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Ludwigs Vater war ein begüterter Cavalier in Sachsen, ein Mann, der fast alle Fehler einer vornehmen und reichen Erziehung mit sich herumtrug. Verzärtelt an Seele und Leibe; gewöhnt, seinen Leidenschaften keine andren Grenzen zu setzen als höchstens die der Nothwendigkeit, und auch diese mit Murren und großem Kampfe; eingenommen von seinen in der That nicht geringen Fähigkeiten; durch Schmeicheley zu allem zu bewegen und zu stimmen, sowohl im Handeln als im Urtheilen; durch den geringsten Widerstand oder Widerspruch aber und durch den kleinsten Mangel an Huldigung und Aufmerksamkeit auch gegen die edelsten Menschen und gegen die beste Sache einzunehmen, und so lange unversöhnlicher Feind, bis der Gegner die Waffen streckte, und dann der partheiische Beschützer des Überwundenen; arbeitsam, kühn, unternehmend und fest im höchsten Grade, mit Überwindung aller Schwierigkeiten, wo hellklingender Ruhm einzuernten war; faul, augenblicklich abzuschrecken, kleinmüthig und furchtsam in Geschäften, die nichts einbrachten als die stille Beruhigung, Gutes gethan zu haben, und wobey er sich hätte compromittieren können; gefühlvoll und menschenliebend, theils in den Aufwallungen seines warmen Bluts, theils in Augenblicken, wo eine befriedigte Lieblingsleidenschaft die Ehre vom Hause machte, und dann herzlich zufrieden mit Gottes schöner Welt; theilnehmend, leicht zu rühren, aus Reizbarkeit schwacher, kränklicher Nerven; immer zu Hilfe eilend, wo die Sache sich mit Gelde ausmachen ließ; weniger bereitwillig, wo ein herzerschütternder Anblick zu erwarten war; zurückbebend vor allem, was widrige Eindrücke auf seine feinen Organe machte; bey Unglücksfällen, die er sich selbst zugezogen, immer sein böses Gestirn, die Vorsehung und andre Menschen anklagend; bey kleinen Schmerzen und Widerwärtigkeiten sogleich aus aller Fassung gebracht; bey größern hingegen mit einem fantastischen Heroismus bewaffnet, den Eitelkeit und Stolz ihm als ein feuriges Schwert in die Hand gaben, und das augenblicklich der Faust entschwand, sobald der Rausch, die Überspannung vorüber war, der Arm ohnmächtig hinsank oder ein unvorhergesehener Feind ihm grade auf den Leib ging; verständig, hellsehend, tiefeindringend, sobald Leidenschaft nicht die Augen blendete; witzig, zum Spotte und bey gereizter Eitelkeit, nie aus wahrem, echtem Humor; mißtrauisch aus Bewußtseyn eigener Schwäche, also nicht eigentlich gemacht, das Glück der Liebe und Freundschaft zu theilen, aber in beiden blindlings und unvorsichtig sich hingebend dem, der ihm schmeichelte, nicht, daß er recht fest geglaubt hätte, man meine es redlich, aber weil er sich gern täuschte, um einen Augenblick von Genuß zu haben, über welchen er sicher zu erwartende Jahre voll Nachwehe vergaß; verschwenderisch aus Mangel an kalter Überlegung und Überrechnung und dann, durch Verschwendung gezwungen, geizig, wo der Sparsame mit vollen Händen geben kann; unaufhörlich von Launen regiert, wovon die, welche um ihn lebten, alle Ebben und Fluthen aushalten mußten; wollüstig und gierig, um im immerwährenden Genusse sein Ohr gegen die Stimme der anklagenden Vernunft zu übertäuben, fand er doch bald alle Freuden, besonders die einfachem, langweilig, ermüdend, schnappte unaufhörlich nach Abwechselung, hatte täglich neue Liebhabereien und darbte, wo Andre schwelgen – Und dann in den wenigen, kurzen, nüchternen, seligem Augenblicken, wo sein besserer Genius ihn fest in seine Arme schloß, voll Reue, sein Unrecht einsehend, beweinend, voll Scham, Verleugnung und Demuth, werth ganz und immer zu seyn, wozu ihn Gott und die Natur aufgerufen hatten – So war Ludwigs von Seelberg Vater, und hast Du, lieber Leser! viel vornehm und reich erzogene Menschen genauer kennengelernt, so wirst Du wohl die mehrsten unter ihnen diesem Bilde mehr oder weniger ähnlich gefunden haben.
