben. Daß der Brief richtig übergeben worden, das wissen Sie – Es ist aber unsre Schuld nicht, wenn das Fräulein durch Zerstreuungen oder vielleicht durch neue Bekanntschaften abgehalten wird, sich ihres alten Freundes zu erinnern.« –

Anfangs wurde eine solche Lästerung gewöhnlich mit einer großen Ausrufung beantwortet, zum Beispiel: »O! wie wenig kennen Sie Julien!« und dergleichen – »Ey nun!« fügte dann Wasserhorn kaltblütig hinzu. »Verzeihen Sie, wenn ich, der ich in fünfundvierzig Jahren nicht Eine gefunden habe, die eine Ausnahme von der Leichtfertigkeit machte, die dem Geschlechte eigen ist, wenn ich das Stillschweigen des Fräuleins nicht mit den Augen des Liebhabers, sondern des kühlern Beobachters ansehe!«

Zu einer andern Zeit entwarf er ihm das häßlichste Gemälde von dem weiblichen Charakter überhaupt. »Glauben Sie es«, sprach er, »einem alten Kerl, der Erfahrung hat! Es ist kein unsicherers Ding in der Welt als ein Weiberherz. Nicht Eine ist tugendhaft aus wahrhaftem Gefühl von Pflicht und Rechtschaffenheit, und wenn Eine existiert, die ihr zwanzigstes Jahr erreichte, ohne sich je vergessen zu haben, so fehlte es ihr entweder an zwangloser, sichrer Gelegenheit zu sündigen oder an Temperament, oder ihre Eitelkeit fand ihr Konto besser auf der Seite der Tugend, oder sie fürchtete die Folgen, kalkulierte besser als ihre Schwestern, oder der Augenblick der Versuchung war noch nicht gekommen. In allen übrigen Fällen aber ist auch nicht Eine, die widerstünde, wenn ein schlauer Mann es recht darauf anlegt – Und wahrlich braucht man es selten fein anzufangen. Die am sittsamsten aussehen, am mehrsten Sentiments auskramen und am strengsten gegen Andre sind, geben sich am ersten solchen Männern preis, wovon sie zuverlässig wissen, daß sie äußerst ausschweifend sind, und nie habe ich gefunden, daß reine, unverderbte Sitten an einem Manne ein Mittel wären, Weibern zu gefallen. Je strenger die Frau im Publiko redet und sich beträgt, um desto kühnere Angriffe darf man unter vier Augen auf sie wagen. Sie sieht dann, daß man ihre Sprache versteht, daß sie es mit einem Kenner zu thun hat, der sich durch keine Maske, durch keine Ziererey blenden läßt, und gibt sich voll Zuversicht auf die konventionelle Verschwiegenheit hin. Wenn eine schwache Frau sich einem liebenswürdigen Manne zuweilen bey dem ersten Angriffe nicht ergibt, so geschieht das nicht deswegen, weil in ihr Grundsätze gegen Gefühle kämpften, sondern aus Berechnung ihres Vortheils & pour faire durer le plaisir. Wo das nicht der Fall ist, da verwilligt sie, sobald es nur irgend anständiger Weise geschehen kann, weil Intrige unter Leuten, die ihres Handels einig sind, sich leichter vor dem Publiko verbergen läßt als ein ordentlich instruierter Liebesprozeß, ein empfindsamer Roman. In der heutigen Welt verführt aber der Mann fast nie, sondern wird fast immer verführt oder angelockt. Es gibt nur eine kurze Periode von wenig Jahren (und Manche überspringen dieselbe