Adolph Freiherr Knigge
Die Verirrungen des Philosophen oder Geschichte Ludwigs von Seelberg
Adolph Freiherr Knigge

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Vierzehntes Kapitel

Seelberg lag, ermüdet von der Reise, am folgenden Morgen um acht Uhr noch im Bette, indes die Gasse schon von geschäftigen und von ungeschäftig durcheinanderlaufenden Menschen wimmelte, wie es in den Messen zu gehn pflegt. Er lag, sage ich, noch im Bette; aber er schlief nicht. Tausend Gedanken rollten durch seinen Kopf; Pläne für die Zukunft beschäftigten ihn; Anschläge, welchen Gebrauch er von der Freiheit machen wollte, die er nun bald erlangen würde, welcher Lebensart er sich widmen und wie er sein Vermögen verwalten möchte. Der Vorschlag, bevor er in Fürstendienste träte oder sonst eine bestimmte Laufbahn sich wählte, erst auf Reisen zu gehn und dazu eine Summe aufzunehmen, gefiel ihm immer am besten. Er bildete in Gedanken diesen Plan aus und entwarf seine Reiseroute. In vier Wochen, nachdem er alles zu Hause würde in Ordnung gebracht haben, wollte er wieder nach Göttingen gehn, seine Schulden bezahlen und dann die Reise antreten. Anderthalb Jahre hielt er hinreichend dazu, und mit höchstens viertausend Thalern, meinte er, würden die Unkosten zu bestreiten seyn.

Menschen, die gern faulenzen, pflegen ein wonnevolles Vergnügen zu empfinden, wenn sie des Morgens im Bette (in welchem verständige Leute nur so lange liegenbleiben, als sie Schlaf und Ruhe nöthig zu haben glauben), besonders im Winter, die Arme unter die dicke Federdecke stecken, sich recht bequem legen und dann, wenn nichts als das Köpfchen hervorblickt, in diesem Köpfchen allerley unnütze Pläne durcheinander arbeiten können, Pläne, die mehrentheils scheitern, sobald sie aus ihrer Höhle hervorkriechen und wieder in die Welt zurückkehren. Ich selbst habe oft dergleichen Tagediebsanwandlungen gehabt und gefunden, daß man sich in einem solchen warmen Bette ganze platonische Republiken schafft, besonders wenn man zwischendurch einmal wieder einschläft und der Traumgott die Bilder vollendet. So ging es auch unserm Helden; aber er wurde bald aus seiner Illusion aufgeweckt, denn als er, um seines Körpers recht zu pflegen, bestellt hatte, man solle ihm den Kaffee vor das Bett bringen (Auch eine edle Gewohnheit!) und er wirklich eben beschäftigt war, denselben zu genießen, wobey er recht froher Laune wurde und glänzende Schlösser in der Luft bauete, pochte jemand anfangs ganz leise und, da das nicht gleich gehört wurde, zuletzt ziemlich herzhaft an die Thür. Seelberg rief nun: herein! und siehe da! es erschien der oft erwähnte Jude, trat in das Zimmer und überreichte, bevor er sich über die Absicht seines Besuchs näher erklärte, Ludwigen einen Brief, welchen Dieser begierig erbrach und las, was folgt:

 

»Ich danke Dir herzlich für Deinen bisherigen Beistand. Der liebe Gott wird alles bezahlen; ich kann es nicht, bin gleich nach Dir mit dem von Dir erhaltenen Gelde, so ich annehme, als hättest Du es mir aus großmüthiger Seele zum Reisegelde geschenkt, aus Göttingen ab- und Dir Schritt vor Schritt nachgereist, habe gestern abend hier unsern ehrlichen Juden aufgesucht und demselben Deine Wohnung angezeigt. Er wird Dir morgen früh persönlich seine Aufwartung machen; aber alsdann gib Dir keine Mühe, mir weiter nachzuspüren, denn ich reise noch in dieser Nacht weiter. Bezahle noch das paar hundert Thälerchen, mein Lieber! Danke Deinem glücklichen Gestirne dafür, daß Du so wohlfeil davonkommst, und nimm von mir eine Lehre an, die Dich in der Folge, wie ich hoffe, zu größerer Vorsichtigkeit bewegen wird: Du bist ein gescheiter Pursche; brauche Deinen Verstand! Du solltest billig nicht mehr geprellt werden, sondern andre Leute prellen. Thue das künftig, Brüderchen! die Menschen sind wahrlich nichts Besseres werth. Sey übrigens nicht böse über mich! Ich bin auch oft genug in meinem Leben angeführt worden und habe mich dafür noch lange nicht bezahlt gemacht. Unser gemeinschaftlicher Freund *** ist auch mit ausgezogen und will Deine Uhr zum ewigen Andenken aufheben. Wir empfehlen uns beiderseits gehorsamst und bestens.«

 

Und dieser Brief war von dem livländischen Bösewichte unterschrieben.

