Adolph Freiherr Knigge
Die Verirrungen des Philosophen oder Geschichte Ludwigs von Seelberg
Adolph Freiherr Knigge

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Zehntes Kapitel

Es war den fünfundzwanzigsten September, abends gegen sechs Uhr, als sie in *** ankamen. So sehr auch Seelberg gegen Julien erbittert zu seyn glaubte, so schlug doch sein Herz lauter, als er aus dem Fenster des Gasthofs, wo sie abgetreten waren, das Schloß erblickte, in welchem die geliebte Leichtsinnige wohnte. Er konnte seine Ungeduld, sie zu sehn, nicht verbergen – »Ach! lassen Sie mich!« rief er. »Ich will zu ihr hinauf. Vielleicht ist sie itzt allein in ihrem Zimmer, und wenn sie mich so unvermuthet hereintreten sieht, wird das Andenken jener seligen Augenblicke – Aber wie? wenn ich sie in den Armen eines Andern fände? wenn – Ey nun! dann hätte ja das ganze Possenspiel ein Ende. Also will ich –« – Und nun nahm er Hut und Stock und wollte fort; allein Wasserhorn hielt ihn zurück. »Nicht so hitzig, junger Herr!« sagte Dieser. »Wenn es Ihnen wirklich ein Ernst ist, Juliens Gesinnungen kennenzulernen, so müssen Sie ein Mittel finden, sie da zu beobachten, wo sie gar nicht glaubt, von Ihnen gesehn zu werden, und dies Mittel bietet uns heute ein glückliches Ungefähr dar. Zähmen Sie Ihre Ungeduld noch ein paar Stunden. Es wird heute bey Hof ein Geburtstag gefeiert. Nach dem Abendessen wird ein öffentlicher Maskenball gegeben. Schon hat mir ein Jude Dominos dazu angeboten. Lassen Sie uns in der allerunkenntlichsten Vermummung dahin gehn, das Fräulein aufsuchen und belauschen – und, glauben Sie mir's! Sie werden nicht unbefriedigt fortgehn – Man sieht oft wunderliche Dinge auf Maskaraden.«

Dieser Rath war zu vernünftig, um verworfen zu werden; aber Ludwig zählte die Minuten bis zur Ballzeit. Indes aßen sie vorher am Wirthstische. Dahin nun kamen Leute aus allerley Ständen, auch einige Offiziere, von denen zwey nahe genug bey Seelberg ihre Plätze nahmen, um daß Dieser, auf den sie gar nicht Acht hatten und der ganz in sich selbst gekehrt dasaß, einen Theil ihres Gesprächs verstehn konnte. »Sie ist doch in der That hübsch«, sagte der Eine. »Das fand der Herzog von ** auch«, erwiderte der Andre.

 

Der Erste: »Nun ja! Wie es die Fürsten machen! Ein kleiner Zeitvertreib wird denn so mitgenommen! Das Fräulein von Grätz hat Verstand; aber der Herzog fand sie doch auch zu kokett, um irgend jemand ernstlich zu fesseln; das habe ich aus seinem eigenen Munde gehört.«

Der Andre: »Das glaube ich gern; sie treibt das Ding ein bißchen zu arg. Weiß der Henker, wie dies Landmädchen es angefangen hat, den ausstudierten Stadtweibern so bald die Kunst abzulernen!«

Der Erste: »Ja! sie zu übertreffen, denn, gestehen Sie es doch! Man kann nicht planvoller, gekünstelter seyn, als sie ist. So auf alle Herzen Jagd zu machen! So gar nichts von der edeln Einfalt der Natur behalten zu haben! Jede Miene zu studieren! Zugleich nach Greisen, Männern, Jünglingen und Knaben sein Netz auszuwerfen – Wahrlich! es ekelt einen Mann, der noch irgend Sinn für Wahrheit und Simplizität hat, vor einem solchen Wesen!« –

 

In diesem Tone fuhren die beiden Offiziere fort, und wie erbaulich das Gespräch für Seelberg gewesen, das können meine Leser sich leicht einbilden; auch war er beinahe entschlossen, gar nicht auf den Ball zu kommen; doch besann er sich eines Bessern und ging hin.

