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Unser vielwissender, artiger Herr Krohnenberger hörte dies alles mit einem Beifall gebenden, holden Lächeln an, welches im Grunde sonst nichts sagen wollte als: »Ich hätte nicht gedacht, daß mein guter alter Vetter, der Rektor, sich so geschmackvoll ausdrücken und mit so viel Feinheit beobachten könnte.« Ihm gefiel vorzüglich das Gleichnis von dem Bienenschwarm, denn er sah nur auf den ästhetischen Stoff in dieser Rede (so wie der Poet im schwarzen ManneEinem Schauspiele von Gotters Meisterhand, nach dem Englischen gearbeitet. bey der Ohnmacht einer würdigen, von Schmerz zu Boden gestürzten Frau nichts als die Schönheit der Situation sieht, über welche er wonnevoll in die Hände klopft und bravo! bravo! ausruft, indes er theilnehmend zu Hilfe eilen sollte). Daß diese Rede sehr wichtige, seiner ganzen Aufmerksamkeit werthe Bemerkungen enthielt, die bey der Bildung lebhafter Jünglinge von reizbarer Fantasie mehr oder weniger anwendbar sind, das fiel ihm ebensowenig ein als vielleicht manchem meiner Leser, dem statt dessen ein paar Anekdötchen und Abentheuer lieber gewesen wären als diese lange Charakteristik. »Ich danke Ihnen, mein lieber Bester!« sprach Herr Krohnenberger, »für die herrliche Stunde, welche Sie mir gemacht haben. Sie haben mehr Beobachtungsgeist, Geschmack und warmes, feines Gefühl, als ich irgend hätte erwarten können, und ich bin stolz darauf, in die Fußstapfen eines solchen Mannes treten zu können. Lassen Sie mich aber jetzt nur machen! Sie sollen sehn, wie gut ich diese Winke werde zu benutzen wissen, und ich hoffe gewiß, Sie sollen einst Freude an dem Herrn von Seelberg erleben. Ein gefühlvolles, weiches Herz ist doch immer ein großer Schatz, und ohne Lebhaftigkeit und einen gewissen Enthusiasmus wird man nie ein großer Mann« – – »Und ohne nüchterne Vernunft nie ein nützlicher Mensch«, fügte der Rektor hinzu, indem er mit ein wenig getrübter Stirn seinen jungen Gelehrten wieder zu der Gesellschaft führte.
Unsre beiden jungen Herrn wurden nun, mit Gelde ausgerüstet und mit Wechseln und schönen Kleidern versehen, um Ostern nach Leipzig geschickt. Die Ferien hatten eben erst den Anfang genommen, als sie hinkamen; Krohnenberger hatte viel alte Bekanntschaften zu erneuern und viel neue zu machen; also wurde die Zeit mit Besuchen vertrieben. Er liebte den Umgang mit dem schönen Geschlechte, bey welchem er sich durch allerley liebliche Talente, als da sind: Tanzen, Silhouettenmachen, Verseschmieden, kleine witzige Spiele erfinden, Singen und andre dergleichen niedliche Subtilitäten, ungemein angenehm machte; Ludwig, der, wie wir wissen, nur gar zu gern in weiblicher Gesellschaft war, und dem, sosehr er auch Arbeit liebte, dennoch diese Ruhe, nach lange fortgesetzter ernsthafter Anstrengung, und die edle akademische Freiheit ungemein behagten, war in diesem Zirkel fröhlich wie der Fisch im Wasser. Seine nicht unangenehme, durch unverwelkte Jugend interessant werdende Bildung, seine musikalischen Talente und sein Witz machten, daß er gefiel, und er gefiel, wie sich's versteht, niemand besser als sich selbst, bekam Zuversicht zu sich, legte das Steife der Schule nur gar zu bald ab und genoß die Freiheit, in welche er nun gekommen war, recht cavaliermäßig. Da die Kollegia, wie wir gehört haben, noch nicht anfingen und er doch nicht müßig seyn wollte noch konnte, so las er viel, wenn er zu Hause war. Man sprach in den Gesellschaften, in welche er eingeführt wurde, von allen neuern Schriften, und Seelberg schämte sich, daß er die wenigsten derselben kannte. Er bat daher seinen Mentor, ihn mit der schönen Literatur bekanntzumachen, und Dieser fand das vernünftig und nöthig. Wielands bezaubernde neueren Gedichte (die ältern Werke