 

Ich würde es vergebens versuchen, zu beschreiben, was Seelberg empfand, nachdem er den Brief gelesen hatte. Zuerst ergriff ihn eine stille Wuth, eine Betäubung – Er glaubte kaum seinen Augen trauen zu dürfen. Er las noch einmal, und dann brach er in Fluchen und Verwünschungen aus; allein der Israelite ließ ihm nicht die Zeit, seinem Zorne viel Zunge zu geben, sondern fragte ganz bescheiden, ob er ihm jetzt den Wechsel bezahlen könne und wolle? Ludwig mußte natürlicher Weise nein antworten, doch versicherte er, sobald er nur zu Hause angekommen seyn würde, wolle er augenblicklich Rath schaffen. Dabey entdeckte er ihm seine ganze Lage, bewies ihm, wie ungerecht und abscheulich es von dem Livländer gehandelt sey, ihn so anzuführen – aber der Jude hatte für das alles nur Eine Antwort, und die war: »Nau! Gott behüt's! Es eß mer selbens läd, aber ich moß mein Geld haben«, und als ihm die Scene zu lange dauerte (die Zeit in der Messe ist edel), steckte er den Kopf zur Thür hinaus und rief einen kleinen manierlichen Abgeordneten der Gerechtigkeitspflege herein, den er zu diesem Endzwecke mit sich genommen hatte und der mit aller möglichen Höflichkeit (welche in Leipzig auch sogar auf die Justiz ihren wohlthätigen Einfluß hat) unsern jungen Herrn fragte: ob er die Unterschrift unter vorliegendem Wechsel für seine Hand erkenne und ob er die Summe quæstionis jetzt zu bezahlen bereit sey oder nicht? Das Gefühl der Verlegenheit, darin Seelberg war, und die Eindrücke, welche die Abscheulichkeit des Verfahrens seines vermeinten Freundes auf ihn machten, gaben ihm plötzlich den Gedanken ein, seine Handschrift abzuleugnen: »Haben nicht Christ und Jude gemeinschaftliche Sache gemacht, mich zu betrügen?« sprach er zu sich selbst. »Kann es ein Verbrechen seyn, wenn ich ihren Plan auf diese Art vereitle, wenn ich den Rath des saubern Livländers befolge und lieber sie prelle, als mich prellen lasse?« So dachte er einen Augenblick, aber eine innere Stimme, für welche sein Ohr noch nicht verstopft war, rief ihm zu: »Pfui, Ludwig!« und also gestand er augenblicklich die Schuld ein, wiederholte aber dasjenige, was er vorhin dem Juden gesagt hatte. Indessen war der freundliche Justizmann ebensowenig geneigt, sich mit Entschuldigungen abspeisen zu lassen, als der Hebräer. Es thäte ihm herzlich leid, sagte er, daß er strenge nach seiner Vorschrift verfahren müßte. Das Wechselrecht, meinte er, habe der böse Feind erfunden. Es sey damit gar nicht zu scherzen. Übrigens müsse er bitten, daß es dem gnädigen Herrn gefällig seyn möchte, aus dem Bette aufzustehn und sich anzukleiden, um ihm in das Gefängnis zu folgen oder, wenn er einen Mann zur Wache bezahlen wolle, so stehe es auch in seinem Belieben, Hausarrest zu halten.

