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27

Es ging auf Weihnachten zu.

Rechtsanwalt Arentsen hatte keine Prozesse mehr zu führen und erwartete auch nicht, welche zu bekommen. Er wollte das Schild an seiner Kanzleitüre herunternehmen und sich auf das Postschiff begeben; aber Rosa hinderte ihn daran und sagte:

Bist du mit Aron in Hopan vollkommen fertig?

Ja.

Aber wenn jetzt Levion in Torpelviken kommt, während du fort bist und sich mit dir besprechen will?

Der kommt nicht.

Nein, auch Levion in Torpelviken kam nicht mehr wieder, und er war der letzte gewesen. Als Sir Hugh kam und ihm die Summe für das Lachsfischrecht in diesem und dem vergangenen Jahr bezahlte, hatte Levion das Geld endlich angenommen. Und nun schien es mit dem langen Prozeß vorbei zu sein. Trotzdem war er tags darauf zum letztenmal zu Rechtsanwalt Arentsen gegangen und hatte gefragt: Stimmt es, daß wir noch die letzte Instanz haben? Arentsen aber, der wirklich keinen Wert mehr darauf legte, in dieser Sache noch etwas zu schreiben und sich anzustrengen, antwortete Levion: Es ist alles getan worden, was getan werden konnte; jetzt gibt es nichts mehr.

Dieser miserable Nikolai Arentsen, er wurde zu immer weniger und weniger nütze. So lange das Wetter warm genug war, machte er keinen besonderen Unterschied zwischen Tag und Nacht; wenn er ausgewesen war und wieder heimkam, legte er sich aufs Bett, gleichgültig, welche Zeit am Tage es war. Seine Faulheit wurde fürchterlich, sie wuchs sich zu Hartnäckigkeit, zu Energie aus: eine Woche lang zog er weder Kleider noch Schuhe aus, sondern schlief einfach dort, wo er sich hinlegte. Er schämte sich nicht vor seiner Frau; wozu sollte er ihr etwas vormachen! Rosa und er waren nun anderthalb Jahre verheiratet: über fünfhundert Tage war es nicht zu umgehen gewesen, des anderen Gesicht und Hände zu sehen und gegenseitig die bekannten Worte zu hören. Sie kannten sich so gründlich, es bestand nicht die geringste Hoffnung dafür, daß sie eines Tages einander ein wenig in Erstaunen setzen könnten, indem sie den gewohnten Tageslauf veränderten.

Vielleicht könnte ich in Postbenonis Laden eine Anstellung finden, sagte Jung-Arentsen in seiner Hoffnungslosigkeit. Jetzt, zum Weihnachtsverkauf werden ja viele Hände benötigt.

Rosa widersetzte sich auch diesem. Sie hatte allen Grund, sich davor zu fürchten, daß ihr Mann hinter die verschiedenen Ladentische auf Sirilund käme.

Das kannst du doch nicht im Ernst meinen, sagte sie. Ein Rechtsanwalt kann doch wohl keinen Ladengehilfen machen.

Aber zum Teufel, was willst du denn, daß ich tun soll? rief er gereizt. Schon voriges Jahr wolltest du nicht, daß ich mir einen Posten als Fischrichter suchte.

Voriges Jahr war das eine andere Sache gewesen, da waren sie noch jung verheiratet, da hatte Nikolai auch soeben seinen vielversprechenden Anfang als Rechtsanwalt gemacht. Oh, es war ein himmelweiter Unterschied! Sie antwortete:

Kannst du nicht heuer solch einen Fischrichterposten annehmen?

Annehmen! Du glaubst, man könne einen solchen Posten einfach annehmen!

Ja, also dich darum bewerben.

Ich habe mich darum beworben, sagte Jung-Arentsen. Ich bekam den Posten nicht, mein Antrag wurde abgewiesen. Ich habe mich als Rechtsanwalt nicht so bewährt, daß ich Richter werden könnte. Jetzt weißt du es.

Pause.

Jung-Arentsen fuhr fort:

Zu manchen kommt das Leben – ach, es ist nicht der Mühe wert, davon zu sprechen. Wie ein weißer zarter Engel kommt es zu manchen. Zu mir kam der Engel auch, aber er fing sofort an, mich mit einem Pferdestriegel zu kitzeln.

Pause.

Ich habe niemals geleugnet, sagte er weiter, ich habe niemals geleugnet, daß Postbenoni ein und auch zwei Taubenhäuser bauen könne. Das konnte er sich schon früher leisten und kann es jetzt noch leichter. Dagegen leugnete ich, daß Postbenoni ein Mann für dich sei. Darin aber habe ich mich möglicherweise geirrt.