Schon war der ganze Saal voll Masken aller Art aus der Stadt, aber die daranstoßenden Zimmer, in welchen sich der Hof zu versammlen pflegte, waren noch verschlossen. Ludwig, in einer gemietheten, schlechten Schornsteinfegersmaske, stand mit seinem Mentor, der ein Zaubererskleid trug, nahe an der Thür und wartete begierig. Endlich wurden die beiden Flügelthüren geöffnet, und der armselige Glanz des Hofs erschien in seiner ganzen Herrlichkeit. Die Herrschaften und das Gefolge, Alle standen noch mit unbedeckten Gesichtern da; Ludwig nützte diesen Augenblick, um mit den Augen Julien zu suchen, fand sie aber nicht sogleich unter der Menge – »Und wer mag denn«, flüsterte Wasserhorn Seelbergen in das Ohr, indem er mit dem Finger in das Zimmer hineindeutete, »wer mag denn wohl jenes geschminkte Gerippe seyn?« – Seelberg sah hin und rief fast laut aus: – »O weh! das ist Julie! Mein Gott! wie sieht Die aus? Sie muß krank seyn« – Wasserhorn konnte sich bey dieser Entdeckung nicht enthalten, boshaft und so hörbar, als es an dem Orte anständiger Weise sich thun ließ, aufzulachen. – »Sie wird wohl«, sprach er und freuete sich gewaltig über den lustigen Einfall, »sie wird wohl die Hofkrankheit haben: unmäßige Begierden, wenig Schlaf und ein unruhiges Gewissen.«

Während nun Ludwig noch von seinem Erstaunen sich nicht erholen konnte, näherte sich Julie der Thür, um eine andre Dame, welche da stand, zu bitten, ihr die Maske vorzubinden. Ehe aber dies geschah, irrte sie mit theils gierigen, theils neidischen Blicken unter der Menge von Masken umher. Es schien, als wollte sie zugleich das Heer ihrer Anbeter für heute mustern und zugleich die Anzahl der Weiber überrechnen, die durch Aufbieten erborgter Reize ihren Eroberungen Grenzen setzen könnten. Seelbergen pochte das Herz gewaltig, als sie ihm so nahe stand; doch nahm er alle seine Fassung zusammen, um sie ruhig zu beobachten, und was er nicht sah, das sah Wasserhorn und ließ es ihn bemerken. Juliens Blicke verriethen Gemüthsunruhe, friedenloses Streben und Sehnen, Unsicherheit des Charakters und verlorne Einfalt des Herzens. Ihre Gesichtszüge und Mienen hatten eben dies Gepräge, welches mitten durch die fingerdicke, hochrothe Schminke hervorschien. Sie war mager geworden, durch die zerstreuete Lebensart und durch die Unruhe ihres Gemüths. Ihre Gebärden waren heftig, und die reizende Lebhaftigkeit, welche ihr ehemals so gut, so natürlich anstand, hatte nun einen Anstrich von Wildheit bekommen, die zurückscheuchte; alles war erkünstelt, gespannt, erzwungen, um die innern Kämpfe zu verbergen, von denen sie unaufhörlich gequält wurde. Ihr Anzug war übertrieben, fantastisch – und kurz! Sie war nicht Julie mehr, und Seelbergen zitterte eine Thräne im Auge. – »Nun! wie gefällt Ihnen das?« fragte Wasserhorn – »Ach! schonen Sie Meiner!« erwiderte Ludwig und mischte sich unter den Haufen, der nun mit dem ganzen Hofe nach dem andern Ende des Saals hindrang, um den Tanz anzufangen.