Weil nun einmal unter zwey Übeln eines gewählt werden mußte, so bat Ludwig um Hausarrest, doch wurde derselbe noch auf sein Ansuchen dahin gemildert, daß er in Gesellschaft einer Wache in der Stadt herumgehn und Geld aufzutreiben suchen durfte; denn da er hier in Leipzig studiert und daselbst noch viel Bekannten hatte, so schmeichelte er sich mit der Hoffnung, es werde leicht Einer von ihnen, wenn er ihm sein Anliegen vortrüge, ihn aus der Verlegenheit reißen und ihm, bis er zu Hause Rath geschafft hätte, eine kleine Summe vorstrecken, zumal unter ihnen theils Einige waren, die ihm Verbindlichkeiten, theils Kaufleute und Gastwirthe, die manchen schönen Thaler von ihm gezogen, theils Leute, die ihm die wärmsten Freundschaftsversicherungen gegeben und gebeten hatten, sie nur auf die Probe zu setzen; allein er betrog sich. In fünf oder sechs Häusern, in welche er herumlief, wurde er zwar im ersten Augenblicke äußerst artig empfangen und aufgenommen, so lange, bis er in seinem Gespräche an das Gesuch kam. Kaum aber hatte er die ersten Worte davon vorgetragen, so zog sich das Gesicht jener Herrn feierlich in seine Festtagsfalten zurück, und es erfolgte eine abschlägige Antwort, die zuweilen sich nicht einmal die Mühe gab, das Kleid einer scheinbaren Ausrede anzuziehn.

Sein letzter Gang führte ihn zu dem Kaufmanne, von welchem wir im achten Kapitel gehört haben, daß er sich ein Geschäft daraus gemacht hatte, den Major von Krallheim zu Abschaffung des ersten Hofmeisters zu bewegen und die ökonomischen Umstände des jungen Herrn von Seelberg in Ordnung bringen zu helfen. Bey Diesem aber kam er sehr unrecht an: »Ich sehe«, sagte er, »an Ihrem ganzen Wesen und an der Art des Anliegens, welches Sie mir vortragen, daß Sie fortgefahren sind, auf dem Wege zu wandeln, auf welchen Sie der würdige Herr Krohnenberger geleitet hatte, und das thut mir weh. Aber ich kann Ihnen nicht helfen. Ich habe Frau und Kinder und bin ein Kaufmann – zwey triftige Gründe, die mich abhalten, zweihundert Thaler da anzulegen, wo ich weder weiß, ob und wenn man mir dieselben erstatten will noch ob man kann.«

So verging der Morgen, und Seelberg kehrte mißmuthig in seinen Gasthof zurück, um daselbst an der Wirthstafel zu speisen, als ein Ungefähr (in dem Sinne, wie man gewöhnlich das Wort Ungefähr nimmt) ihn daselbst einen preußischen Offizier antreffen ließ, der grade so viel Ähnlichkeit mit jenem Werbeoffizier hatte, von welchem ich im dritten und vierten Kapitel geredet habe, als ein Mensch nur immer mit sich selbst zu haben pflegt, denn es war kein Andrer als er, der im Begriff stand, zum Regimente nach Preußen zu reisen. Sobald ihn Ludwig wiedererkannte, faßte er Hoffnung auf ihn. Er hatte sich damals bey der Werbungsgeschichte so edel betragen, daß Jener nicht zweifelte, er werde auch diesmal sich Seiner annehmen. Er trug ihm also nach der Mahlzeit sein Anliegen vor; aber der Offizier antwortete ganz offenherzig: »Sie wissen, mein Herr von Seelberg! daß wir uns im Grunde gar nicht genau kennen. Ich habe Sie damals bewogen, einen Jugendplan aufzugeben und Sich einer Lebensart zu widmen, die mir mehr für Sie gemacht zu seyn schien als das Soldatenleben. Nachher haben wir uns nicht wiedergesehn. Sie sind indes herangewachsen, ich weiß aber nicht, ob Sie die freundschaftlichen Rathschläge befolgt haben, welche ich Ihnen damals gegeben, mit Einem Worte, ob ich einen Jüngling vor mir habe, der Wahrheit, Redlichkeit und Ordnung liebt oder nicht. Sie können mir's unmöglich verdenken, wenn ich dies nicht gradehin auf Ihr Wort glaube. Doch würde ich, wäre ich reich genug dazu, den möglichen Verlust von einem paar hundert Thalern nicht so hoch rechnen. Jetzt aber muß ich diese Rücksicht zu dem Mißtrauen, wozu mich meine Umstände doppelt berechtigen, in die Wagschale legen. Ich lebe selbst fast nur allein von meinem Traktamente. Ich bedaure Sie, wenn es wahr ist, daß Sie aus Freundschaft für einen Unwürdigen Sich in Verlegenheit befinden. Es kömmt mir auch nicht zu, Ihnen zu Gemüthe zu führen, ob Sie bey dieser Sache so vorsichtig und weise gehandelt haben, als Sie gesollt hätten, und ob Sie ekel genug in der Wahl Ihrer Freunde gewesen sind.« – »O! verschonen Sie mich, wenn ich bitten darf, mit Ihren Lehren, Herr Hauptmann! wenn Sie mir nicht helfen wollen!« erwiderte Ludwig und ging trotzig fort, entschlossen, augenblicklich einen Boten an seinen Vormund abzuschicken, demselben seine ganze Lage zu entdecken, um Hilfe zu bitten und indes in Leipzig den Arrest zu halten, soviel auch dieser Schritt seinen Ehrgeiz kostete. Allein unvermuthet kam Rettung, und er befand sich, noch ehe es Abend wurde, auf freiem Fuße – Doch bevor ich erzähle, wie das zuging, muß ich mir wiederum eine kleine Ausschweifung erlauben.