Ich begreife nicht, wofür ich so büßen muß, sagte Rosa traurig.

Nein, antwortete er, weshalb solltest du das begreifen? Und warum mußte ich es erwähnen, da eigentlich nicht du es bist, die es büßen muß! Aber warum auch soll ich büßen? Und warum das alles miteinander?

Schon viele Male hatten sie diese Fragen erörtert, sie waren nichts Neues für sie, waren ihnen beiden bis zur Unerträglichkeit bekannt. Er schloß damit, ein wenig deutlicher zu sprechen, gab sich Mühe einige Worte anderer Art zu finden:

Ich habe also dein Leben verdorben, Rosa, so ist es. Dein ganzes Leben.

Sie antwortete nichts darauf, sondern ging ans Fenster, setzte sich dort hin und sah aufs Meer hinaus.

Na, sie hätte gerne etwas antworten können, sie ging doch wohl nicht umher und glaubte das, was er sagte? Natürlich war die Tatsache, daß er ihr Leben verdorben habe, nicht wahrer als die, daß sie das seine verdorben hatte. Und weshalb ging sie nun dort hin und setzte sich? Glaubte sie, es würden noch mehrere Worte dieser neuen Art kommen? Er erhob sich und knöpfte seine Jacke zu.

Gehst du aus?

Ja. Was soll ich hier tun?

Pause.

Das ist es gerade, sagte sie dann, daß du hier wirklich mehr zu tun haben und weniger ausgehen solltest.

An diesen Worten war jedenfalls nichts Neues. Oh, wie viel hundert Male hatte er sie schon gehört! Und er hatte sie jedesmal beantwortet; aber sie hielt so störrisch daran fest. Es war zum Davonlaufen.

Du kennst doch meine Ansicht in diesem Punkt, sagte er. Du denkst immer an die Viertelpinten, aber ich kann doch zwei ganze Flaschen leeren, ohne daß mich das stört. Ich bin einmal mit zwei Flaschen Branntwein und etlichen Toddys hinter der Binde gegangen. Ja. Du begreifst also, wenn ich Arbeit hätte, könnte ich diese Arbeit trotz der Viertelpinten ebenso gut verrichten. Nicht darauf kommt es an, das liegt viel tiefer. Im übrigen ist es ja gleich, ich kann gerne sagen, woran es liegt: es liegt daran, daß wir die ganze Zeit hätten verlobt bleiben sollen, das hätten wir sollen. Darin liegt es. Wir hätten nie heiraten sollen.

Das kann schon sein, sagte sie.

Dieses Entgegenkommen von ihrer Seite war neu, nie vorher war sie so auf seine Art zu denken eingegangen. Da war es, als sähe er eine Öffnung vor sich. Um Gottes willen, es wurde Luft! Lebhaft und geradezu froh sagte er:

Ja, habe ich vielleicht nicht recht? Kannst du in diesem Augenblick ans Klavier gehen und ein wenig für dich spielen? Nein; wir haben ja kein Klavier. Wir haben nichts in der Welt, wir leben vom Kredit auf Sirilund. Und du weißt ganz genau, daß nicht die kleinen Viertelpinten daran schuld sind. Die Sache ist die: wir sind beide gelähmt. Die Lähmung hat uns ergriffen. Erst bemächtigte sie sich meiner Füße; ich mochte nicht gehen; dann meiner Hände, endlich meines Verstandes  ... Wenn ich es überlege, wurde ich eigentlich gerade in umgekehrter Reihenfolge gelähmt; aber es ist gleich. Und da sitzt du und bist jetzt an demselben Punkt angekommen wie ich. Du begreifst doch jetzt, was ich hier sage, du kannst dich hineinversetzen, es ist nicht ägyptisch für dich, – vor zwei Jahren hättest du es nicht im geringsten begriffen. Und vielleicht ich auch nicht.

Nein, ich verstehe es nicht, sagt Rosa ablehnend und schüttelt den Kopf. Nicht alles, nein. Sind wir gelähmt? Ich glaube eher, du bist so geboren. Nein, nicht so geboren, aber so geworden. Dann hättest du mich doch lieber sein lassen sollen, als du wieder heimkamst?

Aha, es war vorbei mit dem Entgegenkommen!