Indes nun Wasserhorn seinen jungen Herrn ein wenig aus den Augen verloren, nachdem er ihn jedoch vorher nochmals dringend gebeten hatte, sich nicht zu verrathen, ging der alte Taugenichts auf Abentheuer aus. Wir haben vorhin gehört, daß er sich rühmte, von vorigen Zeiten her hier Bekanntschaften zu haben. Die hatte er denn freilich; aber sie waren auch darnach. Jetzt suchte er ein paar derselben auf, neckte sie ein wenig, weil sie ihn in der Verkleidung nicht kannten, und gab sich endlich zu erkennen. Es war eine Witwe von etwa zweyunddreißig Jahren darunter, die noch ziemlich hübsch, dabey ziemlich verbuhlt war und ehemals mit unserm Herrn Wasserhorn, der in der Jugend kein garstiger Mann gewesen, sehr gut gestanden hatte. Auf Diese machte er dann einen Plan, der dahin abzielte, sich ihrer zur Tröstung und Umschaffung seines jungen Herrn zu bedienen. Nach den ersten Bewillkommnungen eröffnete er diesen Plan der menschenfreundlichen Dame, die auch, nachdem sie sich nach dem Alter und nach andern äußern Umständen des Herrn von Seelberg erkundigt hatte, die ihr zugedachte Rolle zu übernehmen versprach.

Hier könnten meine Leser vielleicht erwarten, daß ich Ihnen eine Scene aus Wielands unnachahmlichem Romane zu kopieren wagen, aus der zweyunddreißigjährigen Witwe eine zweite Danae, aus Wasserhorn einen Hippias machen und Ludwig wie Agathon in die Schlingen eines Sophisten und einer Kokette führen wollte. Oder vielleicht fällt Ihnen aus Fieldings Meisterwerke Lady Bellaston ein, welche den ehrlichen Tom Jones auch auf einem Balle, wo er Sophien suchte, in ihr Garn lockte; aber wahrlich! außer manchen sehr großen Verschiedenheiten unter den Charaktern meiner Personen und jenen hält mich von solchen gar groben, wissentlichen Nachahmungen sowohl eigener Stolz, der mich verhindert, mit fremden Federn mich zu schmücken, als auch die Verehrung ab, die ich gegen so große Schriftsteller fühle und die mir nicht erlaubt, sie zu plündern. Als ein treuer Geschichtsschreiber muß ich indessen die Begebenheiten erzählen, wie sie vorgefallen sind, und es ist meine Schuld nicht, wenn diese Begebenheiten mit andern Ähnlichkeit haben – Doch weiter!

Nachdem Wasserhorn und Madam Brinkler (so hieß die hübsche Witwe) die nöthigen Verabredungen genommen hatten, wurde Ludwig aufgesucht. Man fand ihn wie eingewurzelt dastehn, indem er Julien in unsittsamer Wildheit mit den Jünglingen durch den Saal walzen sah. Der Hofmeister zog ihn auf die Seite, um ihn seiner alten Bekanntin vorzustellen, und Diese fing ein freundliches Gespräch mit ihm an, welches Ludwig, so böser Laune er auch war, dennoch mit Höflichkeit beantworten mußte. Man setzte sich auf eine Bank; man sprach von diesem und jenem; man machte Anmerkungen über Tänzer und Tänzerinnen, erzählte Anekdoten von verschiedenen Personen aus der Stadt, und Madam Brinkler wußte zu rechter Zeit ein Wörtchen von Spott gegen das Fräulein von Grätz mit einfließen zu lassen. Während dieser Unterhaltung, welche durch den Witz der hübschen Witwe gewürzt wurde, fiel es Dieser ein, unsre beiden Reisenden zu bitten, sich ihr doch außer dem Saale auch ohne Maske zu zeigen. »Da Sie in Ihrer beschwerlichen ganzen Maske nicht tanzen können, so werden Sie ja auch wohl nicht böse darüber, wenn ich Sie einige Augenblicke dem Lärm und dem Staube entziehe«, sprach sie, griff dem jungen Seelberg unter den Arm und ging mit ihm und seinem Hofmeister in ein Nebenzimmer.

