Gustaf af Geijerstam
Alte Briefe
Gustaf af Geijerstam

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9

An diesem Abend irrte ich lange in den Straßen umher, bevor ich es endlich wagte, nach Hause zurückzukehren. Nie hatte mich dieses helle, lange Frühlingsabendlicht so unsäglich gepeinigt, wie an diesem Abend, als ich ziellos in den neugebauten Vierteln umherstreifte, die das Haus umgeben, in dem ich wohnte und das ich an diesem Tage nicht zu betreten wagte. Einmal ums andere ging ich an meinem Tor vorbei, weil ich mich nicht entschließen konnte, auf den kleinen schwarzen Knopf zu drücken, der mir den Weg zu meinen verschlossenen Räumen öffnen sollte. Immer wieder kam ich zurück, und als ich endlich die Treppe hinauf ging, war ich so müde, daß ich mich nur mit Mühe weiterschleppte.

Als ich zu mir hineinkam, fiel es mir auf, wie still es war, und in dem peinigenden Gefühl, allein zu sein, zündete ich die Lampe an und zog die Gardine zusammen. Es war zu zeitig, um zu Bett zu gehen, und ich legte mich daher auf mein Sofa, in der Idee, daß die Müdigkeit bald verfliegen würde. Es war nur der Wein, das Gespräch, der lange Spaziergang, . . . all das vereinigte sich, um meine Nerven zu betäuben. Und ohne daß ich es merkte, schlossen sich meine Augen, und ich schlummerte ein. Wie lange ich geschlafen, weiß ich nicht. Aber gerade, weil ich lange geschlafen zu haben vermeinte, bin ich geneigt, zu glauben, daß es höchstens eine Viertelstunde gewesen sein kann. Da glaubte ich – ob es im Traume war, oder gerade, als ich erwachte, konnte ich unmöglich entscheiden – eine Stimme zu hören, die wie unter dem Druck einer unbeschreiblichen Qual seufzte. Diese Stimme glich in wunderbarster Art etwas, das ich früher gehört zu haben glaubte. Und starr vor Entsetzen, lag ich unbeweglich, während ich, meine Nerven aufs äußerste anspannend, lauschte.

Da ich nichts unterscheiden konnte, erhob ich mich und begann in meinen Zimmern umherzugehen, als wollte ich mich vergewissern, daß niemand darinnen war. Ich ging in mein Schlafzimmer, zündete Licht an, leuchtete unter die Möbel, aber fand natürlich nichts. Das wunderlichste war jedoch, daß ich die ganze Zeit über völlig überzeugt war, daß ich nichts finden würde. Meine Untersuchungen fanden nur des Scheines wegen statt, ich wußte es sehr wohl, und ich blieb schließlich vor der Tür stehen, die in die leere Wohnung führte, die einmal mein Heim gewesen. Wir waren ja nun in den Mai hineingekommen, und seit Wochen hatte ich nicht einmal an diese Wohnung gedacht, deren Tür ich selbst an einem Aprilabend verschlossen hatte. Sie war neben mir gelegen, versperrt und öde, und keine Stimmen von dort hätten mich vermocht, die Tür zu öffnen und durch die leeren Räume zu gehen. Sie waren ja für mich so leer, daß sie nicht einmal Erinnerungen bargen. Nun erschien es mir plötzlich, als hätte ich dort drinnen mein ganzes Leben zurückgelassen, um mich dort draußen selbst zu begraben. Und ich wußte ganz bestimmt, daß von dort drinnen der Seufzer gekommen war, der mich geweckt hatte, oder den ich gehört, als ich erwachte.

Wenn es mein Leben gegolten hätte, würde ich es doch nicht gewagt haben, hineinzugehen. Unentschlossen, was ich tun sollte, nahm ich ein Buch und versuchte, mich in seinen Inhalt zu vertiefen. Aber es war mir natürlich unmöglich, zu lesen, und plötzlich hörte ich wieder diesen tiefen Seufzer, der mich vorhin erschreckt hatte. Er war dieses Mal so deutlich, daß ich nicht einmal den Versuch machen konnte, ihn als eine Gehörstäuschung zu betrachten. Und von meinem Sessel auffahrend, eilte ich auf die Tür zu, um besser horchen zu können.