dieses großen Mannes hatte er schon in Werkmanns Hause studiert), Rousseaus neue Heloise, Voltairens witzige Trauerspiele und andre deutsche und französische Dichter wurden gelesen, ja! verschlungen – Daß hierdurch Ludwigs Fantasie eine ganz andere Wendung bekam, daß er jetzt selten in der Stimmung war, sich religiösen Empfindungen zu überlassen, und daß ein Nachtisch aus Klopstocks Messias nach einer wollüstigen Mahlzeit aus Wielands Idris nicht schmecken wollte – das läßt sich denken. Indes vergingen die Tage bis zur Eröffnung der Lehrstunden; Krohnenberger und Seelberg waren Herzensfreunde geworden, hatten Brüderschaft miteinander gemacht, und der Zögling konnte ohne seinen lieben Hofmeister nicht leben. Nun aber mußte man die ernsthaften Studien anfangen; dies war, wie bekannt, Krohnenbergers Sache gar nicht, noch weniger war es sein Fach, die langweiligen Kollegia zu Hause mit einem jungen Herrn zu wiederholen; allein es half nun freilich nichts davor. Man hatte ihnen vorgeschrieben, Naturrecht, Institutionen und Reichshistorie im ersten halben Jahre zu hören, und damit wurde also der Anfang gemacht, wobey man nebenher ein wenig Physik und Ästhetik trieb, des Sonntags und zuweilen noch an einem andern Tage in der Woche Gesellschaften besuchte, Musik machte und in den Erholungsstunden poetische und prosaische angenehme Schriftsteller las. Seelberg besuchte in dem ersten Vierteljahre die Kollegia auf das Fleißigste und repetierte ebenso fleißig zu Hause, denn er war an zweckmäßige Anwendung der Zeit gewöhnt; doch konnte er sich nicht enthalten, wenn grade der Glockenschlag ihn von einem schönen Dichter wegrief, die Bemerkung zu machen, daß es doch wahrlich zu bedauern sey, daß man nun einmal mit den trockenen Brotwissenschaften, die bloß Gedächtnissache, folglich nichts, weder für Kopf noch für Herz seyen, so manche Stunde verderben müsse. Im vierten Monate kam er oft sehr unzufrieden aus den Institutionen nach Hause, fand, daß der Professor nichts gesagt hätte, als was theils schon im Buche stünde und man ebensogut in kürzerer Zeit zu Hause hätte nachlesen, theils was Jeder, der gesunde Vernunft habe, zu dem Kompendium hätte hinzufügen können, und endlich in den letzten beiden Monaten versäumte er manche Stunde, indem er sagte: es sey unverantwortlich, die Zeit auf eine so elende, geschmacklose Art zu verschwenden, und vier Seiten aus Wielands Agathon seyen mehr werth als ein ganzes Collegium juris naturæ. Natürlicher Weise nahm in dem folgenden halben Jahre dieser Ekel vor allen solchen Wissenschaften, die nur durch die Ausübung dessen, was sie lehren, im bürgerlichen, wahrhaftig zweckmäßigen, praktischen, dem Staate und der Menschheit nützlichen Leben sich belohnen und Freude gewähren können, übrigens aber freilich, bey Erlernung ihrer Grundsätze, wenig Anziehendes haben, ich sage der Ekel vor solchen Wissenschaften nahm natürlicher Weise zu, je weniger ernstlich Ludwig sie zu treiben anfing, je mehr er seinen Geschmack durch Lesen solcher Bücher kitzelte, die Fantasie, Witz und allgemeinen, auf keine bestimmte Lebensart im Staate gerichteten Beobachtungsgeist beschäftigen, und endlich, je tiefer man, zum Beispiel in den Pandekten, in ein System hineinkam, von welchem er die ersten Grundsätze als langweilige Ware von sich geworfen, folglich den Faden verloren hatte. Der Herr Hofmeister aber, dem es wenig darum zu thun war, aus dem Herrn von Seelberg einen nützlichen Bürger zu ziehn, insofern er nur mit ihm, der ja ohnehin ein reicher, nicht um das liebe Brot studierender Cavalier war, einige Jahre froh, angenehm und auch nicht ganz unthätig hinbrächte, ließ es gern geschehen, daß die juristischen Kollegia nach und nach immer seltener und zuletzt gar nicht mehr besucht wurden.
