Adolph Freiherr Knigge
Die Verirrungen des Philosophen oder Geschichte Ludwigs von Seelberg
Adolph Freiherr Knigge

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Sechstes Kapitel

Der Kommandant der Festung, in welcher Seelberg saß, war kein harter, strenger Mann. Staatsgefangene von höherem Range pflegen überhaupt mit einiger Schonung und Achtsamkeit behandelt zu werden, wenn nicht ausdrücklich das Gegentheil befohlen ist, aber der alte Obrist hatte noch obendrein einen sehr milden und gütigen Charakter. Unser Freund durfte daher Bücher kommen lassen und lesen, was er wollte, auch schreiben, nur keine Briefe fortschicken, selbst an seine Frau nicht, denn das war ihm höhern Orts untersagt worden. Er durfte auch im Bezirke der Wälle, begleitet von einem Unteroffiziere, frey umhergehn. Seine Tafel wurde sehr gut versehen. Seine Zimmer hatten die schönste Aussicht hin nach der weiten See, und von der andern Seite erblickte das Auge eine herrliche Landschaft, bunte Wiesen voll hüpfenden Viehes, lachende Dörfer, reiche Felder und dicke Waldungen. Des Kommandanten Tochter liebte Musik; sie veranstaltete oft kleine Konzerte, und unser Gefangener durfte denselben beiwohnen. Sein Vermögen hatte man ihm nicht nur gelassen, sondern auch eine ansehnliche Summe zu seinem Unterhalte ausgesetzt; also litt weder er noch seine Gattin Mangel. Gesund waren sie Beide. Es war nicht zu befürchten, daß die Gefangenschaft lange dauern, sondern vielmehr wahrscheinlich, daß man ihn nach ein paar Jahren loslassen und ihn bitten würde, aus dem Königreiche zu gehn. Im Publiko war die Ursache seines Sturzes nicht bekannt worden, nichts seiner Ehre Nachtheiliges ausgebreitet, und man war schon, besonders seit der vorigen Regierung, ziemlich daran gewöhnt, Günstlinge, verdienter und unverdienter Weise, steigen, fallen, zu hohen Würden erhoben und in das Gefängnis wandern zu sehn, so daß also durch solche Glücksrevolutionen der äußere Ruf eines Menschen nicht sonderlich litt. Endlich hatte Seelberg sich doch auch keine eigentliche Niederträchtigkeiten, keine Bedrückungen der Unschuld, keine Plünderung der Armen vorzuwerfen; folglich war im Ganzen sein innerer und äußerer Zustand so, daß mit ein bißchen echter Philosophie an der Hand der Zeit, die jedem Übel die Bitterkeit benimmt, seine gegenwärtige Lage nicht nur erträglich werden, sondern sehr zu seiner moralischen Besserung hätte dienen können. Wie fähig wäre nicht der majestätische Anblick der schönen Natur gewesen, ein Frieden suchendes Gemüth zu erquicken, zu erheitern und es in eine Stimmung zu versetzen, in welcher es sich, weit emporgehoben über die kleinen elenden Weltverdrießlichkeiten und Katzbalgereien um das, was der blinde Haufen Macht, Ansehn und Ehre nennt, zu seinem Schöpfer hinaufgeschwungen und Ruhe und Heiterkeit mitten zwischen den Mauern eines Kerkers gefunden hätte! Wer kann dem Geiste Fesseln anlegen, der frey seyn und auf dem Wege nach dem bessern Vaterlande durch höhere Ahnungen und den Vorschmack dessen, was Unsrer wartet, die kleinen Unannehmlichkeiten einer kurzen Reise sich versüßen will? – Und was ist fähiger, uns in diese glückliche Stimmung zu versetzen, als das stille Anschauen der herrlichen, holden Schöpfung? – Betrachten wir aber Seelbergen, wie er war! Die Schönheiten der Natur machten keinen Eindruck auf sein von aller edeln Simplizität so weit entferntes Herz; nur das Gekünstelte, Zusammengesetzte und Übertriebene konnte Sensation in ihm erwecken. Er hatte keinen Sinn mehr für das Einfache, fand an nichts Geschmack als an dem Wirken, Treiben und Jagen der Menschen untereinander und an der Entwicklung der feinen Falten des Herzens; allein auch von dieser Seite war er durch Darstellung schwer zu befriedigen. Er ließ sich einen Haufen Bücher holen, die ihm wirklich noch neu waren, da seine ernsthaften und überhäuften Geschäfte seit einigen Jahren ihm nicht erlaubt hatten, viel zu lesen; aber diese literarischen Produkte lieferten ihm dennoch keine wahrhafte Seelenspeise. Geschichtsbücher und Erzählungen wirklicher oder erdichteter Begebenheiten und Schilderungen von Charakteren hatten nicht Interesse genug für ihn, insofern die geschilderten Personen nicht Menschen von ganz besondrer Schöpfung waren, auch machten wenig philosophische Werke