Mit der Erzählung der feinen Künste, durch welche Madam Brinkler hier Seelbergs Aufmerksamkeit auf sich zu lenken suchte, will ich meine Leser nicht aufhalten. Also nur so viel! Man demaskierte sich, und beide Theile schienen nicht unzufrieden mit der Gestalt zu seyn, die sie aneinander wahrnahmen. Ludwig war ungefähr zwanzig Jahre alt und hatte einen natürlichen Hang zu dem schönen Geschlechte; Madam Brinkler war in allen Weiberkünsten erfahren und wußte das Geheimnis seines Herzens aus Wasserhorns Munde. Dépit amoureux wirkte mächtig in ihm, zu der Buhlerin Vortheile; sie wußte wohl, daß bey der Stimmung, in welcher er war, und bey der Meinung, die er jetzt von dem Frauenzimmer hatte, der Weg, nach seiner Achtung zu streben, der unsicherste und weitläufigste gewesen seyn würde. Sie bestürmte also seine Sinne, und da er viel Temperament hatte, so gelung ihr das bald. Der Hofmeister ließ Punsch hergeben. Eine Freundin unsrer schönen Witwe, die mit ihr von gleichem Schlage war, vermehrte die Gesellschaft, und da dies nun eine partie quarrée ausmachte und Herr Wasserhorn viel mit der Freundin redete, so hatte Madam Brinkler Gelegenheit genug, Ludwig allein zu bestürmen und ihn von Zeit zu Zeit, indem sie ihm sein Glas mit Punsch anfüllte (das er dann auch in der Verzweiflung öftrer austrank, als heilsam war), vertraulich zu fragen und ihm dabey als eine mitleidige Freundin die Hand zu ergreifen: »Aber was fehlt Ihnen denn? Soll ich es errathen? Nicht wahr? eine kleine Herzensangelegenheit?« u.s.w. Niemand ist leichter zu bewegen, sein Herz, wenn es voll Verdrusses und Mißmuthes ist, auszuschütten und sein Leid einem Andern zu klagen oder wenigstens sich so bloßzustellen, daß man nicht weiter zu fragen braucht, als ein beleidigter Liebhaber. Also hatte auch Madam Brinkler unserm gekränkten Jünglinge bald sein vermeintliches Geheimnis abgelockt. Daß die Art, wie sie ihn darüber tröstete, nur dazu diente, mehr Öl in das Feuer zu gießen, Julien in seinen Augen immer tiefer herabzusetzen, jeden Funken von unschuldiger Liebe und Ehrerbietung gegen das weibliche Geschlecht in seinem Herzen auszulöschen, dagegen eine noch nie so lebhaft gefühlte Flamme lüstiger Begierden in ihm zu entzünden und ihn zu verzweiflungsvoller, leichtsinniger Hingebung vorzubereiten, das wird man mir wohl ohne weitere Zergliederung glauben. Ich könnte zwar diese Scene mit lebhafteren Farben schildern, aber ich male nicht gern wollüstige Gemälde aus – Du aber, Jüngling! der Du dies liesest, folge meinem Rathe, und wenn Du geliebt und geglaubt hast, geliebt zu werden, und ein kleines oder großes Mißverständnis, Gewißheit oder Argwohn weckt Dich nun plötzlich auf aus dem süßen Traume der Hoffnung und Zuversicht zu der Treue Deines Mädchens oder Deines Freundes, so sey großmüthig und verschließe den Kummer in Deinem Herzen; oder ist Deine Seele gepreßt und seufzt nach Erleichterung, so vertraue Dich nur einem geprüften, treuen Biedermanne! Überhaupt, so wie jede Offenherzigkeit gegen schlechte Menschen früh oder spät gemißbraucht wird und Reue wirkt, so soll sich billig der edle Mann in einem Augenblicke von Zorn und Rachsucht nie so weit vergessen, wenn zwischen ihm und einer andern guten Seele kleine Mißhelligkeiten entstanden sind, einen Menschen dabey zum Vertraueten seines Zwistes zu machen, dem er bey kalter Vernunft seine Hochachtung versagen muß.