Da sah ich zu meinem unaussprechlichen Entsetzen, daß ein Schlüssel im Schlosse steckte. Ich stürzte zum Schreibtisch zurück, zog die Lade heraus, in die ich einmal den Schlüssel gelegt hatte, und begann danach zu suchen. Er fand sich nicht. Ich durchsuchte die anderen Laden, in der Voraussetzung, daß ich ihn anderswohin gelegt hatte und mich bloß nicht recht an die Stelle erinnerte. Ich durchsuchte mein Bureau, ja sogar meine Bücherregale. Vergeblich. Er war nirgends zu entdecken. Ich begriff, daß ich nicht länger allein war. Es existierte jemand in dieser abgesperrten Wohnung, ein paar Schritte von mir, jemand, der hineingegangen war und also auch einmal zurückkommen konnte. Wunderlich genug war es jedoch nicht das, was mich hauptsächlich beschäftigte. Daß ich nicht allein war, war offenbar. Aber, worüber ich grübelte, war, wie der Schlüssel aus meiner Lade gekommen war. Niemand konnte gesehen haben, daß ich ihn einmal hineingelegt hatte. Niemand wußte auch nur, daß ich ihn abgezogen hatte, oder daß er überhaupt aufgehoben war. Ich selbst hatte ihn seit dem Begräbnistage nicht gesehen, und wenn er nun im Schlosse steckte, mußte er also gestohlen worden sein.

Einen Augenblick dachte ich daran, mich zu bewaffnen und hineinzugehen, um den ungebetenen Gast wegzujagen, der nun wahrscheinlich eben daran war, meine Geheimnisse zu durchstöbern. Aber ich konnte mich dazu nicht entschließen, und obgleich nichts mit der Tortur zu vergleichen war, die ich mir jetzt aus purer Unentschlossenheit selbst auferlegte, blieb ich doch und wartete ab, was kommen würde. Ich wagte nicht länger auf- und abzugehen, weil ich da von Zeit zu Zeit gezwungen war, jener Tür den Rücken zu wenden, hinter der das Geheimnis verborgen lag. Ich setzte mich darum so, das ich das Schloß sehen konnte. Ich wendete meine Blicke nicht davon ab, sondern fixierte ununterbrochen den Schlüssel, der mir auf eine beinahe übernatürliche Art in die Tür gekommen zu sein schien. Ich horchte auf jeden Laut, ich hörte entfernte Schritte auf der Stiege, Stimmen in angrenzenden Wohnungen, Schritte, die auf den Plafondziegeln über meinem Kopfe ertönten. Es pochte in den Wänden um mich, sauste in den Rauchfängen, klapperte auf dem Steinpflaster unter meinem Fenster. Kein Laut entschlüpfte meiner aufs äußerste geschärften Aufmerksamkeit. Meine Nervosität hatte einen solchen Grad erreicht, daß eine wirkliche Erscheinung aus der Geisterwelt mich kaum in stärkere seelische Erschütterung hätte versetzen können, als in der ich mich schon befand. Ich konnte keinerlei Entschluß fassen, wie ich handeln sollte. Aber ich wußte, daß in jedem Augenblick Greta kommen konnte, um mein Zimmer für die Nacht fertig zu machen, und wie eine fixe Idee beherrschte mich der Gedanke, daß ihr Kommen der unleidlichen Spannung, in der ich mich befand, ein Ende machen würde. Ich harrte darum mit Ungeduld des Augenblicks, da ich den scharrenden Laut der Flurtür hören würde, die sie mit ihrem eigenen Schlüssel zu öffnen pflegte, oder wenigstens ihre schleppenden, schweren Tritte, wenn sie die Treppe hinaufstieg.

Da vernahm ich plötzlich abermals einen Laut aus dem Inneren jener Tür, die ich unablässig betrachtete, als wollte ich mit meinen Blicken ihr Geheimnis durchdringen. Deutlich und klar hörte ich das Geräusch von Schritten. Sie kamen nicht von der Stiege, von wo ich sie erwartete. Sie kamen aus der leeren Wohnung, die ich nicht zu betreten wagte; zuweilen hielten sie inne, dann hörte man sie aufs neue, und jedesmal glaubte ich, daß sie sich der Tür näherten. Außerstande, diese angstvolle Erwartung länger zu ertragen, erhob ich mich und stellte mich in Verteidigungsstellung hinter den Stuhl, mein Gehör noch schärfer anstrengend, als früher.