über die Seelenkunde sowie die Schriften, deren Gegenstand die Erforschung der leidenschaftlichen Gänge und Wirkungen war, ihr Glück in seinen Augen. Er hatte zu früh Menschenkenntnis zu seinem Studium gemacht und glaubte nun, in diesem Fache nichts Neues mehr hören zu können, glaubte die Alltagsmenschen (und seiner Meinung nach gab es wenig andre in der Welt) so auswendig gelernt zu haben, daß nichts mehr von allem, so von denselben zu sagen war, ihn überraschte. Moralische Schriften konnten ihm noch weniger Wonne gewähren, da er sich systematisch und praktisch überzeugt hielt, daß die sittlichen Vorschriften bis itzt noch nichts Gutes in der Welt gestiftet sowie nichts Böses verhindert hätten, sondern daß Instinkt und Eigennutz die einzigen Triebfedern der menschlichen Handlungen wären. Hätte er bey dieser unglücklichen Stimmung sich ernstlich auf eine positive Wissenschaft oder Kunst gelegt, wie er dazu Muße genug hatte, hätte er irgendeinen Zweig der mathematischen Wissenschaften oder irgendein Handwerk gründlich zu erlernen sich bestrebt, so würde auch diese Beschäftigung ihm wohlgethan und seinem Herzen nach und nach Ruhe verschafft haben; allein die unglückliche Polyhistorey, das rastlose Lesen der Journale, so er ehemals getrieben, der Journale, in welchen mit encyclopädischer Windbeuteley in allen Feldern der Gelehrsamkeit und Kunst fouragiert und jedem kuriosen Liebhaber ein Brocken hingeworfen wird, mit welchem er gelegentlich prahlen kann (da doch heut zu Tage jeder Laffe und jedes eitle Weib sich schämt zu bekennen, es sey etwas im Himmel und auf Erden, wovon sie nichts wissen, worüber sie nicht ein unsinniges Urtheil fällen dürften), diese Polyhistorey hatte ihm alle Lust, mit den nöthigen Details zu Erlernung einer Wissenschaft sich abzugeben, und allen gelehrten und andern Kenntnissen in seinen Augen den Reiz der Neuheit benommen. Musik hatte er von jeher außerordentlich geliebt, doch war auch in dieser schönen Kunst sein Geschmack verzärtelt. Sein Ohr war am Hofe durch große vollstimmige harmonische Ausbrüche erschüttert oder durch äußerst luxuriöse Melodien gekitzelt worden. Gewöhnt, mehr auf die Kunst der Zusammensetzung und auf die zauberische Fertigkeit des Spielers als auf die wahren Schönheiten des einfachen Gesangs zu merken, hatte ein gefälliges, kleines, naives Lied, eine Melodie voll keuscher, unschuldiger Würde und prunkloser Erhabenheit keinen Reiz für ihn, und andre Musik konnte ihm das gute Mädchen, die Tochter des Kommandanten, nicht verschaffen. Da ihm also jedes Mittel, seine Aufmerksamkeit auf eine nützliche und unschädliche Art zu beschäftigen und von unruhigen, nagenden Gedanken abzuziehn, fehlschlug, so war er unaufhörlich seinen eigenen in ihm arbeitenden Leidenschaften preisgegeben. Der gekränkte Ehrgeiz, der nun auf einmal die großen Projekte alle (welche freilich auf einen sehr unbestimmten letzten Zweck abzielten) vor sich zertrümmert sah, die beschämte Eitelkeit, die sich vorstellte, wie nun Neider und Feinde sich an seinem Unglücke weiden und wie die Gespräche des Pöbels in den Bierhäusern seinen Fall zum Gegenstand haben würden – Dies alles brachte ihn oft der Verzweiflung nahe. Und wo sollte er, bey einem einsamen, müßigen, zerstreuungslosen Leben, Ersatz gegen die heftigen Angriffe dieser Leidenschaften finden? In den Armen der Religion? Wir wissen, wie er in diesem Punkte gesinnt war; und doch schien dies der einzige Hafen, in welchem er hätte Schutz suchen sollen gegen einen Feind, der mit ihm aufstand und mit ihm zu Bette ging. Auch war die Religion die letzte Zuflucht, nach welcher er endlich seine Hände ausstreckte. Aber welch eine Religion? Nicht jene göttliche Tochter des Himmels, die, was unsre schwache Vernunft nur ahnen darf, auf die tröstlichste Weise bestätigt und bekräftigt, die, wenn uns sonst nur Temperament oder berauschender Enthusiasmus zur Tugend leiten, uns kräftigere Veranlassung gibt, das Gute zu thun, auch da zu thun, wo es Überwindung und Kampf gegen die Sinnlichkeit kostet, und die uns dann den Preis dieses Kampfes zusichert! – nein! zu einer solchen, so froh, so seligmachenden Religion war sein Herz noch nicht vorbereitet. Vielmehr war das, was er statt dessen ergriff, ein betrügerisches Afterbild jener göttlichen Weisheit.