Ludwigs Mutter war die Tochter des Obristen von Treubaum, eines biedern, redlichen und verständigen alten Officiers, der, nachdem er sein Vermögen, seine besten Jahre und seine Gesundheit im Dienst eines großen Königs zugesetzt hatte, endlich, da er sich nach Ruhe sehnte, in dem Schoße seiner Familie das Ende seiner mühseligen Laufbahn erwarten wollte. Er forderte desfalls seinen Abschied und nahm die Liebe und Achtung der Armee und ein gutes, reines Gewissen mit sich in seine Hütte, in welcher er mit seiner Frau und mit Wilhelminen, seiner einzigen Tochter, von der kleinen Pension lebte, die sein Fürst ihm reichen ließ. Dahin nun kam Seelberg auf einer seiner Reisen, im vollen Schimmer des Reichthums, kramte als ein feiner Weltmann allerley angenehme Talente und edle Grundsätze aus, verliebte sich, wie Leute von seinem Charakter sich verlieben können, in Wilhelminen und hielt, voll des vornehmen Gedankens, ein armes Mädchen durch seine Hand glücklich zu machen, bey dem alten Treubaum um dieselbe an. Der gute Obrist war bald geneigt, ihm Gehör zu geben; es schien eine gute Versorgung für Wilhelminen; gegen den Herrn von Seelberg ließ sich eben nichts einwenden. Er war noch jung, noch nicht so ausgebildet, wie ich ihn vorhin geschildert habe, und wenn auch schon damals mein Gemälde ihm glich, so gefiel doch dies Gemälde noch und schimmerte durch die Lebhaftigkeit des Colorits. Seine glänzenden Seiten blendeten hervor; kleine sichtbare Fehler wurden durch die Jugend entschuldigt. Es hieß: »Der Jüngling ist ein wenig von sich eingenommen, aber doch ein guter, wohlthätiger Mensch; er hat ein mitleidiges Herz, und es fehlt ihm gewiß nicht an Verstande. Er hat ein bißchen ein loses Maul; aber das wird sich legen« – Kurz! jedermann würde es den Eltern verdacht haben, die ihm ihre Tochter versagt hätten. Der alte Treubaum durfte, arm wie er war, nicht ohne Bekümmernis an seinen vielleicht nicht weit mehr entfernten Abschied aus dieser Welt denken. Sein Kind war der einzige Gegenstand seiner Sorgfalt. Wilhelmine, häuslich, verständig und nicht romanhaft erzogen, fühlte eine ruhige, herzliche, liebevolle Zuneigung zu guten und weisen Menschen, ohne die Heftigkeit einer tyrannischen Leidenschaft und den Drang einer fantastischen, empfindelnden Freundschaft zu kennen. Sie glaubte, das Band der Ehe sey um desto fester und dauerhafter, je mehr es sich auf gegenseitige Hochachtung gründe, da hingegen der Rausch der blinden Liebe bald verschwinde und dann Reue und Überdruß folgten. Da sie nun an dem Herrn von Seelberg durch einen fortgesetzten Umgang so manche gute Eigenschaft wahrnahm und ihre Eltern es wünschten, daß sie seine Gattin werden möchte, so entschloß sie sich willig dazu.