Ich hoffe nämlich, die Leser werden nicht deswegen von der menschlichen Natur nachtheiligere Begriffe hegen, weil sie vielleicht oft die Erfahrung gemacht haben und dieselbe in dieser Geschichte bestätigt finden, daß, wenn man durch Muthwillen oder eigene Unvorsichtigkeit in einen Sumpf gerathen ist, man auch unter den besten, dienstfertigsten Menschen nicht gleich Einen findet, der Lust hätte, nachzuspringen, um uns herauszuziehn oder mit uns zu versinken. Nichts ist indessen gewöhnlicher zu hören, als daß Menschen, die in ihren Handlungen nicht von der Vernunft, sondern von thörichten Fantasien und Temperamentstrieben geleitet werden, wenn sie sich durch unkluges Betragen in solche Lagen versetzt haben, aus denen sie sich selbst nicht helfen können, sie es dann jedem redlichen Manne zur Pflicht machen, ihm mit Aufopferungen aller Art, mit eigener Gefahr und mit Schaden beizustehn oder vielmehr den Preis ihrer Thorheit mit ihnen zu theilen. Finden sie dann nicht die thätige Hilfe, welche sie fordern, so pflegen sie in Verwünschungen gegen das Menschengeschlecht auszubrechen: »Ja!« rufen sie dann. »An glatten Worten läßt man es in dieser Welt nicht fehlen; aber wo es auf echte Proben von Freundschaft und Redlichkeit ankömmt, da ist niemand zu Hause.« Ich meines Theils habe noch äußerst selten den Fall erlebt, daß ein in allem Betrachte wahrhaftig unschuldig Leidender ohne Hilfe zu Grunde gegangen wäre; halte niemand für hartherzig, der Dem, welcher durch grobe Unvorsichtigkeit in Verlegenheit gerathen ist, seine Hilfe alsdann entzieht, wenn er nicht sicher erwarten kann, denselben durch diese Hilfe von künftigen Verirrungen abzuhalten, und wenn die Wohlthat, die er erweisen würde, eine Beraubung seiner Familie wäre. Übrigens glaube ich, daß, wenn man geben kann (das heißt, ohne sich und die Seinigen in Verlegenheit zu setzen), man nicht immer ängstlich die Würdigkeit des Hilfsbedürftigen abwiegen solle, weil sonst schwerlich ein Mensch in der Welt übrigbleiben würde, der ein Gegenstand unsers Beistandes und einiger Aufopferung seyn dürfte; daß es aber doch eine Pflicht der Gerechtigkeit (der erhabensten aller Tugend – wo nicht der einzigen) ist, für Den, welcher nicht grenzenlos wohlthätig seyn kann, seine Großmuth so zu ordnen, daß Freigebigkeit nicht zugleich Diebstahl an Andern werde.