Ich halte nicht viel von den Bekehrungen, die so schleunig vor sich gehn in der Zeit der Noth und der Langenweile, in Bedrängnissen, im Überdrusse, aus Ekel vor den Welthändeln, aus Feindseligkeit gegen die Menschen, die uns gekränkt haben, wenn man dem lieben Gott in die Arme rennen will, weil uns die irdischen Arme von sich stoßen. Solche Bekehrungen sind insgemein heuchlerisch oder fantastisch und nicht von Dauer. Auch bey Seelberg trat der letztere Fall ein – Er wurde ein Andächtler, und das ging folgendermaßen zu:

In der Stadt, neben welcher die Festung lag, in der Seelberg eingesperrt war, wohnte ein Pfarrer, der in dem Rufe von großer Gottesfurcht und zugleich von tiefen philosophischen Kenntnissen stand. Eines Tages traf unser Gefangener denselben bey dem Kommandanten an, und da er ihm gelegentlich erzählte, wie es ihm an neuen Büchern fehle und daß so wenige von den literarischen Produkten, welche man ihm geschickt habe, seinem Geiste Nahrung gäben, versprach der gute Geistliche, ihm Schriften zu schicken, die gewiß seinen Wunsch erfüllen würden, insofern er irgend empfänglich für höhere Gegenstände wäre.

Wenige Menschen mögen gern, daß jemand, er sey auch, wer er wolle, von ihnen glaube, sie haben keinen Sinn für das, was der Andre Größe nennt, und wäre diese Größe auch im Grunde nur Unsinn; Seelberg war also schon, ehe er die Bücher bekam, fest entschlossen, etwas Erhabenes darin zu finden. Am folgenden Morgen erhielt er dann ein Paket, in welchem er mytho-hermetisch-cabalistisch-magisch-theosophisch-alchymische Schriften fand.

Nun wissen wir aus alten ZeitenAus dem fünften Kapitel des ersten Theils. , daß unser Held gleich nach seiner Aufnahme in den Freimaurerorden sich auch mit diesen sogenannten höhern Wissenschaften ein wenig abgegeben hatte; allein sein zu lebhaftes Temperament, seine wirklich gern bey hellem Lichte sehende Vernunft und so mancherley Zerstreuungen, in welche er verwickelt wurde, hatten ihm nicht erlaubt, sich mit ganzem Ernst solchen mystischen Studien zu widmen. Jetzt, da wirkliche Scenen in der Welt für ihn so wenig Reiz mehr hatten, jetzt war seine Fantasie leicht spazierenzuführen in außerirdischen Regionen.