Wilhelmine war ein sanftes, edles Geschöpf; ihr schöner Körper trug das Gepräge einer noch schönern, engelreinen Seele. Ihr Kopf war hell und heiter; mit gradem, ruhigem Blicke schauete sie durch Vorurtheile und Schwierigkeiten hindurch, und dieser Blick schwand nicht wie das blendende Feuer eines Wetterstrahls, sondern verweilte wohlthätig und drang mit Wärme ein in den Gegenstand, worauf er geheftet war wie das Sonnenlicht. Ihre Leidenschaften, in dem glücklichsten Gleichgewichte gegeneinander, zerstörten nie die Harmonie zwischen Vernunft und Gefühl. Strenge ihren Pflichten treu und voll Theilnehmung und Menschenliebe lief weder ihr gefühlvolles Herz mit dem Kopfe davon, noch ließ sich dies warme Herz durch kaltes Raisonnement überklügeln. Die fröhlichste, reizendste, immer gleiche Laune, die selbst da nicht von ihr wich, als sie anfing kränklich zu werden; das selige Bewußtseyn der Unschuld und Reinigkeit, die jeden ihrer Schritte leiteten, und die kindlichste Zuversicht zu dem liebreichen Vater und Beschützer guter Menschen gaben ihr unüberwindliche Geduld, Heiterkeit und Kraft zum Kampfe in allen Kümmernissen und Widerwärtigkeiten. Sie war das treueste, sorgsamste Weib, unerschöpflich in Gefälligkeiten für ihren Mann, und seine unterhaltendste Gesellschafterin. Sie verscheuchte seine bösen Launen durch die naivesten Einfälle, ließ ihn nie die Leiden zurückempfinden, die er ihr verursachte, und machte ihm selbst dann keine Vorwürfe (wenigstens die sanftesten und nie solche, die einen andern Gegenstand als seinen eigenen Seelenfrieden zur Absicht haben konnten), wenn er in Augenblicken von Bewunderung ihrer hohen Tugenden sich reuevoll in ihre Arme warf. Dabey war sie die zärtlichste, weiseste Mutter, die ordentlichste, pünktlichste Haushälterin, eine sichre Zuflucht der Armen, Trösterin der Leidenden und Rathgeberin Derer, die sich ihr vertraueten. In ihrem Anstande herrschte hohe Würde ohne gezwungene Feierlichkeit, Milde ohne Gemeinmachung, in ihrem Betragen Vorsichtigkeit ohne Zwang noch Übertreibung. Ihr Anzug war äußerst einfach, reinlich und geschmackvoll. Sie war nicht ohne Kenntnisse, aber gar nicht gelehrt, nüchtern und bescheiden in ihren Urtheilen und so lange, bis vieljähriger Gram ihr Innerstes zernagt hatte, an Leib und Seele kerngesund.
In den ersten Jahren ihrer Ehe, in welchen unser Ludwig geboren wurde, der auch die einzige Frucht dieser Verbindung blieb, lebte Wilhelmine mit ihrem Manne ziemlich glücklich. Er hatte wirklich viel Zärtlichkeit für sie, und wer hätte auch den Eindrücken widerstehn können, die ihr liebenswürdiger und sanfter Geist verbunden mit ihren äußern Vorzügen auf jeden Menschen machen mußte? Nach und nach, als sich sein Charakter in männlichen Jahren nicht zu seinem Vortheile ausbildete, Eitelkeit und verstimmte Laune ihn blind gegen die Vollkommenheiten Andrer machten und das Feuer seiner Liebe verraucht war, da fing er freilich an, mancherley Fehler an seiner Frau zu entdecken, doch begegnete er ihr nicht eigentlich unartig, denn er glaubte sich selbst zu ehren, wenn er seine Gattin ehrte. Endlich aber, sobald seine Art, sich zu betragen, ihm eine Menge von Widerwärtigkeiten und Demüthigungen auf den Hals zog, da verursachte seine Aufführung dem guten Weibe nicht nur vielfachen Kummer, sondern sie erhielt auch selten ein freundliches, liebreiches Wort von ihm, ungeachtet sie alles anwendete, ihn aufzuheitern und ihm gefällig zu seyn.