Darauf könnte ich ein wenig spöttisch antworten, wenn ich wollte, sagte er. Ich könnte sagen: ich ließ dich nicht sein, weil ich die Ehre hatte, mich wieder in dich zu verlieben.

Das tatest du sicherlich nicht. O nein. Du warst auch damals lahm.

Deshalb sage ich es auch nicht. Dagegen sage ich kurz und bündig: ich wollte dich eben haben. Ja. Aber kein Zweifel, das war Postbenonis Schuld.

Sie blickte nicht auf. Auch diese allzu offenherzige Redeweise hatte sie schon früher gehört. Er schloß mit der täglichen Phrase:

Als Postbenoni wollte, wollte auch ich. Es hat seine Bedeutung, wenn noch einer dazu kommt, eine kolossale Bedeutung. Wenn irgendein Ding auf dem Felde liegt, hat es keinen Wert für dich. Erst wenn ein anderer kommt und es aufheben will, bekommt es Wert für dich, und da greifst du ein.

Pause. Nichts machte noch Eindruck auf eines von ihnen. Rosa dachte in diesem Augenblick, daß es zwölf Uhr sei und also die Mittagskartoffeln zugesetzt werden sollten.

O nein, wenn es die Viertelpinten wären, dann würde ich schon aufhören, sagte er.

Nein, du raffst dich ja nicht einmal dazu auf.

Aber weshalb sollte er sich aufraffen? Die Viertelpinten waren ja nicht daran schuld, weshalb sollte er sich also aufraffen, mit ihnen aufzuhören? War es nicht, um aus der Haut zu fahren über eine solche Logik! Er bezwang sich und sagte, des Streitens müde:

Ach nein, ich raffe mich nicht einmal dazu auf, ich raffe mich zu nichts auf. Zu Anfang versuchte ich es ein wenig; aber das hatte ein rasches Ende. Es hörte auf, als wir heirateten; keines von uns hätte sich verheiraten sollen. Ich hätte sofort wieder das Postschiff nach Süden nehmen sollen  ...

So hatten sie wieder ihr gewohntes Wortgefecht gehabt, und Jung-Arentsen wanderte zum Haus hinaus.

Gutes Wetter; weit draußen steigt ein Rauch auf, es ist das Postschiff, das ankommt. Ja wirklich, er hätte es damals so halten sollen, er hätte sofort wieder nach dem Süden fahren müssen und sich nicht hier niederlassen sollen; er hätte überhaupt nicht herkommen, sondern dortbleiben sollen, wo er gewesen. Er hätte sich schon durchschlagen können, jetzt, wie früher auch schon, in der großen Stadt, wo er alle Auswege kannte.

Er ging an Sirilund vorbei, kam zur Schmiede. Der Schmied und der Rechtsanwalt wechselten einige hastige leise Worte und stülpten voreinander ihre Taschen um, zum Zeichen, daß sie heute nicht einen Schilling besäßen. Dann schlenderte Jung-Arentsen nach Sirilund; es konnte ein wenig für ihn abfallen, wenn er sich an den Ladentisch hinstellte. Nicht weil er etwas brauchte, er konnte recht gut ohne das auskommen; aber die Viertelpinten waren ja gar nicht schuld. Wozu sollte er gleich wieder heimgehen und sich auf seine Kanzlei setzen und ein paar bedeutungslose Papiere ansehen?

Mack winkte ihm vom Fenster aus zu; Jung-Arentsen tat, als sähe er es nicht und wollte vorbeigehen. Da stand Mack plötzlich im Gang zum Kontor.

Bitte! sagte Mack und öffnete seine Türe. Es lag etwas Hastiges über ihm.

Nein, danke, sagte Jung-Arentsen und wollte weitergehen.

Bitte! wiederholte Mack.

Er sagte nicht ein Wort mehr, aber Jung-Arentsen folgte. Sie kamen ins Kontor. Auf einmal sagte Mack:

Mein lieber Nikolai, das geht nicht so weiter. Sowohl du wie Rosa, ihr leidet beide zu sehr darunter. Willst du Reisegeld haben, um wieder nach Süden zu fahren?

Jung-Arentsen stammelte: Ja, vielleicht  ... Nach Süden? Ich verstehe nicht  ...

Mack sah ihn mit seinen kalten Augen an und sagte nur die wenigen Worte, der Kredit im Laden könne ja nicht ewig dauern. Dagegen käme jetzt das Postschiff herein und hier sei das Geld  ...

Tags darauf kam Rosa zu Mack und fragte vorsichtig, redete nur ein wenig darum herum: Nikolai ging heute früh so zeitig fort, er sagte  ... er redete davon  ...