Es war ein Unglück für unsern Ludwig, daß er in seiner ersten Jugend bey aller seiner Unwissenheit klüger als seine gelehrten Hofmeister gewesen; dies hatte ihm heimlich einen geringen Begriff von der Wirkung der Gelehrsamkeit auf die gesunde Vernunft beigebracht; dieser nachtheilige Begriff verlor sich nun freilich wieder, als er in des Rektors Hause die Sache der Gelehrsamkeit zu seiner eigenen machte; allein, daß es ihm in diesem Hause so leicht wurde, in kurzer Zeit alles Versäumte nachzuholen, daß er mit seinem hellen Blicke so tief eindringen und in seinem vortrefflichen Gedächtnisse so viel aufbewahren konnte, das hatte ihm eine solche Einbildung von sich selbst gegeben, daß er glaubte: es gäbe privilegierte Genies, wovon er eines sey, die, wenn sie nicht von Natur schon alles wüßten, doch wenigstens ohne Anstrengung alles ergründen, alles fassen könnten; es koste ihn ein halbes Jahr, um das Mechanische einer Wissenschaft zu lernen, über welche Andre viele Jahre hindurch geschwitzt hätten; den ganzen Bettel, um welchen man drey Jahre lang auf Universitäten sitze, könne man in dem letzten halben Jahre oder durch Routine, wenn man schon im Amte stehe, geschwind fassen oder auch allenfalls des Zeuges gänzlich entbehren und mit gesunder Vernunft, Welt- und Menschenkenntnis in jedem Stande ein nützlicher Mann seyn. Da er ferner in dieser Zeit seines Lieblings unter den Schriftstellern, Rousseaus philosophische Reden und Briefe über den Einfluß der Künste und Wissenschaften auf die Glückseligkeit, über die Entstehung der Ungleichheit unter den Menschen, dabey viel Romane, Lebensgeschichten von Helden aus der Vorwelt und überhaupt eine Menge solcher Schriften las, in welchen große, herrliche Träumereien, unerreichbare Ideale und nicht passende Lehren für die Welt, darin wir leben, vorkamen, so nahm sein Geist wiederum einen ganz neuen Schwung. Er athmete Weltbürgerluft, Freiheit, verachtete allen Zwang, alle positive Gelehrsamkeit, alle Konvenienz, allen Unterschied der Stände, alle Rücksichten des Alters, lebte, studierte, beschäftigte sich so, wie es ihm sein Herz eingab, brannte immer vor Begierde, sich auszuzeichnen, einmal etwas Großes, etwas Außerordentliches in der Welt zu thun, Aufsehn zu machen, verjährte Mißbräuche abzuschaffen, alles zu reformieren, und machte sich doch nicht geschickt, auch nur in einer einzigen gemeinen Laufbahn seinen Platz gehörig auszufüllen. Allein bey dem Allen war er nicht faul, widmete auch nicht so gar viel Zeit dem gesellschaftlichen Leben, sondern las, schrieb, studierte fleißig, machte Aufsätze; aber seine Thätigkeit war ohne vernünftige, zweckmäßige Richtung und seine Belesenheit ohne weise Auswahl. Krohnenberger hatte indes eine kleine Herzensintrigue angefangen und lebte fast vom Morgen bis zum Abend in dem Hause eines Handwerksmanns, dessen Tochter der Gegenstand seiner Zärtlichkeit war.
Wir haben gehört, mit welchen religiösen Empfindungen Seelberg das Haus des Rektors verlassen, daß aber das Studium der neuern Dichter diese Empfindungen bey ihm ziemlich geschwächt hatte – nicht, daß er Verächter der Religion geworden wäre; allein sein Herz konnte sich nicht mehr zu so inniger, warmer Gottesverehrung hinaufschwingen. Krohnenberger hatte ihm keine solche Bücher, wenigstens vorsätzlich nicht, in die Hände gegeben, in welchen mit falschem Witze, aus bösem Willen und Schalkheit, die Religion Jesu angegriffen und das Buch aller Bücher, die Bibel, geschmähet und gelästert wurde. Er hatte von Voltairens Schriften keine als die theatralischen und überhaupt Bücher von solcher Art noch gar nicht gelesen; auch würde er sie, wenn ihm dergleichen unter die Augen gekommen wären, verächtlich von sich geworfen haben, denn obgleich er selbst Hang zur Satyre hatte, so verabscheute er doch allen Spott, den man mit ernsthaften, ehrwürdigen, wenigstens andern Leuten ehrwürdigen Dingen trieb, mit Dingen, worauf so viel edle Menschen ihre Ruhe bauen. Allein