Seelbergs Reichthum und Fähigkeiten hatten ihm früh Aufmerksamkeit, Achtung und politische Vortheile in seinem Vaterlande erworben. Es wurde ihm eine Bedienung anvertrauet, die sonst nur Männern von reifern Jahren zu Theil wird; allein er war nicht gemacht, dergleichen gute Aussichten zu nützen; der junge Herr war zu verwöhnt, um sich irgendeiner Art von Zwange, Convenienz und Subordination zu unterwerfen. Er fand an seinen Vorgesetzten so wie an dem einmal eingeführten Gange der Geschäfte unendlich viel auszusetzen, wollte reformieren, und wenn nicht alles, was der Jüngling vorbrachte, Eingang fand; wenn man nicht voll Bewunderung verstummte, sobald sein hohes Genie sich auf den Dreifuß setzte; wenn die alten Herrn mit ihren Knotenperücken phlegmatisch bey ihrer Weise blieben und sich Zeit nahmen, die Nützlichkeit der vorgeschlagenen Neuerungen mit kaltem Blute zu überlegen; dann rüstete sich Seelbergs beleidigte Eigenliebe mit bitterm Spotte; er schonte seiner Obern und seiner Wohlthäter nicht, sondern rügte die kleinsten Fehler und Lächerlichkeiten, die ihn gar nichts angingen, auf die unbarmherzigste Art. Keine dieser Spötteleien ging verloren; schwächere Köpfe, neidisch auf seine größern Talente, sammleten jedes Wort von der Art auf, hinterbrachten es den Vorgesetzten, über welche sich Seelberg lustig gemacht hatte, und die Folge davon war, daß er zurückgesetzt wurde und daß man Männer, die bey Weitem seine Geschicklichkeit nicht hatten, aber ruhigere Bürger waren, ihm vorzog. Seelberg wurde hierdurch auf das Äußerste gebracht und nahm seinen Abschied. Um aber zu zeigen, daß er des elenden Zuschusses eines Gehalts aus fürstlicher Gnade nicht bedürfe, begann er einen größern Aufwand zu machen als selbst die Ersten im Staate. Hochmuth, Mangel an bestimmten Geschäften und unruhige Gemüthsart trieben ihn an, allen Gattungen von Zerstreuungen und rauschenden Vergnügungen nachzurennen; Pracht und Üppigkeit herrschten in seinem Hause, und endlich artete dies alles in Schwelgerey und Verschwendung aus. Er kam merklich zurück in seinen ökonomischen Umständen, allein der Gedanke daran wurde durch neue Feste, Reisen, Gastereien und Ausschweifungen verscheucht. Statt sich einzuschränken, wie es ihm seine gute Gattin rieth, verkaufte er nach und nach die kleinern, unbeträchtlichem Güter, die nicht Lehn waren, um die größern von den selbstgemachten Schulden zu befreien, suchte alte Forderungen hervor und wärmte verjährte Processe auf, die, nach angewendeten großen Kosten, verlorengingen. Ein verheerender Krieg, in welchem seine Güter ein paarmal von Feinden und Freunden geplündert wurden, vollendete den Umsturz seines Wohlstandes. Nun, da er sich nicht länger mehr den ganzen Umfang seiner häuslichen Zerrüttung verbergen konnte, war es freilich zu spät, zweckmäßige Vorkehrungen zu machen, aber immer noch früh genug, Gott, Schicksal und Menschen anzuklagen und zu lästern und Diejenigen zu quälen, welche mit ihm leben mußten. Wer das nicht mußte, der blieb itzt weg, und die Gefährten seiner Ausschweifungen, die Mitesser, die, ohne ihn persönlich zu ehren oder zu lieben, täglich um ihn versammlet gewesen waren, solange es in Seelbergs Hause groß und fröhlich hergegangen, betraten nun seine Schwelle nicht mehr.