Falsche religiöse Schwärmerey (denn ich hoffe, man wird nicht so unbillig seyn zu glauben, ich rede von echtem edeln, religiösen Enthusiasmus) ist für schiefe Köpfe und für verirrte Herzen ein köstliches Opiat. Ein Mann mit reinem, friedevollen Gewissen und einem hellen Kopfe verlangt keinen Zuwachs von ätherischer Glückseligkeit; er fühlt keinen Drang, über die Grenzen irdischer Erkenntnisse hinaus mit höheren Wesen auf eine andere Art in engere Verbindung zu kommen als durch treue, unschuldsvolle, kindliche Erfüllung seiner Pflichten und durch ein herzliches, kunstloses Gebet in seligen und bedrängten Augenblicken. Er verlangt keinen weitern Trost in Widerwärtigkeiten als den: seine Hände nicht mit Laster befleckt zu haben, bedarf keines andern alchymischen Prozesses als der Vorschrift: »handle weise, so wirst Du glücklich seyn!« Er mag keine andre Universalarzeney kennen als die goldene Mäßigkeit. Aber welch eine bequeme Sache für den, welcher auf dieser Erde durch unkluge Streiche unter den Menschen, mit denen zu leben er bestimmt ist, sich allerley Verdruß zugezogen hat, sich loszureißen und in eine andre Welt in unsichtbare Gesellschaft sich hineinzuträumen, in eine Welt, in welcher wir uns unsre eigenen Gesetze schaffen und niemand Rechenschaft geben dürfen, ob wir dort unsern Platz ausfüllen, ja! wenn wir dann Mittel finden, eben aus der Einwirkung dieser unsichtbaren Welt in die sichtbare Entschuldigung für unsre Lümmeleien herzunehmen, das Böse, so wir gethan haben oder noch thun wollen, auf die Rechnung irgendeines bösen Geistes zu schreiben und uns zu überzeugen, daß unser ätherisches Wesen mit Gott und Engeln in Verbindung stehen könne, wenn auch indes unser gröberer Theil allerley böse Schwanke treibt und sich in Schlamm und Unzucht herumwälzt! Welch ein herrlicher Vortheil für den, welcher nichts Gründliches gelernt hat, sich mit einer Wissenschaft abgeben zu können, deren Grundsätze in so rätselhaften Worten vorgetragen sind, daß man, je weniger man davon versteht, um desto mehr Weisheit darin finden darf, daß der ärgste Pfuscher mit diesem Jargon sich dreist dem gelehrtesten Manne gegenüberstellen, von diesem nicht übersehen werden und daß er Jeden einen Ignoranten schimpfen kann, der keinen Zusammenhang, keinen gesunden Gedanken in solchen Schriften zu finden meint!

In den ersten Tagen empfand Ludwigs von Seelberg Geist bey Lesung dieser noch obendrein in äußerst barbarischem Style geschriebenen Bücher einen gewissen Ekel, der körperlichen Empfindung des Würgens oder des Triebes zum Erbrechen nicht unähnlich, wovon der Magen ergriffen wird, wenn man ihm eine unappetitliche Arzeney eingeschüttet hat; allein, wie sich nach und nach der Geschmack an alles gewöhnt, ja zuletzt sogar Verlangen nach dem empfindet, wogegen er sonst den ärgsten Widerwillen fühlte, so ging es auch Seelbergen mit diesen Schriften. Er las sie und las sie wieder, glaubte zuweilen einen Strahl von Licht zu erblicken, der aber nur zu bald wieder, wie ein Irrlicht, über dem Sumpfe des Unsinns verschwand. Kam aber der Pfarrer und sprach mit Wärme und Enthusiasmus von der Erhabenheit dieser herrlichen Wahrheiten, die den Schlüssel zu der ganzen Natur enthielten, so schämte sich Seelberg zu gestehen, er finde diesen Schlüssel nicht darin; er lobte also mit, suchte, wenn der Pfarrer wieder fort war, noch einmal und fand endlich – daß es nicht schwer ist, seine Fantasie so zu schrauben, daß man damit wie mit einer Zange Bilder aus der Luft auffangen und neben sich hinstellen kann, die den wirklichen Dingen so ähnlich sehen als ein Windey einem vollen Eye. Kaum vergingen zwey Monate, so war Seelberg vollkommen in die Mystik eingeweihet, fühlte in sich öftere Einwirkungen guter und böser Geister, erbat und erhielt die Erlaubnis, in der Festung ein kleines Laboratorium anlegen zu dürfen, fing an, mit seinem Pastor zu kochen, zu braten, zu destillieren, zu schmelzen, zu extrahieren, zu fixieren, zu sublimieren, an dem Stein der Weisen und an der allgemeinen Arzeney zu arbeiten, lag halbe Tage hindurch auf den Knien und wartete auf das Glück, einmal den Himmel offen oder eine andre übernatürliche Erscheinung zu sehn, riß sich los von allen irdischen Dingen, verachtete Welthändel, Ehre, Ruhm, Gelehrsamkeit, Freundschaft, Verwandtschaft, Liebe und vergaß, daß er von seinem theuren Weibe getrennt, daß er ein Gefangener war.

