Adolph Freiherr Knigge
Die Verirrungen des Philosophen oder Geschichte Ludwigs von Seelberg
Adolph Freiherr Knigge

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Achtes Kapitel

Die Zeit, binnen welcher der Obrist von Grätz seine Geschäfte in Leipzig beendigt haben konnte, war nun bald abgelaufen, und schon nahete wirklich der von ihm bestimmte Tag der Abreise (der erschreckliche Tag, an welchem sich unsre Liebenden trennen sollten) heran. Der alte Obrist war kein Mann, der viel Sinn für solche Herzensangelegenheiten hatte. Rauh, von wenig Worten, nicht viel Spaß verstehend, liebte er seine Tochter zwar recht sehr, ließ ihr auch ziemlich viel Freiheit, sowohl zu Hause auf dem Lande, wo er sich viel mit dem Haushalte beschäftigte, als auch in Leipzig, weil er überzeugt seyn konnte, daß sie daselbst bey Katharinens Mutter in guten Händen war; aber ich glaube, er würde gräßlich die Stirn gerunzelt haben, wenn ihm seine Geschäfte erlaubt hätten, oft in die untern Zimmer zu den Weibern zu kommen und er dann jedesmal den jungen Gelbschnabel Seelberg mit seinem würdigen Hofmeister neben seiner Tochter und mit ihr in zärtlichen Gesprächen verwickelt angetroffen hätte. Er konnte nichts dagegen haben, daß ein Cavalier von Vermögen sich um Juliens Hand bewürbe; aber dann hätte auch gleich müssen von der Hochzeit die Rede seyn können; als Student hingegen heirathet man nicht, und die Romane, welche in die Länge gezogen werden, liebte er gar wenig – Die jungen Leute hatten also nicht rathsam gefunden, von ihrem Einverständnisse dem alten grämlichen Manne etwas zu entdecken, und hatten daran ganz vernünftig gehandelt. Ebensowenig hatten Seelberg und Krohnenberger es nöthig gefunden, dem Vormunde und ihrem alten Freunde, dem Rektor, von dieser Angelegenheit Bericht zu erstatten, wie sie denn überhaupt selten anders nach Hause schrieben, als wenn sie Geld bedurften. Es hatte also Ludwigs und Juliens Bündnis keine andre legale Form, als daß der liebe Mond und ein paar andre verliebte Thoren und Thörinnen zuweilen Zeugen ihrer Eidschwüre gewesen waren.

