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Der Tag ist gekommen, an dem Elsa und Erik abreisen sollen, und zum ersten Male fühle ich mit einer Überraschung, die ganz den Charakter der Furcht hat, daß ich Erik, meinen Knaben, vermissen werde. Ich, die ihn während dieses ganzen Sommers vergaß, so wie ich ihn während des ganzen Lebens vergessen habe, das ihn von mir und mich von ihm getrennt hat, ich, die an nichts anderes als an Pierre gedacht, für Pierre gelebt, wachend und schlafend von Pierre geträumt – ich fühle nun, daß ich Erik vermissen werde. Oder ich fühle es nicht, so wie man etwas klar und deutlich empfindet. Der Gedanke eilt nur durch die Seele, wie aus einer unbeschreiblichen Verzweiflung geboren, die ich vergessen will und die in der nächsten Minute auch wirklich verschwindet.
Alles, was heute geschieht, scheint mir nämlich unwirklich. So war es ja auch an jenem Tage, als Elsa und Erik kamen. Auch da erschien mir alles, was mich umgab, so, als wäre es nicht dagewesen. Es ist so ähnlich jetzt, und doch so verschieden. Denn in meinem Herzen bebt das Gefühl, daß es nicht möglich, nicht denkbar ist, ein solches Glück kann mir nicht widerfahren. Die ganze Angst und Schwere dieses Sommers kann nicht in einem Augenblick verschwunden sein. Nein. Ich kann es mir nicht denken. Es ist unmöglich. Ich kämpfe förmlich mit mir selbst, damit mich nicht ein Gefühl des Glücks, dem ich nicht widerstehen kann, überwältige. Ich muß bis zuletzt auf meiner Hut sein. Ich darf ja nicht zeigen, was ich fühle.
Still und milde steigt in mir ein Gefühl der Dankbarkeit auf, dem ich Ausdruck geben muß. Ich gehe im Garten umher, pflücke die schönsten Blumen, die ich finden kann, ordne sie auf langen Stengeln zu einer Melodie von Farben, die mir alles zu künden scheint, was meine Brust erfüllt. Ich gebe sie Elsa, falle ihr um den Hals und flüstere aus der Tiefe meines Herzen einen Dank für alles, was sie an mir getan. Sie ist gerührt wie ich, und an ihrem Blicke sehe ich, daß sie verstanden hat, mehr als ich gewollt. Nun bedeutet es mir nichts, nun gleitet es ab. Nun mag sie wissen und verstehen, es ist mir gleich. Ich gehe hinaus und suche die Kinder. Sie stehen unter der Veranda, stumm und ernst. Erik und Susanne – mein ältestes Mädchen – sprechen wie zwei erwachsene Menschen miteinander. Sie versprechen, sich im Winter zu schreiben, und sie geben sich die Hand, um das Versprechen zu bekräftigen. Erik hat im Sommer einiges gelernt, er drückt sich französisch nicht schlecht aus. Ich bin stolz auf ihn. Und ich nehme die Kinder mit mir in den Garten, pflücke ihnen Früchte, und dann setzen wir uns unten an den Strand, um sie aufzuessen und zu plaudern. Es wird ein recht seltsames Gespräch über dies und jenes. Aber wir sind alle ein wenig feierlich, die Kinder sowohl wie ich, und ich bitte sie, einander nicht zu vergessen, sondern Freunde und gute Kameraden fürs Leben zu sein. Die ganze Zeit fühle ich mich dankbar gegen jemanden, dankbar für mein Glück, und ich muß es allen zeigen, die mir in den Weg kommen.