ganz), binnen welcher es den Weibern mit der Sittsamkeit ein bißchen Ernst ist, und das ist die Zeit, wenn sie unglücklicher Weise zu alt zu Liebhaberinnen und zu jung zu Kupplerinnen und Betschwestern sind, und in dieser Periode beschäftigen sie sich mit andern christlichen Übungen als: Lästern, Schimpfen, Moralisieren, Ausspähen, Kontrollieren der Handlungen Anderer und Störung fremder Freuden. Allein, um wenig Zeit zu verlieren, fangen sie früh an, sich zu ihrer Bestimmung zu bilden. Die Haare würden Ihnen zu Berge stehn, wenn Sie lauschen und hören sollten, welche Gespräche, welche muthwillige Scherze, welche Vertraulichkeiten wohlerzogene Mädchen sich untereinander erlauben, wenn sie allein zu seyn glauben; Scherze, Dinge, wobey der Jüngling, wenn er hinter der Thür Zeuge dabey ist, vor sich selbst erröthen muß. Einer der gemeinsten weiblichen Kunstgriffe ist, wenig Naturtrieb zu affektieren, und das wollüstigste Weib wird ihren Mann in diesem Punkte so sehr täuschen, daß er seinem vertraueten Freunde klagen wird, seine Frau habe so wenig Temperament, und während dies ihn sicher macht, lacht sie Seiner in den Armen ihres Kutschers, und er vergißt, daß es in der Welt kein anderes Mittel gegen die Hahnreischaft gibt als stille, unmerkliche Wachsamkeit, mögliche Entfernung der Gelegenheit und die Kunst, sich selbst rar zu machen, zuweilen Eifersucht zu erregen und dadurch des Weibes Eitelkeit aufzufordern. Das sicherste Mittel hingegen, bald Hahnrei zu werden, ist, Eifersucht zu zeigen. Es ist kein schwächeres, blödsinnigeres Geschöpf zu finden als ein Mann, der de bonne foi liebt, und kein Ding so abgeschmackt, das ein schlaues Weib einen Solchen nicht glauben machen könnte. Es gibt keinen Haushalt, in welchem nicht der Mann von dem Weibe auf irgendeine Art im Großen oder Kleinen betrogen würde, und die Mittel, welche die Frauenzimmer zu wählen wissen, um dabey trotz aller Hindernisse, Verbote, verdrießlichen Scenen und zu erwartenden Verdrusses ihren Zweck zu erreichen, sind unzählbar. Jede Frau ist bereit, ihres Mannes und ihrer Familie Glückseligkeit einer thörichten Fantasie, einer närrischen Eitelkeit aufzuopfern. Die Verstellungskunst wird ihnen angeboren. Der Mann erröthet aus Bewußtseyn seiner Schwäche, das Weib wird nur roth aus gekränkter Eitelkeit, aus Wollust oder aus Zorn – und sonst nie. Und wenn der klügste Mann (klug wie Salomo, der gewiß die Weiber kannte) zu Gott und dem Evangelio geschworen hätte, sich weder zum Zorn noch zu einer Schwäche verleiten zu lassen, so kann ein Weib ihn dahin bringen, seinen Eid zu brechen. Vom neunten Jahre ihres Lebens an lauern die Mädchen hinter den Büschen am Wege des Lebens, lauern den unbefangenen Wanderern auf, und ehe sie vierzehn Jahre alt sind, wissen sie mehr Spitzbubenstreiche, wissen besser die Schwächen auszuspähen und sich durch das am wenigsten vertheidigte Thor in das Herz einzuschleichen als ein ausgelernter männlicher Verführer im fünfundzwanzigsten Jahre.«