Durch mancherley Künste kam dann unsre schöne Witwe dahin, Seelbergen in eine solche verzweiflungsvoll-lustige, Delikatesse und Gewissen übertäubende Laune zu setzen und zugleich sein Blut so zu entflammen, daß er, den Arm um die Buhlerin geschlungen, Julien mit hohnlächelndem Munde lästerte. Um ihr Werk vollkommen zu machen, ließ das Weib einen Mannsdomino holen; Ludwig mußte seine beschwerlichen Maskenkleider ausziehn, mit ihr in den Saal gehn und sich unter die Tanzenden mischen. Julie erkannte ihn beym ersten Anblicke unter der halben Maske, auch gab er sich Mühe, ihr so nahe unter die Augen zu treten, daß es nicht möglich war, von ihr für einen Andern angesehn zu werden. Madam Brinkler stand in sehr schlechtem Rufe in der Stadt; die freche Vertraulichkeit, mit welcher dies Weib nun an Seelbergs Seite hing und mit ihm durch den Saal flog, eine Vertraulichkeit, die Dieser in der Betäubung, darin er war, mit Vorsatz noch auffallender zu machen suchte, empörte und demüthigte Juliens Stolz einen Augenblick. Doch nehmen in solchen Fällen Frauenzimmer leichter ihre Parthie als Männer und wissen, besonders wenn sie ein wenig kokett sind, das Unangenehme solcher Scenen ganz auf den andern Theil fallen zu machen. Nachdem daher das Fräulein lange neben ihrem ehemaligen Geliebten herumgetanzt und im Englischen viel Ketten und dergleichen mit ihm gemacht hatte, ging sie endlich einmal auf ihn zu und redete ihn mit möglichst kalter Höflichkeit an: »Guten Abend, Herr von Seelberg!« sagte sie. »Nun! das ist ja brav, daß Sie auch einmal in diese Gegend kommen. Sind Sie schon lange hier? Ich habe Sie gleich erkannt; das Gesicht kam mir so vor, als wenn ich es mehr gesehn hätte, aber ich konnte mich sogleich nicht besinnen. Wie befinden Sie Sich denn? Wohl? Nun! das ist mir lieb. Sie bleiben doch morgen noch hier? Wo nicht, so empfehle ich mich Ihnen, wenn ich Sie nicht mehr sehn sollte. Aber Sie werden doch wenigstens in der Stadt ein paar Tage zubringen, da Sie, wie ich sehe, hier Bekanntschaften haben. Bey Hofe würden Sie Langeweile finden, da Sie niemand von den Herrn kennen; sonst wollte ich Ihnen rathen, Sich präsentieren zu lassen. Aber ich muß fort. Leben Sie wohl, Herr von Seelberg! Machen Sie Sich recht lustig!« Und damit hüpfte sie weiter, ohne seine Antworten, wovon er die ersten Sylben herstotterte, zu erwarten, und affektierte den ganzen Abend durch, fröhlicher und lebhafter zu seyn als jemals, ohne jedoch ihn wieder eines Blicks zu würdigen.