Unsers Ludwigs Geburt fiel, wie schon gesagt ist, in die erste, folglich in die glänzendste Periode seiner Eltern, und er war erst drey Jahre alt, als der Vater seinen Abschied nahm. Da dieser nun täglich in Zerstreuungen lebte und er die Erziehung eines so unmündigen Kindes Seiner nicht werth hielt, die gute Wilhelmine aber so gern, fern vom Geräusche der Welt, ihre häuslichen Pflichten treu in der Stille erfüllte, so verwendete diese auch ihre Kräfte auf die Bildung ihres einzigen Sohns. Sie machte sein junges Herz empfänglich für die unzähligen, wonnereichen Schönheiten, die der liebreichste Schöpfer um uns her auf dieser Erde verbreitet hat, erfüllte es mit Wohlwollen gegen alle Creatur, suchte jede hervorsprossende böse Neigung und Begierde in ihrem Keime zu ersticken, gefährliche Beispiele zu entfernen, Milde, Duldung und Nachgiebigkeit einzuflößen und das rasche Feuer des Knaben zu dämpfen, ihn zu lehren, sich unschuldsvoll des Lebens zu freuen, niemand vorsätzlich zu kränken, mäßig, nicht gierig, bescheiden, aber immer grade und wahrhaft zu seyn in Allem, sich keine Launen zu gestatten, und, damit nie in ihm dergleichen erzeugt würden, so litt sie nicht, daß Andre ihn necken durften, sondern suchte ihn immer bey frohem Muthe zu erhalten, fest überzeugt, daß ein heiteres, offnes, fröhliches Herz keiner Tücke fähig ist und daß man die Jahre der zwang- und sorglosen, unbefangenen Freude bey den mehrsten Menschen nur zu sehr verkürzt. Dabey führte sie den Knaben an, sein kleines unschuldiges Herz dankbar zu dem allmächtigen göttlichen Wohlthäter zu erheben; nicht, daß sie ihn hätte auswendiggelernte Gebete herplappern lassen, aber, wenn das Kind so neben ihr auf einem kleinen Grashügel im Garten saß, rund umher in den Büschen die Vögel ihr Liedchen anstimmten, indes andre vor ihnen herumhüpften, und dann, wo sich die Aussicht nach dem benachbarten Dorfe hin öffnete, auf bunten Wiesen das muntre Vieh am Bächlein herabsprang, oder, wenn es begann Abend zu werden und der freundliche Mond sein sanftes Licht über die Fluren hingoß, oder wenn der majestätische Donner den Kampf der Elemente am hohen Himmel verkündigte, dann redete die gute Mutter mit Wärme, doch so, daß es der Knabe fassen konnte, von jenem großen Wesen, durch welches alles ist, wie es ist, das alles belebt, schafft, wirkt, erhält, zu dem sich unser Herz hinsehnt in glücklichen Augenblicken, wie das Kind nach den Armen der Mutter, und wie dies Hinsehnen und ein dankbares Gefühl ihm das angenehmste Gebet ist, ihm, der, uns aller Orten gegenwärtig, alles mit seiner Liebe umfaßt, mit dem wir zwar nicht reden können wie mit Menschen, der aber sogar unsre Gedanken hört, sieht, fühlt und ein Wohlgefallen hat an denen, die ihn lieben und auf seine Güte und Hilfe bauen.
Wenn aber ein ernster Blick voraus in die Zukunft, in die traurige Zukunft, welche Seelbergs Aufführung seiner Familie zubereitete, trübe Wolken vor ihre Augen zog, dann lehrte sie ihn, daß man nicht auf die Reichthümer dieser Welt bauen solle, daß es dauerhaftere Güter gäbe, die keinem Unfalle unterworfen wären: »Du siehest wohl, mein Kind!« sagte sie dann, »daß es in unserm Hause lustig und gut hergeht, daß wir keinen Mangel leiden, daß wir auch andre Menschen speisen, tränken und kleiden können von unserm Überflusse. Aber wie wäre es nun, wenn wir auf einmal arm würden, wie es doch immer möglich seyn könnte? Wenn wir durch Unglücksfälle Haus und Hof und Geld und Kleider und alles verlören? Wer würde uns dann zu essen geben? Wer uns kleiden? Wer in sein Haus aufnehmen?« Der Knabe antwortete: »Ey, liebe Mutter! So wie Du itzt die Armen aufnimmst und ihnen gibst, was sie gern haben möchten, so würde man dann auch uns thun, wenn wir arm wären.« Dann sprach Wilhelmine: »Ach, mein Sohn! Man braucht heut zu Tage sein Geld nothwendig und gibt nicht gern weg, aus Furcht, selbst Mangel zu leiden. Und dann ist es ja immer ein Ungewisses Ding, wenn man sich darauf verlassen soll, daß man Menschen antreffe, die gern geben, die uns kennen und die wissen, daß wir ihrer Hilfe nicht unwerth sind. Aber, mein liebes Kind! es gibt ein besseres Mittel, gegen Armuth und Noth gesichert zu seyn, und dies ist, daß man immer fromm und redlich und wahrhaft handle und dabey mäßig sey, um wenig zu bedürfen, und endlich, daß man sich Geschicklichkeit erwerbe, um durch Arbeit das Wenige, so man braucht, verdienen zu können. Ist man fromm und gut, so verläßt uns der liebreiche Vater im Himmel nicht, läßt es uns an Gelegenheit nicht fehlen, durch Fleiß unsern Unterhalt zu gewinnen; und sollte Krankheit uns zur Arbeit untüchtig machen, so finden wir leicht mitleidige Menschen, die sich Unsrer annehmen, wenn man von uns weiß, daß wir nicht durch schlimme Aufführung unser Schicksal uns zugezogen haben.« – Hier nahm dann die zärtliche Mutter Gelegenheit, das Kind auf alles vorzubereiten, was es wahrscheinlicher Weise einst zu erwarten hatte, und ihm Demuth, Redlichkeit, Fleiß und Nachgiebigkeit zu empfehlen.