Es versteht sich, daß Herr Wasserhorn dies teufelische System (dessen Widerlegung der bessere Theil des Geschlechts mir erlauben wird, auf eine andre Zeit zu versparen oder vielmehr unserm Ludwig selbst in der Folge bey glücklichern Erfahrungen zu überlassen), es versteht sich, daß er dies System nicht auf einmal in seiner ganzen Rauhigkeit, sondern nur stufenweise vortrug, um nicht plötzlich Ludwigs besseres Gefühl zu empören. Wie wollte es auch möglich gewesen seyn, dasselbe einem Jünglinge annehmlich zu machen, der immer das herrlichste Ideal, das Bild seiner vortrefflichen Mutter im Kopfe, dabey die höchste Meinung vom weiblichen Charakter gefaßt und seine Liebe zu Julien im Herzen hatte! Allein unmerklich gewöhnt man sich, auch die empörendsten Sätze wenigstens kaltblütig anhören zu können, und dann ist schon viel gewonnen für den, welcher uns diese Sätze aufdringen will. Einige Menschenkenntnis schien denn auch immer aus Wasserhorns Deklamation hervorzuleuchten; das war Ludwigs Steckenpferd; und so gelung es dann dem Lehrer nach und nach, Seelbergen wenigstens aufmerksam und ihn glauben zu machen, der schlechtere, vielleicht gar der größere Theil der Frauenzimmer könne diesem Bilde in einigen Zügen gleichen, besonders in den Städten, und seine Mutter und Julie seyen wohl nur Ausnahmen – Und dann kamen gewöhnlich kleine Erzählungen von alten Erfahrungen, auch hie und da ein Brocken aus einem großen Schriftsteller, der irgend etwas Witziges über die Unbeständigkeit der Weiber gesagt hatte; der neue Amadis erschien in dieser Zeit, mit dem Motto: In muliebrem levitatem ab auctoribus passim multa scribuntur; der Hofmeister las die angenehmsten, schönsten Stellen daraus vor und empfohl dies Werk Seelbergen, der demselben dann auch seinen Beifall nicht versagen konnte. Von Zeit zu Zeit fügte es sich auch wohl, daß ein Buch, in welchem unkeusche Scenen mit lebhaften Farben geschildert waren, oder ein solches, in welchem mit den Grundsätzen der Moral leichtsinnig gespielt wurde, als wie von ungefähr, aber durch Zulassung des Herrn Wasserhorn, in Ludwigs Hände kam oder daß Dieser, bey der geringen Sorgsamkeit des Hofmeisters in solchen Punkten, in Göttingen in Vertraulichkeit mit jungen Leuten gerieth, die mit ihren Ausschweifungen prahlten, sich Gunstbezeugungen von Frauenzimmern rühmten oder sonst schamlos und unbescheiden redeten, ausschweifend lebten und doch dabey liebenswürdige, glänzende Eigenschaften hatten, angenehme Gesellschafter waren und ihren Verirrungen ein Gewand von interessantem Leichtsinne geben konnten. Welchen Eindruck dann dies alles endlich auf die Moralität unsers jungen Menschen machte, das brauche ich wohl nicht zu entwickeln, doch war er noch nicht in der That abgewichen vom Wege der Tugend, aber er fing an nachlässig, sorglos und unvorsichtig auf diesem Wege fortzuschlendern, auf welchem er so wenig Gefährten zu haben glaubte. Er sah so Viele, und unter Diesen so viel allgemein geachtete und geliebte Menschen, einen andern, dem Anscheine nach blumigern, reizendern Weg lustwandeln, da hingegen auf seinem einsamem Pfade kein Freund ihm zur Seite ging, der ihm die Hand geboten und seinen Enthusiasmus, das Ziel zu erreichen, und sollte auch nur er allein es erreichen, angefeuert hätte. Wenn er sich also jetzt noch nicht zu unwürdigen Handlungen erniedrigte, so kam das daher, weil der sanftere Genius der Liebe noch über ihm schwebte, weil Scham und Schüchternheit, die so manchen edeln Jüngling vom ersten Schritte zum Laster abhalten, gegen böse Anreizungen rangen und weil die verführerische Gelegenheit ihm noch nicht so nahe sich gezeigt hatte, daß sein Temperament über die Habitüde, gut zu handeln, gesiegt hätte; denn von seinen Grundsätzen wollen wir gar nicht reden; die wankten; der Glaube an Tugend und Treue unter den Menschen auf dieser Erde wurde immer schwächer, und dies um so mehr, da endlich, nach langem Warten, die längst gewünschte Antwort von dem Fräulein von Grätz ankam. Sie lautete also:

 
»Mein lieber Herr von Seelberg!

Ihr werther Brief hat mich auf eine angenehme Art überrascht. Ich würde mir längst das Vergnügen gemacht haben, darauf zu antworten, wenn nicht eine Menge Zerstreuungen mich davon abgehalten hätten. Seit vierzehn Tagen ist der Herzog von *** hier, und da gibt es täglich Bälle, Jagden, Dejeuners, Komödien und dergleichen. Vorgestern hatten wir einen bal en masque hier im Schlosse; gestern gab der Obermarschall eine prächtige fête, und heute haben wir bey der Geheimenräthin von *** ein allerliebstes déjeuner dansant gehabt, das bis zwey Uhr Nachmittag gedauert hat. Man kömmt gar nicht zu sich selbst; aber ich habe doch diesen Augenblick gefunden, um Ihnen, mein lieber Freund! zu sagen, wie sehr ich wünschte, daß Sie auch hier wären, weil Sie Sich gewiß gut amüsieren würden. Es sind hier einige sehr liebenswürdige junge Herrn, die mit dem Herzoge gekommen sind und deren Umgang Ihnen gewiß Vergnügen machen würde. Sie fragen, ob ich mich noch Ihrer erinnere? O! wie können Sie daran zweifeln? Glauben Sie, daß ich meine guten Freunde so bald vergesse? Nein! gewiß nicht! Verzeihen Sie nur, wenn ich, aus Mangel an Zeit, Ihnen nicht oft schreibe; aber mich verlangt recht sehr danach, Sie einmal wiederzusehn. Sie werden ja nun wohl bald die Universität verlassen und irgendwo in Dienste gehn. Ich wollte, Sie könnten dann hier ankommen. Wer weiß, ob sich das Ding nicht einrichten ließe. Machen Sie doch einmal in den Vacances eine Reise hierher, damit ich wieder persönlich Ihnen sagen könne, mit welcher aufrichtigen Freundschaft« u.s.w.

 

Ich würde es vergebens versuchen, den Abstand von der Freude über den Empfang dieses Briefes gegen das Staunen, die Verwunderung und den Verdruß zu schildern, welche Ludwig zeigte, sobald er denselben gelesen hatte – »In dem kalten, Freundschaft lügenden, leichtfertigen Residenzentone konnte Julie – mir schreiben? Mich mit den lumpigen Nachrichten von ihren thörichten Lustbarkeiten unterhalten? Mich hinwünschen, damit ich mich amüsieren und die sehr liebenswürdigen jungen Herrn (Hole sie Alle der Geier!) kennenlernen möchte? – So konnte ein Aufenthalt von wenig Monaten am Hofe das reinste, beste Herz umstimmen, verderben? – O Weiber! seyd Ihr denn Alle so, wie man Euch schildert? – Nein! es ist nicht möglich! Ich habe den Brief unrecht gelesen – Und doch« – Nun las er ihn nochmals und wieder, brach dann in neue Monologe aus und lief endlich zu seinem Hofmeister, bekam aber keinen andern Trost von demselben als: »Sagte ich es nicht? Weiber sind Weiber! Allein wer wird sich darüber ein graues Haar wachsen lassen? Das wäre mir recht, daß ich mich deswegen härmen sollte? Gibt es nicht Mädchen genug? Rächen Sie Sich! Geben Sie ihr den Abschied, ehe Sie förmlich den Ihrigen erhalten! Rächen Sie Sich an dem ganzen Geschlechte! Lassen Sie Sich von Keiner wieder fesseln! Scherzen Sie mit Jeder, die Ihnen gefällt, ohne je Sich fangen zu lassen; und wenn Sie merken, daß man Ihnen die Schlinge über den Kopf ziehen will, so gehen Sie weiter!«

Seelbergs feineres, noch nicht ersticktes Gefühl empörte sich bey diesen und ähnlichen Lehren, aber sie faßten doch unmerklich Wurzel, bis endlich ein Mittelweg gefunden wurde – »Wie wäre es«, sprach Wasserhorn, »wenn wir uns mit eigenen Augen überzeugten? Die Michaelisferien sind vor der Thür; wir haben Geld und Erlaubnis zu einer Reise. Lassen Sie uns nach *** fahren! In ein paar Tagen sind wir dort. Wir lassen uns bey Hofe vorstellen und sehen Julien in ihrer neuen Lebensart, und wir mögen sie nun finden, wie wir wollen, so kehren wir doch gewiß mit leichterem Herzen zurück, als wir ausgereiset waren.« – Dieser Vorschlag wurde, wie sich's versteht, mit vollen Freuden angenommen, und unsre beiden Herrn reiseten ab.


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