Vielleicht hat man nicht Unrecht, dem männlichen Geschlechte da, wo es auf tiefeindringenden Blick, auf emsiges Studium, auf richtige Beurtheilungskraft, auf nüchterne, kalte Vernunft, auf abwiegende Überlegung, auf feste Beharrlichkeit, auf Fleiß, Forschen und Grübeln ankömmt, den Vorzug vor dem weiblichen einzuräumen, und ich denke, das ist auch der Ordnung der Natur und seiner Bestimmung gemäß; aber in Witz, Feinheit, Imagination und vorzüglich in Gegenwart des Geistes und schneller Entschließung nach Erfordernis der Zeit und Gelegenheit lassen uns die Weiber gewiß weit hinter sich. Auch erfuhr dies Ludwig bey Juliens Anrede. Vorher hatte er sich auf hunderterley beißende Dinge vorbereitet, die er ihr antworten wollte, wenn sie ihm dies oder jenes sagen würde; als sie aber gegen seine Erwartung einen Ton anstimmte, auf welchen er nicht gefaßt war, verstummte er und war nicht fähig, ein zweckmäßiges Wort hervorzubringen; allein kaum hatte sie ihn verlassen, als ihm wieder die treffendsten Antworten einfielen, durch welche er ihren Stolz hätte demüthigen und ihr Unrecht auf eine höhnische Art ihr vorwerfen können. Freilich war es nun zu spät dazu, doch erwachte eben deswegen um desto eifriger seine Rachsucht. Ein gutgeartetes Gemüth sollte, wenn es Zeit hat, einer empfangenen Beleidigung nachzusinnen, nie ein Gefühl von Rachgier hegen; denn ungerechnet, daß durch die Rache das Übel nicht ungeschehen gemacht wird, so benimmt sie uns auch eine sehr angenehme Empfindung, nämlich die Empfindung des Bewußtseyns, unschuldig gelitten zu haben, mehr Gutes zu verdienen, als uns zu Theil geworden. Das Unrecht, so uns Andre zufügen, kann unsern Werth ja nicht verringern; es erhebt ihn vielmehr, statt daß die Rache uns mit unserm Feinde und Verfolger wenigstens gleiche Rechnung machen läßt, da wir hingegen die ganze Schuld auf seinem Haupte ruhen lassen könnten. Allein man rächt sich auch gewöhnlich nicht aus Schmerz über das gefühlte Unrecht, sondern zur Entschädigung unsers falschen Stolzes, der gekränkt ist dadurch, daß Andre einen raschen Schritt haben gegen ihn wagen dürfen, den er nicht erwidern konnte. Übrigens fiel auch bey Seelbergs Betragen der Nachtheil seiner Rache, so wie mehrentheils in solchen Fällen, auf ihn selbst zurück. Er warf sich, um ein Mädchen zu demüthigen, die ihn einst ehrlich geliebt und sich vielleicht am Hofe, durch Eitelkeit geblendet, auf kurze Zeit vergessen hatte, einer frechen Buhlerin in die Arme und betrat zum erstenmal in seinem Leben den Weg des Lasters. Wer verlor mehr dabey als er?

Als nämlich sein Gespräch mit Julien vorbey war, kehrte er voll Zorn und Verwirrung zu Madam Brinkler zurück und klagte derselben sein Leid. Sie trug alles dazu bey, ihn noch mehr zu erbittern, und Beide handelten nun so unedel, Julien auf dem Balle zu verfolgen, ihrer zu spotten und laut über sie zu lachen, sooft sie mit irgendeinem jungen Herrn ein wenig vertrauet that. Dadurch hofften sie dieselbe zu demüthigen; allein sie betrogen sich, denn anfangs schien das Fräulein nicht einmal zu merken, daß ihr das galt, und als sie es endlich zu arg trieben, erweckte es bey ihr kein anders Gefühl, als daß sie anfing, Seelbergen zu verachten und sich zu überzeugen, sie habe Recht gehabt, einen Menschen zu vergessen, der so handeln könne. Zuletzt wurden Ludwig und seine würdige Gesellschafterin des Spiels müde; sie gingen also zurück in das Nebenzimmer, in welchem sie Wasserhorn und eine kleine Gesellschaft, die Seiner würdig war, antrafen. Doch ich ziehe einen Vorhang vor die Scenen, welche den Rest der Nacht ausfüllten; Ludwig, sein Hofmeister und die gute Freundin, von welcher ich vorhin geredet habe, begleiteten Madam Brinkler nach Hause und blieben bis an den Morgen dort; der Plan, bey Hofe sich vorstellen zu lassen, wurde, wie sich's versteht, aufgegeben; dennoch aber blieben die Herrn in *** noch acht Tage lang, die nicht besser als der erste verlebt wurden, und Ludwig kehrte an Leib und Seele verschlimmert nach Göttingen zurück – Das war seines würdigen Führers, des Herrn Wasserhorn Werk! –


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