Seelberg machte es wie die mehrsten Leute seiner Art. Um sich selbst die Vorwürfe zu ersparen, verwünschte er alle andre Menschen und schwur hoch und theuer, wenn er nur erst aus dieser Verlegenheit gerissen wäre, so wolle er nicht nur nie wieder irgend Einem trauen, irgend Einem in der Noth helfen, sondern auch so mit dem Gelde Rath halten, daß er nie in den Fall kommen könnte, irgend jemand um Beistand anzusprechen. Was den letztern Punkt seines Gelübdes betraf, so wäre es, denke ich, nicht übel gethan gewesen, wenn er darauf gehalten hätte; eine solche Unabhängigkeit ist nicht zu verachten; jene feindselige Stimmung wider die Menschen hingegen hatte schlimmere Folgen für seine Moralität, Folgen, wobey er allein verlor; denn, obgleich die Leichtfertigkeit seines Temperaments ihn abhielt, irgendeinen guten oder bösen Vorsatz mit Festigkeit und Beharrlichkeit auszuführen und gegen diesen noch insbesondre ein innerer Instinkt besserer Art sich empörte, so wirkte doch die Erbitterung so viel, daß er seit dieser Zeit sich manche Härte und Falschheit gegen die Menschen erlaubte, von denen er sich überzeugt hielt, sie würden es nicht besser gegen ihn gemacht haben, wenn sie in seinem Fall wären.

Doch, es ist Zeit, daß ich nun erzähle, auf welche Art Seelberg aus seiner unangenehmen Lage herausgerissen wurde. Die Art war zwar sehr einfach, denn der Jude hob den Arrest auf und erklärte: der gnädige Herr möchte in Gottes Namen reisen! er verlasse sich auf sein Ehrenwort, daß er ihn bald befriedigen werde. Allein wie es zuging, daß der Jude auf einmal so gütige Gesinnungen äußerte, das ist wohl eigentlich der Punkt, worüber meine Leser von mir Erläuterung zu fordern das Recht haben und worin selbst der Held unsrer Geschichte so viel Sonderbares fand, daß er fast nicht glauben konnte, es sey seinem Gläubiger damit ein Ernst – Hier ist indessen der Schlüssel zu diesem Räthsel!

Seelberg stand, wie wir wissen, seit einiger Zeit nicht mehr in Briefwechsel mit dem Grafen Storrmann, folglich, wie sich begreifen läßt, auch nicht mit Luisen; allein dieser redliche Mann, der täglich in sittlicher Vollkommenheit und also auch in wahrer Glückseligkeit zunahm, war dennoch gar nicht sorglos um seinen Freund. Obgleich er ihn gänzlich seinem Schicksal überlassen zu haben schien, so erkundigte er sich doch ohne Unterlaß nach jedem Schritte, den unser Jüngling that, und trauerte, wenn die Nachrichten, welche er erhielt, nicht so beschaffen waren, daß er Luisen etwas Angenehmes davon berichten und sie, die ihn noch immer herzlich liebte, mit der Hoffnung trösten konnte, er werde bald ihrer Zärtlichkeit würdiger werden. Es war dem Grafen also auch geschrieben worden, daß Ludwig im Begriff wäre, über Leipzig nach Hause zu reisen, um sich von dem Vormunde sein Vermögen überliefern zu lassen, und da grade zu der Zeit Storrmann in Geschäften seines Fürsten nach Böhmen verschickt wurde und seinen Weg durch Sachsen nehmen mußte, so kam er nebst seiner Frau und deren Schwester den nämlichen Tag in Leipzig an, als Seelberg dort mit der Justiz in unangenehme Verbindung gerieth.