Es hieße Mißbrauch von der Geduld der Leser machen, wenn ich Sie mit einer Beschreibung des zärtlichen Abschiedes, den die Verliebten am Abende vor Juliens Abreise voneinander nahmen, belästigen und ihnen erzählen wollte, wie oft sie sich ewige, unverbrüchliche Treue schwuren und welche Verabredungen in Ansehung ihres Briefwechsels unter ihnen getroffen wurden – Solche Scenen sind schon in natura anzusehn für den dritten Mann langweilig genug und werden noch zehnfach langweiliger in der Schilderung. Also weiter! Fünf Monate vergingen nach dieser Trennung, so daß Seelberg nun fast zwey Jahre in Leipzig zugebracht hatte, während welcher Zeit er und Julie sich wöchentlich ein- oder zweimal die zärtlichsten Briefe schrieben, als es endlich dem alten Major von Krallheim einfiel, sich doch einmal nach der Aufführung seines Mündels und dessen Hofmeisters zu erkundigen, weil sich grade eine besondre Gelegenheit dazu erbot, da er dann Nachrichten einzog, die ihm eben nicht sehr angenehm waren und die ihn zu Maßregeln bewogen, welche die Lage unsrer beiden jungen Herrn plötzlich veränderten. Der ehrliche Vormund hatte nämlich oft den Kopf darüber geschüttelt, daß man in Leipzig so viel Geld brauchte (denn er mußte auf Krohnenbergers dringende Vorstellung manche beträchtliche Summe außer dem Festgesetzten hinschicken), doch meinte er, wenn nur der Junge etwas Tüchtiges dafür lernte, so wäre das Geld immer gut angewendet, und hieran nun zweifelte er keinesweges, da Ludwig schon in seinen Schuljahren so außerordentlich viel unermüdeten Fleiß und Durst nach Kenntnissen bewiesen hatte, der Rektor versicherte, ein solcher Jüngling unter einer so guten Aufsicht könne gar nicht faul seyn, und endlich auch von Zeit zu Zeit Leute, die theils unsern Ludwig nicht genau kannten, theils keinen Beruf fühlten, zu fiskalisieren, versichert hatten: der junge Herr von Seelberg besuche keine liederliche Gesellschaften und sey zu Hause mit seinen Büchern fleißig beschäftigt. Dies war in der That wahr. Er übernahm sogar im zweiten Jahre manche Kollegia, verabsäumte dieselben nicht und war überhaupt kein Müßiggänger im groben Sinne des Wortes; allein seine Thätigkeit hatte, wie ich schon gesagt habe, keine bestimmte, zweckmäßige Richtung, zielte auf keinen festen Lebensplan ab, und eine solche umherschweifende Thätigkeit ist bey einem feurigen jungen Menschen wahrlich oft schädlicher als das eigentliche Nichtsthun. Nun fügte sich's, daß ein sehr redlicher und aufgeklärter Handelsmann aus Leipzig mit dem Major von Krallheim in einer Gesellschaft in Dresden zusammentraf. Nach allerley gleichgültigen Gesprächen fragte Dieser Jenen, ob er den jungen Seelberg kenne, und redete dabey von ihm als von einem Muster junger Leute, erhob den Hofmeister, den er ihm mitgegeben, und fügte nur hinzu, es befremde ihn, daß ein Studierender in Leipzig so viel Geld verzehren müsse. Der Kaufmann beantwortete dies kurz, sagte aber dabey, er behalte sich's vor, morgen hierüber weitläufiger zu reden. Am folgenden Tage besuchte er Krallheimen und sagte ungefähr dies zu ihm: »Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen offenherzig einige Beobachtungen mitzutheilen, die ich über Ihren jungen Herrn Mündel angestellt habe, seitdem derselbe in Leipzig ist und oft von mir an einem dritten Orte gesehn wird. Es fehlt ihm wahrlich nicht an guten, herrlichen Anlagen; allein, wenn Sie glauben, daß er irgend etwas von demjenigen lernt, weswegen Sie ihn auf Universitäten geschickt haben, und wenn Sie glauben, daß er in des Herrn Krohnenbergers Händen gut aufgehoben ist, so stehen Sie in doppeltem Irrthume« – Krallheim machte, wie man denken kann, bey dieser Anrede gewaltig große Augen, allein der ehrliche Kaufmann ließ sich dadurch nicht irremachen, sondern entwarf ihm ein sehr wahrhaftes Bild von Ludwig und dessen Führer, versicherte, es sey die höchste Zeit, diese beiden Leute zu trennen, den jungen Menschen einer andern Aufsicht anzuvertrauen, seine Studien besser zu dirigieren, seine Schulden, deren er, wie er zuverlässig wisse, ziemlich beträchtliche habe, zu bezahlen und ihm die närrische Liebe zu seinem armen Landfräulein aus dem Kopfe zu bringen; denn auch diese war kein Geheimnis mehr, wie denn überhaupt Verliebte ihre Sache mehrentheils so heimlich und vorsichtig anzufangen pflegen, als Tristram Shandy sagt: »Es geht mit der Liebe wie mit der Hahnreischaft; der leidende Theil ist gewöhnlich der Letzte, der etwas von der Sache weiß.«

Unser ehrlicher Major war ein gutmüthiger Mann, aber er konnte äußerst aufgebracht werden, wenn er sah, daß man ihn hintergangen, seine schönsten Hoffnungen vereitelt hatte. Er erzürnte sich daher auch heftig über seinen Mündel, dankte indessen herzlich dem Kaufmanne für die ertheilten Nachrichten, bat ihn bey der Reform, welche er vorhatte, um seine Beihilfe und fuhr, früher als seine Absicht gewesen, von Dresden weg nach ***, woselbst er gradeswegs zu dem Rektor Werkmann ging und demselben in der ersten Hitze ziemlich harte Vorwürfe wegen seines saubern Herrn Vetters Krohnenberger machte. Der gute Mann entschuldigte sich mit der Redlichkeit seiner Absicht und mit seinem Mangel an Allwissenheit, der Major wurde besänftigt, aber er war entschlossen, sich in Ansehung der künftigen Maßregeln nicht ferner seines Raths zu bedienen, sondern sich an andre Leute zu wenden. Dies that er dann auch. Man schlug ihm einen geschickten Hofmeister vor, der schon über acht Lustra alt, von ernsthaftem Charakter, mit ein paar jungen Herrn auf Reisen gewesen und grade itzt frey war. Er ließ denselben zu sich bitten, fand Wohlgefallen an ihm, instruierte ihn, nahm ihn an, versah sich mit Gelde und reisete mit dem Herrn Wasserhorn (so hieß der Pädagoge) nach Leipzig.