Pierre kommt auf uns zu, er sitzt ein Weilchen bei uns und nimmt am Gespräch teil. Dann gehen wir zusammen über den Kiesweg zur Veranda. Pierre geht voran und führt Erik an der Hand. In seltsamer Weise habe ich das Gefühl, als ob seine Freundlichkeit gegen den Knaben mir wohltäte, und als wir hereinkommen, hasche ich verstohlen nach seiner Hand und küsse sie rasch. Er sieht mich zur Erwiderung an, aber ich lächele ihm ohne Zögern oder Angst zu, freimütig und offen. Mit einem Schauer der Freude erinnere ich mich, daß wir von einem Unglück betroffen worden sind, das ich Pierre tragen helfen darf. Ich fühle, daß er meine Zärtlichkeitsbezeugung als einen Dank für den ganzen Sommer aufgefaßt hat, und ich suche gleichsam in meinem Innern, um den empfindlichen Punkt zu finden, der früher bei der leisesten Berührung geschmerzt hat. Aber ich finde ihn nicht. Ich fühle nichts, und ohne auch nur eine Erklärung zu versuchen, lasse ich mich von der Stimmung des Moments ergreifen und sehe nur wie in einem Traum, wie alles um mich anfängt sich zu verändern.
Ich kann uns noch alle sehen, wie wir zum letzten Male um den Tisch sitzen, bei jener kurzen Abschiedsmahlzeit, die uns für immer trennen soll. Es scheint mir nämlich, daß es für immer sein wird. Die Zukunft verschwindet vor dem Jetzt, das mich gefangen nimmt. Ich sehe Pierre sein Glas erheben, und ich schenke den Kindern Wein ein. Alle Köpfe neigen sich vor, ich sehe Tränen in den Augen der anderen, Susanne sieht gedankenvoll und ernst aus, und sie stößt mit Erik an, der versucht, sich tapfer zu halten. Dann sitzen wir wieder in dem großen offenen Wagen, die Kinder haben nicht darin Platz und müssen zu Hause bleiben – Pierre und ich sollen unsere Gäste zur Station begleiten.
Ich kann nicht begreifen, daß nur zwei Monate vergangen sind. Zwei Monate! Ich verstehe nicht, daß ich nicht in der Zeit, die jetzt vorbei ist, alt geworden bin. Ich habe mich so alt gefühlt, als wäre ich ein greises Mütterchen, das schon aufgehört hat, an sich selbst zu denken. Oft bin ich vor dem Spiegel gestanden und habe nach den ersten grauen Fäden in meinem braunen Haar gesucht. Aber jetzt durchströmt mich etwas wie das Brausen einer Musik, die ich nie zuvor vernommen. Es klingt in mir mit dem Jubel von Hoffnung und Jugend, Frühlingssehnsucht und Glück. Ich gebiete mir selbst Schweigen. Ich muß dieses Gefühl ersticken, jetzt, wo ich Abschied nehmen soll.
Und dann stehen wir wieder auf dem Perron. Wie ist er doch hell und traulich, sonnig und offen! Ich sehe den Zug kommen. Mit der Botschaft langer Sommerfahrten, Abenteuer und fremder Länder, Freiheit und Reiselust rollt er in den Perron. Wir sagen Lebewohl, die Reisenden steigen ein, ich höre den Pfiff der Dampfpfeife, das Stöhnen der Lokomotive – wie lange es dauert, wie ewig langsam es geht – dann begegne ich Eriks großen, blauen Augen, und es legt sich wie ein Schleier über meinen eigenen Blick. Dann ist alles verschwunden, und an Pierres Arm gehe ich zu dem Wagen zurück, der wartet.
Ein Gefühl unsäglicher Wehmut erfüllt mich, und als wir in die lange Pappelallee kommen, lehne ich meinen Kopf an Pierres Schulter. Ich kann das Ganze nicht fassen, ich verstehe nichts, ich nestele mich in seine Umarmung, als könnte er mich vor allem Bösen auf der Welt schützen, und voll von dieser wunderlichen Dankbarkeit, die ich nicht erklären kann, fühle ich den leisen Druck seiner Hand auf meinem Arm.