Im Laufe von ein paar Minuten flog eine Serie der bizarrsten Phantasieen durch mein Hirn. Daß meine Frau gestorben war, versank vor meinem Bewußtsein wie eine Phantasie, deren Unwirklichkeit ich die ganze Zeit geahnt hatte. Ihr Begräbnis erschien mir wie ein Gaukelspiel, herbeigeführt, um die Tatsache zu verbergen, daß sie noch die Zimmer bewohnte, in die ich sie eingeschlossen. Denn ich war es, der sie eingesperrt hatte, sie lebend begraben, in diesen öden Zimmern, außerhalb derer ich selbst lebte, wie ein geheimnisvoller Gefängniswärter, auch von aller Gemeinschaft mit anderen Menschen abgeschlossen. Ich war vollkommen überzeugt, daß Gertrud drinnen lebte, und als die Schritte auf dem Fußboden wieder hörbar wurden, glaubte ich ihre Schritte zu erkennen, die mir mit jedem Augenblick näher kamen. Ich war völlig darauf vorbereitet, ihr noch lebend zu begegnen, und während diese wahnwitzigen Gedanken mit Blitzesschnelle mein Hirn durchzuckten, sah ich, wie die Tür sich langsam und lautlos öffnete.

Die Hände um die Rücklehne meines Stuhles geballt, hinter den ich mich gestellt hatte, erwartete ich das Erscheinen des Phantoms oder des menschlichen Wesens, dessen Kommen ich mit unsagbarer Angst entgegensah. Und im selben Augenblick trat Greta durch die geöffnete Tür und schien sich mir nähern zu wollen. Wie sie mich erblickte, blieb sie stehen, und ich brauchte mehrere Minuten, um angesichts ihres Anblicks meine Fassung wiederzuerlangen.

Meine ganze überreizte Gemütsstimmung verschwand jedoch nicht, sie nahm bloß, als ich das vermeintliche Gespenst erkannte, eine neue Richtung an, sie änderte Farbe und Form. Das Geheimnisvolle war noch immer da, wenn auch nicht so, wie ich es mir gedacht hatte.

»Greta!« rief ich aus und packte die alte Dienerin – denn sie war es wirklich – am Arme. »Was tust du hier?«

Die Alte schien bestürzt, mich zu sehen, und sie stammelte etwas, wie, ich solle nicht böse auf sie sein. Ich merkte, daß mein erregtes Aussehen sie erschreckt haben mußte, und indem ich mich, so gut es ging, beherrschte, wiederholte ich meine Frage:

»Was hast du dort drinnen getan?«

Die Alte sah mich scheu an.

»Ich bin dort gesessen und hab an die arme Frau gedacht, die tot ist,« antwortete sie. Diese Antwort entflammte in eigentümlicher Art meinen Fanatismus aufs neue, und mit wieder losbrechendem Zorne schrie ich sie in höchster Erregung an:

»Aber, Weib, wie bist du hineingekommen?«

Sie sah ganz verschüchtert aus und betrachtete mich mit jener Angst, mit der man einem gefährlichen Narren entgegentritt.

»Ich bin hineingegangen, bevor der Herr Lektor nach Hause gekommen sind.«

»Ja, aber wie kamst du hinein?«

»Durch die Tür.«

»Wie kamst du durch die Türe?«

»Ich hab ja meinen Schlüssel.«

»Ins Vorzimmer, ja. Aber zu dieser Tür! Wie kamst du durch diese Tür?«

Ich wies auf die noch nicht geschlossene Tür, und ich rief es zornig, um endlich die Lösung des Rätsels zu erfahren.

»Der Schlüssel hat doch gesteckt. Die Tür war nicht zugesperrt.«

»Nicht zugesperrt?«

»Das wissen der Herr Lektor doch. Sie ist nicht zugesperrt gewesen seit dem ersten Abend.«

»Wer hat sie geöffnet, frage ich? Wer?«

»Das haben Herr Lektor selbst getan, so viel ich weiß. Der Schlüssel war drin, wie ich am Morgen hier zusammengeräumt habe.«

Ich ließ die Alte los und betrachtete sie mit mißtrauischen Blicken.

»Sperre die Tür ab,« sagte ich.