Die Ankunft dieser beiden Männer war dem jungen Seelberg äußerst unerwartet; Herr Krohnenberger hatte nicht Ursache, sich über die Bewillkommnung zu freuen, welche er erfuhr. Man verlangte Rechenschaft von seiner ökonomischen Verwaltung, und es sah ziemlich leichtfertig damit aus – »Einen solchen Windbeutel und Taugenichts, als Er ist«, sagte der Major, sobald er vollkommen von der Lage der Sache unterrichtet war, »einen solchen elenden Schacher sollte man mit den Ohren an das Stadtthor nageln. Indessen mache Er Sich nur gleich aus dem Staube, mein flüchtiger Musjö! so soll ihm weiter nichts geschehen. Er kann ja nach Merseburg reisen. Da ist jetzt Jahrmarkt. Lasse Er Sich dort von dem Marktschreier zum Hannswurst annehmen! Dazu schickt Er Sich besser als zum Hofmeister.« Mit diesem Abschiede mußte Signor Krohnenberger abwandern, Seelberg wollte sich ein wenig sperren; allein man sprach aus einem Tone mit ihm, der ihn, welcher überhaupt im ersten Augenblicke, besonders wenn er keine gute Sache hatte, leicht in Verwirrung und Furcht zu bringen war, schweigen machte. Der Kaufmann, von dem wir vorhin geredet haben, half einen Vergleich mit den Gläubigern schließen, welche zum Theil jüdische Wucherer waren, und damit alle Verbindung mit dem Fräulein Julie aufhören sollte, so war der Major nicht nur grausam genug, dem alten Obristen von Grätz schriftlich Nachricht von dem Einverständnisse seiner Tochter mit Ludwig zu geben, sondern dem neuen Hofmeister, Herrn Wasserhorn, wurde auch gemessener Auftrag ertheilt, ein wachsames Auge auf seines Zöglings Briefwechsel zu haben, und endlich, damit sowohl die Möglichkeit, heimliche Zusammenkünfte in der Nachbarschaft zu veranstalten, wegfallen als auch überhaupt Seelberg aus allen seinen bisherigen Gesellschaften herausgezogen werden sollte, mußte derselbe nebst dem Herrn Wasserhorn sogleich nach Göttingen abreisen.

Es läßt sich begreifen, warum Krallheim es so ungern sah, daß Ludwig sich in das Fräulein von Grätz verliebt hatte. Er war an sich selbst kein Feind der Liebe, und wären Seelbergs Vermögensumstände nicht in einer solchen Lage gewesen, daß demselben durch eine reiche Heirath gänzlich wieder aufzuhelfen das Vernünftigste zu seyn schien, so würde der Vormund vielleicht gegen eine Verbindung mit der Tochter seines alten Freundes (denn das war der Herr von Grätz) nichts einzuwenden gefunden haben. So aber glaubte er, diese Liebschaft könne leicht, wenn sie recht ernsthaft würde, alle Aussichten zu Ludwigs bürgerlichem und häuslichem Glücke zerstören; also mußte sie abgebrochen werden.