So sitzen wir still, bis der Wagen sich wieder dem Dorfe nähert. Es ist jetzt Abend, und die Strahlen der Sonne fallen schräg auf die Ebene, die weit weg in Blau vertönt. Wir fahren in den Hof ein, und als ich wieder auf der Schwelle unseres Heims stehe und die Kinder sehe, die uns entgegenkommen, da merke ich, daß ich vorher nichts von all dem gesehen habe, was mir so teuer war und ist. Mit einem Blicke, der sich zu weiten scheint, um alles zu umfangen, sehe ich die grünen Walnußbäume, die dunklen Pappeln, den lichten Garten mit seiner langen weißen Mauer, die Bäume, die Früchte tragen, den Fluß, der so still an unseren Fenstern vorübergleitet. Ich sehe die Kinder so wie ich sie während dieses ganzen langen Sommers nicht gesehen. Und ich sehe Pierre. Er ist wieder bei mir, und ich bei ihm.
Es wurde Abend, und es wurde dunkel. Auf der Veranda brannte die Lampe, und es war draußen so windstill, daß die gelbe Flamme nicht zuckte. Wir saßen nebeneinander, und an Pierres Hand, die die meine hielt, fühlte ich, wie glücklich er war, daß wir wieder allein waren. Da wurde plötzlich die ganze wunderliche Stimmung gebrochen, die mich früher beherrscht hatte, und eine furchtbare Beklemmung bedrückte mein Herz, als sollte mir die Brust zerspringen. Wie oft waren wir nicht so wie jetzt gesessen, stumm, ohne zu sprechen, einander nur bei den Händen haltend, und zwischen uns wehte der Hauch von Gedanken und Ahnungen. Zwischen uns wuchs das große Glücksgefühl, das nichts stören, nichts vernichten konnte! Ich wußte so gut, was Pierre fühlte. Er empfand nur was ich so oft selbst gefühlt, nur daß er mich nie, nie, so über alle Grenzen vergöttern konnte, wie ich ihn vergötterte. Aber in einer seltsamen, kühlen und stillen Weise begriff ich, daß, während er glücklich war, mein Gefühl nicht wie einst dem seinen begegnen konnte. Es gab einen leeren Raum in meinem Innern, und da war etwas, das sich in stummer Qual wand und stöhnte. Es war wie ein unseliger Geist, der in meiner Brust keine Ruhe finden konnte, und mit einem Schmerz, den die Angst dieses ganzen Sommers noch vergrößerte, fühlte ich, daß jetzt, wo ich mit Pierre allein war, etwas Neues begann, etwas, das ich nie geahnt, etwas, das sich an hellen Frühlingstagen und stillen Nächten langsam über mich schleichen würde. Er würde in mir kämpfen und mir nie Ruhe gönnen.
Ich schloß die Augen und schmiegte mich enger an Pierre. Ich hatte das Gefühl, als wenn mein ganzes Leben verzehrt würde und verkohlte. Ich sah wieder auf, und meine Augen begegneten der Dunkelheit, die sich gegen den gelben Schein der Lampe um die Veranda zusammenzuballen schien. Schauernd betrachtete ich diese Dunkelheit, und es war mir, als wäre etwas darin verborgen, das hervortreten und sich mir nähern würde.
Da hörte ich Pierres Stimme sagen:
»Wie blaß du bist!«
Ich erschrak über seine Worte. Ich hatte beinahe vergessen, daß er da saß, und es quälte mich, daß ich nun, wo die Stunde gekommen war, nach der ich mich gesehnt, ihm nichts zu sagen hatte.
»Ich friere,« sagte ich und stand auf. Ich wußte nicht, was ich sagte, ich konnte nur diese Liebe nicht ertragen, die die meine suchte und die ich nicht ohne Schmerz erwidern konnte.
So standen wir auf und gingen hinein, und Pierre hielt seine Hand um meine Schulter. Es war mir, als hätte er, ohne es zu wissen, eine Leiche umarmt.