Nikolai? Der sei gestern mit dem Postschiff abgereist. Er habe im Süden etwas zu tun, habe einen Prozeß. Ob Rosa nichts davon wisse?

Nein. Doch, das heißt  ... Mit dem Postschiff? Sagte er nichts?

Einen großen Prozeß, sagte er.

Eine stumme Minute, Rosa stand verwirrt mitten im Zimmer.

Doch, er hat davon gesprochen, daß er nach Süden reisen wolle, sagt sie dann. So ist die Sache wohl rasch in Gang gekommen.

Ich finde, du solltest jetzt nicht in das Haus des Schmiedes zurückgehen, erklärte Mack.

Und Rosa blieb. Einen Tag, mehrere Tage. Die Woche verstrich, und sie blieb. Es war heller hier auf Sirilund, viele Menschen, Verkehr und Leben. Da kam Villads Bryggemand in irgendeiner Angelegenheit vom Ladespeicher herauf; als er Rosa am Fenster sieht, grüßt er. Rosa kennt ihn, seit sie noch ein Kind war, sie geht zu ihm hinaus und fragt:

Solltest du am Ende eine Nachricht für mich haben, Villads?

Hm. Weiter nichts, als daß der Rechtsanwalt mich gebeten hat, Euch zu sagen, er sei gut an Bord des Dampfers gekommen.

Nicht mehr?

Nein.

Ja, er mußte nach Süden; es handelt sich um einen großen Prozeß. Er kam also gut an Bord?

Ja, ganz vorzüglich. Ich war im Boot und sah es.

So blieb Rosa auf Sirilund und war wieder wie ein junges Mädchen und kannte alle Menschen. Und Wächter Svend war ebenfalls da. Zwar sang er nicht mehr und trieb nicht mehr so um wie seinerzeit, als er Junggeselle war; das schickte sich nicht mehr für ihn. Aber er hatte so städtische Manieren und verbeugte sich und sprach höflich; so oft Rosa ihn traf, hatte sie eine vergnügte Stunde durch ihn. Sie war auch zu Besuch in der Kammer und sah Ellen und das Kind. Schau schau, da hatte nun Ellen, das Stubenmädchen, dieses Kind bekommen, diesen kleinen Jungen mit den braunen Augen, und niemand konnte verstehen, weshalb seine Augen braun waren. Das kommt nur davon, daß ich hier lag, wo Fredrik Mensa liegt, sagte Ellen. Und er hat so merkwürdig braune Augen.

Und Fredrik Mensa war wirklich merkwürdig. Er starb niemals, im Gegenteil, er lag zu jeder Zeit ganz tätig da und sah aus, als entschlösse er sich, von morgen an ein neues und anderes Leben zu beginnen. Das Kindergeschrei versetzt ihn in großes Staunen. Jedesmal glaubt er, es sei etwas, das er entdeckt habe, er greift mit den Händen danach. Da er nichts findet, muß es etwas draußen im Garten sein. Er will es verscheuchen und schreit es deshalb an; da es wieder schreit, antwortet er immer und immer wieder. Vor lauter Eifer tastet er immer noch in der Luft herum, er hat keine Herrschaft über seine Hände, sie stoßen plump aneinander und verwirren sich, dann werden sie uneinig, eine Hand fühlt die andere als Beute und drückt zu. Nun hat er gelbe schmutzige Nägel, die wie das Blatt eines Hornteelöffels aussehen, wenn er diese Nägel eindrückt, tut es ihm weh und er sagt uff und flucht. Schließlich übermannt die eine Hand die andere und wirft sie hinunter. Da lacht Fredrik Mensa vor Freude. Aber während des Kampfes hat er viele gute Worte für seine Stimmung gefunden: der Rauch auf dem Dach? Haha. Rudere nicht weiter, Mons. Jada, jada, jada.

So liegt Fredrik Mensa in seinem Wahn da und plärrt seine hündischen Idiotien dem neugeborenen Kind vom ersten Tage an in die Ohren. Und die Mädchen, die Essen und wieder Essen in ihn hineinstopfen, vergessen nicht, ihn mit Achtung zu behandeln und ihn Sie zu nennen.

Jetzt müssen Sie bitte essen, sagen sie.

Er bekommt einen ungeheuer bedenklichen Ausdruck. Es ist, als gelte es seine Lebensanschauung.

Dä dä dä dä dä, antwortet Fredrik Mensa.


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