Unter der Aufsicht dieses herrlichen Weibes erreichte nun Ludwig das achte Jahr, und die süßen mütterlichen Lehren faßten so tiefe Wurzeln in seinem jungen Herzen, daß sein ganzes Leben hindurch, auch mitten in seinen Verirrungen, sein Charakter den Anstrich von weiblicher Milde, Sanftmuth und Geschmeidigkeit behielt. Seine in der Folge gänzlich veränderte Erziehung und die Verhältnisse, in welche er kam, erzeugten manche stürmische, heftige Leidenschaft in ihm, aber in den bessern Augenblicken von Frieden und Stille, wenn der Sturm sich zu legen anfing, dann schien der heilige Schatten seiner lieben Mutter ihn freundlich bey der Hand zu nehmen, und es verschwand der böse Genius, der ihn gefoltert hatte –
So gewiß ist es, daß die Eindrücke, die man in den ersten Jahren der Kindheit bekömmt, unauslöschlich sind, wenngleich die Folgen derselben eine halbe Lebenszeit hindurch nicht offenbar werden – Auch der Geist der Ordnung und Arbeitsamkeit, wovon Ludwig beherrscht wurde, blieb ihm von Wilhelminen eingeflößt. Zugleich war ihm der Umgang mit weiblichen Seelen zu einem Bedürfnisse geworden. Er lernte früh den feinen Gang ihrer Gefühle und Ideen kennen, den der größte Theil der Männer so falsch beurtheilt. Er verstand sie, war immer gern in Gesellschaft feiner und gesitteter Frauenzimmer; sie liebten ihn, ungeachtet er ihnen keine platten Schmeicheleien vorsagte, und zogen ihn einem ganzen Heere von viel hübschem Stutzern vor, deren Mund von Honig überfloß und die des Weihrauchs zentnerschwere Lasten opferten. Von einer andern Seite aber hatte freilich die mütterliche Erziehung auf unsern Ludwig auch den nicht so glücklichen Einfluß, daß eine gewisse Ängstlichkeit und Furchtsamkeit in seinen Charakter kam, von welcher er sich nicht hat wieder losmachen können. Vielleicht wurde er auch schon in diesen frühen Jahren ein wenig von jener weiblichen Eitelkeit angesteckt, die ihm in der Folge seines Lebens so manchen bösen Streich spielte – Genug! bis in das achte Jahr war seine Bildung bloß allein Wilhelminens Werk. Alsdann aber hatte es die Vorsehung beschlossen, diese treue Mutter in einer andern Welt den Lohn ihrer Tugenden einernten zu lassen und sie für die Leiden zu entschädigen, womit sie hier war geprüft worden.