Nun studierte damals in Leipzig ein junger Cavalier, ein Vetter des Grafen Storrmann, welcher, sobald er erfuhr, daß Dieser angekommen wäre, ihm seine Aufwartung machte. Herr von Leuchtenburg (so hieß dieser Mensch) war ein Jüngling von derjenigen Art, die in unsern Zeiten nicht selten ist, das heißt, voll Selbstgenügsamkeit, Impertinenz, Reformations- und Aufklärungsgeist. Er war Mitglied solcher geheimen Verbindungen, denen der Gott der Fantasie das Wohl der Länder, die Oberaufsicht über die Regenten, das Richteramt über alle Vornehme und Geringe auf Erden und den Schlüssel zu aller Weisheit in die Hand gegeben hat. Weit entfernt, sich um die elenden Lumpereien zu bekümmern, die ihn persönlich angingen, zum Beispiel: in eigener Vollkommenheit zu wachsen, in seinem Zirkel das nahe, vor Augen liegende, mögliche Gute zu bewirken und sich durch Bescheidenheit, Gradheit und gute Aufführung Liebe und Achtung zu erwerben, überschauete vielmehr sein helles Auge immer das Ganze, litt nicht, daß um ihn her etwas Ungerechtes geschah, kontrollierte unermüdet die Aufführung Andrer, und wo ihm irgendein Anekdötchen zum Nachtheil eines Mannes (und wäre er auch nicht werth gewesen, dieses Mannes Schuhriemen aufzulösen) zu Ohren kam, da schrieb er es auf, in sein schmutziges Schreibtäfelchen, und wenn er sich zu Hause befand und es grade Posttag war, schickte er eine Ladung solcher Anekdötchen (Dank sey es der wohlverstandenen Publizität!) zum Einrücken in irgendeines von unsern vortrefflichen deutschen Journalen ab, in welchen jeder anonyme Schuft, unentdeckt und ungestraft, den Mann von Redlichkeit, Ehre, Würde und Alter namentlich öffentlich an den Pranger schlagen darf und ihn nachher genug für gekränkten Ruf und tödlichen Verdruß entschädigt zu haben glaubt, wenn er stillschweigt, sobald in dem folgenden Stücke des Journals ein Andrer die Nachricht als Verleumdung widerruft und den Einsender für einen Schurken erklärt. Diese herrlichen Anstalten, die uns bald dahin führen werden, bey so viel theils schwankenden, unbewiesenen, nicht zu erläuternden, theils ganz falschen Erzählungen allen Glauben an Thatsachen, allen öffentlichen Ruf zu verachten und gleichgültig gegen Beschimpfung und gegen Lob unsrer Mitbürger zu werden, diese vortrefflichen Anstalten, von denen ich schon im elften Kapitel etwas gesagt habe, von denen es aber schwer ist zu schweigen oder ohne Galle zu reden, diese Anstalten, die so viel Gutes wirken könnten, wenn sie nicht durch Muthwillen, Partheigeist und Anonymität geschändet, wenn sie nicht von den verschiedenen, alles, was außer ihnen ist, verfolgenden Partheien dazu gemißbraucht würden, Jeden zu necken und zu schimpfen, der nicht gemeinschaftliche Sache mit ihnen macht, und jedes Wort von einem Solchen, jeden Schritt, jede Zeile, die er geschrieben, so lange zu verhöhnen und zu lästern, bis er entweder Schöps genug oder großmüthig, Ruhe liebend genug oder durch seine Lage gezwungen ist, stillzuschweigen und gegen dies Unwesen nicht ferner zu reden, diese Anstalten endlich, die vortrefflich den Geist unsers Zeitalters charakterisieren, des Zeitalters, in welchem Neid und Schmähsucht auch der größten Männer nicht schonen, in welchem die unbedeutendsten menschlichen Schwachheiten an Helden, Gelehrten, an den Größten, Besten und Edelsten im Volke hervorgesucht und, mit den schwärzesten Farben ausgemalt, dargestellt werden, um auch dann noch, wenn schon das stille Grab den Wohlthäter ganzer Generationen umschließt, sein Monument zu besudeln, weil die Nachwelt uns keines setzen wird; diese Anstalten, sage ich, fanden an dem Herrn von Leuchtenburg einen eifrigen Vertheidiger und Mitwirker. Er war hierzu in der Schule eines Mannes eingeweihet worden, welcher, da er in der gelehrten und bürgerlichen Welt eine elende Rolle spielte und seines unverträglichen Charakters wegen von niemand geliebt war, seiner isolierten Existenz müde, sich zum Anführer einer Aufklärungs-, Reformations- und Polyhistorsrotte von jungen Purschen gemacht hatte. Herr von Leuchtenburg war auch ein rüstiger Rezensent. Bekanntlich gehört dazu in der heutigen gelehrten Welt nichts weiter als ein gewisser, durch beleidigende, mitunter sehr platte Spottreden gewürzter Kenner-Jargon, worin die aufgeschnappten, oft sehr inkorrekt geschriebenen technischen Ausdrücke ihrer Bedeutung nach zuweilen von dem Kunstrichter selbst nicht verstanden werden. Denn je unwissender und unverschämter ein junger Laffe ist, desto besser taugt er zum Rezensenten. Sein Urtheil wird weder durch Gründe noch durch einen großen Namen unterstützt.