Sie kam meinem Geheiß widerwillig nach.

»Ziehe den Schlüssel ab!«

Sie tat es.

»Stecke ihn in die Tasche. Nimm ihn mit! Ich will nicht, daß er hier sein soll. Verstehst du?«

Die Alte tat, wie ich sagte, und in zitterndem Schweigen wollte sie beginnen, aufzubetten. Aber ich war zu aufgewühlt, um irgend einen Menschen in meiner Nähe zu dulden. Ich erklärte, daß ich mir selbst helfen würde, sagte kurz gute Nacht und bat sie, zu gehen. Sie ging auch, und ich sah, daß sie froh war, nicht mit mir allein sein zu müssen.

Eine Beute der qualvollsten Gedanken, begann ich, nachdem ich selbst mein Bett für die Nacht geordnet, mich auszukleiden, um schlafen zu gehen. Ich probierte die Klinke der furchtbaren Tür, um mich zu überzeugen, daß sie nun wirklich geschlossen war. Dann setzte ich mich halb angekleidet hin und versuchte, die Ereignisse des Abends zu überdenken. Aber nichts konnte ich erklären, das Ganze schien mir hundertmal wunderbarer, unheimlicher, unglaublicher, als wenn meine Phantasie Wirklichkeit geworden und der Geist meiner Frau mir tatsächlich entgegen getreten wäre. Ich wagte es nicht, die Lampe auszulöschen, sondern stellte sie nur ein Stück hinter mein Kopfpolster, so daß der Schein mir nicht ins Gesicht fiel, ging hierauf zu Bett und schlief beinahe augenblicklich ein, als sei ich durch anstrengende körperliche Arbeit ermattet.

Eine wirre Masse von Träumen muß meinen Schlummer gestört haben. Denn ich wachte ein paarmal durch Laute auf, die klangen, als hätte ich selbst im Schlafe gestöhnt. Aber ebenso rasch, wie ich erwachte, versank ich wieder in einen schweren, betäubungsähnlichen Schlummer; und als ich endlich wirklich die Augen aufschlug, geschah es mit einem wunderlich gemischten Gefühl. Es war mir, als drückte mich etwas Schweres zu Boden, so daß ich zusammenbrach, und gleichzeitig fühlte ich die Anwesenheit meines alten tierähnlichen Begleiters aus früheren Träumen. Ich glaubte eine gewaltsame Anstrengung machen zu müssen, um mich von einer ungeheuren Last zu befreien; und als ich endlich zu vollem Bewußtsein kam, sah ich, daß ich nicht in meinem Bette lag, sondern auf dem Boden stand, mit meiner Hand die Klinke der versperrten Tür umklammernd. Zur Hälfte war ich unter einem Kleiderstock begraben, der nahe der Tür stand, und den ich im Schlafe auf irgend eine Weise über mich gezogen hatte, – dies hatte den Eindruck einer unleidlichen Schwere hervorgerufen.

Ich glaubte plötzlich das Ganze zu begreifen. Ich war ganz einfach ein Schlafwandler; in meiner Überreizung hatte ich all den Seelenbewegungen nicht standhalten können, die über mich hereingebrochen waren, und war, von Gott weiß welchen Impulsen angetrieben, nachts jene Wege gegangen, wohin ich am Tage keinen Fuß setzen wollte. Friedlos wie ein Schatten war ich in meiner leeren Wohnung von Zimmer zu Zimmer gewandelt. Ich selbst hatte den Schlüssel aus der Lade genommen und die Tür geöffnet. Und wie ein großes, schwarzes Tier war mein Gram mir von Zimmer zu Zimmer gefolgt und verschwunden, als das Tageslicht kam und meine gewohnten Gedanken anfingen, in meinem Hirn zu arbeiten. Als ich nun wirklich ausgeschlossen und mein Schlüssel fort war, da erwachte ich von der heftigen Anstrengung, die Tür mit der Kraft meiner Hände zu öffnen.

Es herrschte klares Tageslicht, die Lampe war ausgebrannt. Ich sah mich frierend im Zimmer um, und mit Beben fühlte ich, wie mein ganzes Wesen gleichsam entzweigespalten war, und wie unversöhnlich diese beiden Hälften meines Ich miteinander im Streite zu stehen schienen.

 


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