Nachdem wir nun unsern jungen Menschen, von seinem ernsthaften Hofmeister begleitet, nach Göttingen geführt haben, so wollen wir doch sehn, was indes aus Julien geworden ist. Daß sie nach ihrer Abreise von Leipzig einen fleißigen Briefwechsel mit ihrem Geliebten führte, haben wir gehört, und daß die Briefe mit gehöriger Vorsichtigkeit auf die Post geschafft wurden, damit der Vater nichts von dem Handel erfahren möchte, das können wir von ihrer Weiberlist erwarten. Ein Kammermädchen und ein altes Weib, die Frau des Schulmeisters im Dorfe, waren die Vertraueten bey dieser Angelegenheit. Es fügte sich aber einst, daß Julie spazierengegangen, die Kammerzofe aber an hysterischen Umständen bettlägrig war, als die Frau Schulmeisterin gar leise und demüthig auf den Hof geschlichen kam und immer nach dem Fenster im obern Eckzimmer, wo Julie wohnte, hinschielte. Der alte Obrist konnte überhaupt keine alten Weiber, am wenigsten aber diese leiden, auf welche er schon lange allerley Verdacht hatte, weil sie öftrer, als nöthig war, kam und allzeit mit jemand zu flüstern hatte. Er stand grade jetzt mit einer Pfeife Tabak in der Hausthür, als sie hereinzog: »Wo soll die Reise hingehn, Frau? Was wollt Ihr? Wer hat Euch rufen lassen?« – »O! Ihr Gnaden verzeihen! Ich wollte nur zu der Mamsell Weißbaumin.« – »Was, Mamsell! Ich habe keine Mamsell im Hause, und wenn Ihr das Kammermensch meint, so dient zur Nachricht, daß das Mädchen krank ist. Also guten Abend, Frau! und gehet nun nur in Gottes Namen wieder heim, bis man Euch rufen läßt!« – »Unterthänige Dienerin, Ihr Gnaden, Herr Obrist! ich will doch nur ein bißchen sehn, was die arme Mamsell macht« – »Und ich sage Euch, daß Ihr das diesmal nicht sehn sollt, oder habt Ihr etwa Arzeney für Sie? So ein Pülverchen, so ein Kräutchen, wie zuweilen die alten Weiber damit aus der Noth helfen, wenn ein Jüngferchen in Verlegenheit ist, und wonach man wieder hübsch schlank und mager wird?« – Nun hielt grade die Frau Schulmeisterin einen Brief von Ludwig: à Mademoiselle Weißbaum adressiert, unter der Schürze in der Hand. Der Vorwurf aber, als wenn sie verrufene, gefährliche Arzeneien herbeischleppte, machte sie glauben, der alte Herr habe gesehn, daß sie etwas in der Hand hielte, und um sich von jenem abscheulichen Verdachte zu befreien, beging sie die Unvorsichtigkeit, das Briefchen hervorzuholen. – »Ey! was denken Ihr Gnaden von mir? Ich habe ja nur ein kleines Schreiben« – »Her damit! ich will es selbst besorgen.« Die Frau sträubte sich, und das vermehrte den Verdacht – »Wollt Ihr gleich hergeben, alte Hexe! oder der Teufel soll Euch auf den Kopf fahren« – Es half nichts; sie mußte – »Mit dem Briefe ist es nicht richtig«, sagte der Obrist, als er ihn bekommen, ein paarmal in der Hand umgedreht und das Weib fortgejagt hatte: »Mit dem Briefe ist's nicht richtig – Voyons!« – Er erbrach ihn – »Ha ha! es liegt noch einer darin: An meine beste Julie – Wie? was bedeutet das? Meine Tochter einen geheimen Briefwechsel?« – Nun wurde die Einlage eröffnet und das Geheimnis entdeckt; Julie mußte alles bekennen, durfte ihrem Vater ein paar Tage lang nicht vor die Augen kommen, bis sie heilig und theuer versprach, dies Liebesverständnis auf immer abzubrechen, die Jungfer Weißbaum wurde fortgejagt, und der Obrist war eben ernstlich darauf bedacht, Mittel zu wählen, die heimliche Fortsetzung dieses Romans unmöglich zu machen, als er noch zwey andre Briefe, die an ihn selbst gerichtet waren, bekam, und deren beiderseitiger Inhalt hierher gehört. Der erste Brief war von dem Major von Krallheim und derselbe, von welchem wir vorhin geredet haben; der andre aber kam von einem Vetter des Herrn von Grätz, welcher Hofmarschall an einem Hofe nicht weit von den Rheingegenden war und in diesem Briefe dem Obristen den Vorschlag that, seine Tochter als Hofdame an ebendiesem Hofe anzustellen. Der alte Grätz war kein Liebhaber vom Hofleben und meinte wirklich, eine Hofdamenstelle sey für Leib und Seele kaum so wünschenswerth als eine Stelle in einem Hospitale; allein seine Tochter war arm, immer war diese angetragene Versorgung nicht zu verachten; die kleine Liebesangelegenheit hatte auch wohl gewirkt, daß er weniger delikat für Julien wählte, endlich, da in Krallheims Schreiben nicht stand, welche Maßregeln er mit Ludwig genommen und daß er beschlossen hätte, ihn nach Göttingen zu schicken, so glaubte Grätz, der junge Mensch werde noch in Leipzig bleiben, und fand daher die Gelegenheit ganz schicklich, seine Tochter wenigstens auf ein paar Jahre aus dieser Gegend zu entfernen. Er nahm also den Vorschlag des Hofmarschalls an; Julie wurde ausgerüstet, ohne zu erfahren, was man mit ihr vorhatte; eine alte Tante mußte sie begleiten, und als sie in den Wagen stieg, küßte der Vater sie und sprach: »Deine Tante wird Dir unterwegens sagen, wohin die Reise geht. Machst Du, daß ich Freude an Dir erlebe, so bleibst Du mein liebes Kind; machst Du mir Unehre, so drehe ich Dir den Hals um – und nun Gott befohlen! Es ist so böse nicht gemeint, und es wird Dir schon gefallen da, wo Du künftig leben wirst. Vielleicht sehen wir uns auch bald wieder.« – Und darauf ging er wieder in sein Zimmer, setzte sich hin und antwortete dem Major: Er danke für die Nachricht; er sey aber schon vorher hinter die Sache gekommen und habe itzt seine Tochter an einen entfernten Ort geschickt, wo ihr die verliebten Gedanken vermuthlich vergehn würden.

So waren denn nun die armen Täubchen weit auseinander, ohne Nachricht von ihrem Schicksale und ohne die Hoffnung zu haben, sich bald wiederzusehn, ja! nur einmal sich ihre Klagen schreiben zu dürfen.


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