Lange schon hatte sie mit Krankheit gekämpft, als endlich die Folgen eines heftigen Schreckens ihrem schönen, wohlthätigen Leben ein Ende machten; folgende Umstände gaben die Veranlassung dazu: Obgleich der Vater Seelberg bey seinem verminderten Vermögen nicht mehr so viel Aufwand machen noch so viel Schmausereien geben konnte als vormals, so war er doch nun einmal so sehr an ein Leben voll Zerstreuung gewöhnt, daß, da es ihm an besserer Gesellschaft fehlte, er um sich her einen Haufen von äußerst mittelmäßigen Menschen, von Schmeichlern versammlete, die für eine gute Mahlzeit zu allem, was er sprach, lauten Beifall jauchzten. Dieser Zirkel bestand größtentheils aus seinen eigenen Beamten, aus benachbarten Predigern und ein paar Landedelleuten, die dann fleißig seine Tafel heimsuchten. Seelberg, der immer noch gern für einen verständigen, Wissenschaften und Künste liebenden Mann gelten wollte, sprach mit diesen Leuten (obgleich sie wenig davon verstanden, und vielleicht eben deswegen, weil sie wenig davon verstanden) oft von gelehrten Sachen. Er las allerley durcheinander, und es war eben damals die Naturlehre, wie er sagte, sein Lieblingsfach. Die mancherley neuen Entdeckungen, die in der Elektrizität, in der Lehre von der fixen und brennbaren Luft, von den Wirkungen des Schießpulvers, vom Magnetismus und dergleichen gemacht wurden und die er größtentheils aus Journalen und andern Schriften erfuhr, beschäftigten seine Neugier. Er schaffte sich nach und nach einen kleinen Apparat von physischen, mathematischen, optischen und andern Instrumenten an und machte dann nach Tische mit seiner Gesellschaft Experimente, die mehr oder weniger gelungen, je nachdem bey dem Schmause die Flaschen öfterer und seltener herumgegangen waren. Da es ihm zu manchen dieser Versuche an den nöthigen Handgriffen fehlte, so quetschte er sich zuweilen einen Finger oder verbrannte sich die Manschetten oder begoß seinen Rock mit stinkendem Spiritus oder ließ des Amtmanns Perücke halb im Rauch aufgehn; allein das alles ging noch so ziemlich ohne großen Schaden ab; ein unglückliches Experiment aber, das er mit einem leicht zu entzündenden Spiritus in der Nähe von andern brennbaren Sachen machte, hatte schlimmere Folgen.
Die gute Wilhelmine lag schon im Bette, weil sie seit einiger Zeit mit einem schleichenden Fieber kämpfte, welches sich gegen Abend einzustellen pflegte, als Seelberg seine Operationen anfing, die so übel ausfielen, daß er sein sogenanntes Studierzimmer mit allen darin liegenden Papieren in Brand steckte. Er mußte mit seiner Gesellschaft fliehen, um nicht erstickt zu werden, und indes man Anstalt zum Löschen machte und alles im Hause planlos durcheinanderlief, hatte das Feuer so sehr die Überhand genommen, daß man kaum Zeit fand, den besten Hausrath auf die Seite zu schaffen. Wilhelmine lag in unruhigem, ängstlichem Schlummer, als der Lärm sie weckte. Man hatte in der Verwirrung erst spät an sie gedacht, und schon hatte die Flamme die Treppe ergriffen, die nach ihrem Zimmer führte, als ein beherzter Lakaie mitten durch Feuer und Dampf hindurch in ihre Kammer einbrach und sie, die vor Schrecken ohnmächtig wurde, aus ihrem Bette weg in ein Nachbarhaus trug. Die Hälfte des Hauses wurde gerettet; aber das schwache Nervensystem der armen Frau war so zerrüttet, daß sich die Anfälle des Fiebers verdoppelten und sie wenig Wochen nachher ihre schöne Seele in die Hände des allmächtigen Trösters zurückgab.
Seelberg ließ seine Frau mit allem nur möglichen Aufwande begraben, weinte gewaltig, trauerte ungewöhnlich lange, sprach unendlich viel von seinem unersetzlichen Verluste, von seinem unaussprechlichen Schmerze und – fing nach kürzerer als Jahresfrist seine vorige Lebensart wieder an, nur mit dem Unterschiede, daß, da ihm nun die holde Freundin und Rathgeberin fehlte, die wenigstens die seltenen glücklichen Augenblicke genützt hatte, um auf sein Herz einigen wohlthätigen Eindruck zu machen, er jetzt ganz von Moralität herabsunk.