Wem nun dieser schnelle Übergang von Freigeisterey und Unglauben zu mytho-hermetischer Schwärmerey und die plötzliche Verwandlung eines unruhigen, äußerst lebhaften, thätigen Mannes voll ehrgeiziger Pläne in einen spekulativen Schiefkopf unwahrscheinlich vorkömmt, der hat die Menschen, die um ihn leben, besonders in den letztverflossenen zehn Jahren nicht beobachtet, hat nie Acht darauf gehabt, wie nahe die äußersten Grenzen der geistigen Verirrungen aneinanderstoßen; der ist endlich mir nicht aufmerksam bey der Zergliederung der Anlagen unsers Helden gefolgt, deren stufenweise Entwicklung ich doch gezeigt habe, gezeigt habe, wie von seiner ersten Jugend an seine Mutter warmes Gefühl von Gottesverehrung in ihm erweckte; wie dies Gefühl hernach einschlummerte, als er anfing über Religion zu vernünfteln; wie er hernach aus einem Raisonneur ein Zweifler und aus einem Zweifler ein Ungläubiger wurde; wie groß seine Einbildung von sich selbst und von seiner Fähigkeit, alles zu ergründen, war, auch in solchen Fächern, denen er nie ernstliche Anstrengungen gewidmet hatte, welcher Hang zum Sonderbaren, Ausgezeichneten und Bizarren in ihm wohnte; welche Ideen die Freimauerey in ihm rege gemacht hatte; wie unglücklich er beinahe in allen wirklichen irdischen Verhältnissen gewesen und wie wenig er geneigt war, sich selbst die Schuld davon beizumessen; wie seine Gefühle, seine Leidenschaften und seine Begierden in immerwährendem Streite mit seinen Grundsätzen standen und wie willkommen also einem solchen Manne ein System seyn mußte, in welchem sich alle nur mögliche theoretische und praktische Widersprüche auf die beruhigendste Art vereinigen ließen – Dem sey nun, wie ihm wolle, so gewährte doch diese Schwärmerey Seelbergen eine gewisse innere Ruhe, die ihn die ganze Zeit seiner Gefangenschaft hindurch nicht verließ und ihn gegen den Verlust seiner Freiheit beinahe ganz unempfindlich machte.

Allein er erlangte auch diese bürgerliche Freiheit früher wieder, als er hätte hoffen dürfen. Kaum waren sechs Monate nach seiner Verhaftnehmung verstrichen, als der König in einer Aufwallung von Großmuth oder aus einem Überreste von Zuneigung zu Seelbergen, oder vielleicht auch, weil er glaubte, das Opfer, so er den fremden Gesandten und deren Monarchen gebracht hätte, sey vollkommen genug und seines ehemaligen Günstlings Verbrechen hätten doch im Grunde nur die Ausbreitung der Macht seines Herrn zum Endzwecke gehabt, ganz von freien Stücken und ohne jemand von seinen Rathgebern, die es vermuthlich hintertrieben haben würden, Nachricht davon zu geben, den Befehl ertheilte: Man solle Seelbergen loslassen und ihm andeuten, er könne, ohne jedoch vorher bey Hofe zu erscheinen, sich auf seine außer Landes gelegene Güter oder sonst an einen beliebigen Ort verfügen, woselbst er sich dann einer ansehnlichen Pension zu erfreuen haben sollte.

War unsers Freundes Aufmerksamkeit durch Beschäftigung mit spekulativen , fantastischen Gegenständen von der traurigen Betrachtung seiner gegenwärtigen wirklichen Lage abgeleitet worden, so hatte sie ihn doch nicht unempfindlich für den Genuß des Glücks gemacht, so ihm nun durch Erlangung seiner Freiheit zu Theil wurde; vielmehr gerieth er in eine Art von Entzückung, als der Kommandant ihm die frohe Nachricht ankündigte: »Es ist Gottes Finger gewesen!« rief er aus. »Meine Gefangenschaft hat mir der allmächtige Baumeister der Welt nicht umsonst zugeschickt; es war Ruf zu höherer Beschäftigung. Jetzt soll auch der Rest meines Lebens diesen edlen, erhabenen Gegenständen gewidmet seyn.« Zärtlich nahm er Abschied von seinem geistlichen Lehrer in hermetischer Kunst und fühlte zum Voraus die Wonne, mit seiner guten Luise ein wahrhaftig patriarchalisches Leben anzufangen. Er wunderte sich, daß sie ihm nicht geschrieben habe, wozu ihr doch jetzt die Erlaubnis nicht würde seyn versagt worden. Man bedeutete ihn aber, sie wisse nichts von der günstigen Veränderung seines Schicksals: »Desto besser!« sagte er. »So will ich die redliche Frau angenehm überraschen«. Er fuhr noch an dem nämlichen Tage ab, kam um Mitternacht in der Residenz an, eilte in sein Hotel; die Thüren waren noch nicht verschlossen; er schlich sich durch einige Zimmer, die zu Luisens Appartement gehörten, ohne von jemand bemerkt zu werden, bis in ihre Kammer, und – o welche Freude! – Er fand das liebe Weib schlafend – in Leuchtenburgs Armen.


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