Nicht Ruf, nicht vieljähriges Studium, nicht entschiedenes Verdienst, nicht ein unbescholtener, wohlthätiger Lebenswandel, nicht die Liebe und Achtung der Bessern kann gegen die schamlosen Angriffe solcher Rezensentenbuben sicherstellen; nichts gibt Autorität als Frechheit. Der Gelehrte weiß nicht, ob nicht vielleicht sein sechzehnjähriger Sohn ihm das Urtheil spricht; die Besorger dergleichen, die Gelehrsamkeit so sehr herabwürdigenden, entehrenden periodischen Schriften aber, die mehrentheils selbst nur halbgelehrte Rabulisten sind, nehmen ohne Unterschied und Prüfung alle auch noch so partheiische, giftige, den persönlichen Charakter der Schriftsteller angreifende Rezensionen an, insofern sie nur Geld damit erwerben und solche Männer darin verschont werden, deren spitzige Feder sie entweder fürchten oder mit denen sie, durch ähnliche Grundsätze verbunden, zu der nämlichen öffentlichen oder geheimen Sekte gehören und mit ihnen zu Verlästerung aller Übrigen im Bunde stehenIch wünschte, unsre Herrn Rezensenten möchten über diesen Gegenstand das erste Kapitel im elften Buche der Geschichte des Tom Jones nachlesen und beherzigen. – Doch zu dem Herrn von Leuchtenburg zurück! Er war, mit Einem Worte! ein Universalgenie. Da nun für solche Wesen die Wirthshäuser treffliche Weisheitsschulen und Magazine zu Einsammlung neuer Materialien in ihren Kram sind, so fand sich auch der junge Cavalier fast täglich in dem Gasthofe ein, in welchem Ludwig sein Quartier genommen hatte, und er erfuhr dort, was unserm Helden begegnet war, kurz zuvor, ehe er den Besuch bey seinem Vetter, dem Grafen Storrmann, abstattete. Daß Dieser mit dem Herrn von Seelberg in einiger Verbindung stünde, das konnte er unmöglich wissen. Aus keiner andern Absicht nun als aus solcher, welche dergleichen Leute gewöhnlich zu haben pflegen (nämlich bey dem Mangel an besserm Stoffe und der Wuth, sich immer um Händel zu bekümmern, die sie nichts angehn, aus Drang, sich ihrer eingesammleten Anekdoten zu entledigen), erzählte er Ludwigs ganzes unglückliches Abentheuer in dem untheilnehmendsten, fadesten Tone; allein der Graf hatte nicht so bald erfahren, in welcher Verlegenheit sich sein Freund befände, als er sich entschloß, sogleich Anstalt zu machen, ihn daraus zu erretten. Da auch die Damen bey des Herrn Vetters Erzählung gegenwärtig waren, so konnte Luise die Unruhe nicht verbergen, in welche sie über diese unangenehme Nachricht gerieth. Storrmann beruhigte sie, versprach, sogleich den Arrest aufheben zu lassen, bestand aber darauf, daß sie sämtlich Seelbergen weder sehn wollten, noch daß er erfahren dürfte, woher ihm die Hilfe käme. Luise willigte ungern in den Punkt des Nichtsehens; der Herr Vetter (der den Zusammenhang dieser ganzen Geschichte nicht ergründen konnte, aber doch so viel begriff, daß das Fräulein von Wallenholz, in die er seit einem halben Jahre, da er sie zum erstenmal gesehn, beinahe so verliebt als in sich selbst war, mehr Interesse an dem Schicksale des Herrn von Seelberg nähme, als ihm angenehm seyn könnte), der Herr Vetter, sage ich, wurde ersucht, den Juden herrufen zu lassen, welches er denn auch that, worauf man denselben vermochte, den Arrest wie aus eigener Bewegung aufzuheben, wie wir vorhin gehört haben, wogegen der Graf, im Fall der Schuldner nicht Wort halten sollte, zu bezahlen versprach und darauf nebst seiner Familie abreisete, indes auch Ludwig, ohne sich länger in dem ihm verhaßt gewordenen Leipzig aufzuhalten, seinen Weg nach seiner Vaterstadt antrat und daselbst glücklich ankam.


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