sein Forschungsgeist verweilte gern bey Zweifeln, die den Anstrich von Wahrheitsliebe hatten, weil er glaubte, Gott habe uns den Verstand nicht umsonst gegeben, und weil er eine so hohe Meinung von dem seinigen hegte, daß er dafürhielt, er könne mit demselben alles im Himmel und auf Erden ergründen, wenn er ihn nur recht anstrengte. Er las Rousseaus Emil und fand das Glaubensbekenntnis des Vicaire savoyard so schön, fand, daß so zu zweifeln, wie Rousseau zweifelt, mehr werth sey, als so zu glauben, wie die mehrsten Menschen glauben. Überhaupt las er einige Schriften, in welchen Einwürfe gegen die Nothwendigkeit und Echtheit einer mündlichen und schriftlichen göttlichen Offenbarung gemacht waren, zum Beispiel l'antiquité devoilée von Boulanger, und wenngleich er diese Bücher mit Bescheidenheit und argloser Absicht studierte, so hatten sie doch die Wirkung, daß die Religion unmerklich aufhörte, für ihn ein Gegenstand der Herzensergießung zu seyn, daß er sie dagegen zu einem Objekte des Verstandes und des kalten Raisonnements machte, daß Theologie an die Stelle von Religion rückte und ein systematisches Gebäude, an welchem immer zu flicken war, den Platz einnahm, auf welchem sonst, kunstlos und ungetrieben, die süßesten, wohlthätigsten, schönsten Pflanzen hervorkeimten, Zweige der dankbarsten, hohen, heiligsten Empfindungen hervorsproßten und reiche Früchte des Wohlwollens und der Tugend brachten. Wir werden in der Zukunft sehn, welche Folgen diese Veränderung für Ludwigs Moralität hatte. Da wir indessen bekannt mit seinem Temperamente sind, so wird es uns leicht seyn, uns zu überzeugen, daß seine jetzige Lebensart, seine Beschäftigungen und seine Stimmung, sosehr auch dies alles seine eigene Wahl, sein eigenes Werk war, ihm dennoch wenig wahre Seelenruhe gewährten. Er suchte, wünschte immer, und sein unruhiger Thätigkeitstrieb jagte ihn unaufhörlich umher, von einer Arbeit an die andre, von einer Meinung auf die andre, von einem künftigen Plane zu dem andern.
Nun hatte er anderthalb Jahre in Leipzig zugebracht, als ihm und seinem lieben getreuen Hofmeister in der Herbstmesse der Gedanke einkam, sich gegen bare Bezahlung zu Freimaurern aufnehmen zu lassen – Ein neuer Tummelplatz für einen müßigen, unruhigen Kopf! denn leider! wimmelte schon damals der Vorhof des verschlossenen Tempels von dem wilden Haufen durcheinanderrennender, von der bürgerlichen Gesellschaft als faule oder unbrauchbare Mitglieder ausgestoßener Tagediebe, kranker Schwärmer, Beutelschneider, Wollüstlinge, Vagabonden, entlaufener Tollhäusler und geflüchteter, schutzsuchender Bankerottierer. Durch diesen losen Haufen im Vorhofe schob sich denn auch unser junger Seelberg mühselig hindurch, las dabey unendlich viel von den Lumpereien, welche über die königliche Kunst geschrieben sind, bekam eine Menge nichtswürdiger Brüder, gab Almosen den Durstigen, schwur Freundschaft Denen, die er nicht kannte oder die er verachtete, empfing Tugendlehren von dem Bösewichte, lernte hohe Weisheit von den Thoren, ein bißchen Goldmachen von dem Bettler, Geistersehen vom Blödsinnigen, praktische Philosophie von ausschweifenden, liederlichen Schelmen und Staatskunst von Menschen aus dem niedrigsten Pöbel. Da indessen Seelberg zugleich so viel würdige und kluge Männer unter diesem Haufen entdeckte und sie die Stufen des Tempels ersteigen sah, so wurde seine Begierde, weiter vorzudringen und das wahre Heiligthum in der Nähe zu erblicken, immer lebhafter. Einen großen Theil seines Lebens hindurch haben ihn daher die Nachforschungen über das Wesen der Freimaurergeheimnisse beschäftigt; allein da das, was er gefunden oder nicht gefunden hat, zu erzählen nicht eigentlich zum Zwecke dieses Buchs gehört, so wollen wir davon schweigen, werden aber vielleicht in der Folge, im Verlaufe der Geschichte, Gelegenheit finden, zu zeigen, welchen Einfluß die in dem ehrwürdigen Freimaurerorden aufgesammleten Ideen auf seine Systeme im Denken und Handeln hatten.