Gustaf af Geijerstam
Alte Briefe
Gustaf af Geijerstam

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5

Es ist eigentümlich, wie fest wir an andere Menschen gebunden sind und durch sie an die ganze Welt, in der wir leben. Wir mögen immerhin, soviel es uns beliebt, sagen und denken, daß unser innerstes, persönliches Ich niemanden angeht, unsere entscheidendsten Handlungen und Lebensschicksale nicht von anderen abhängen, unsere Gedanken, Gefühle und Meinungen unser Eigentum sind, unseres und niemandes andern. Aber wenn wir so denken, wenn wir diese Unabhängigkeit, die der Schutz unseres Wesens sein und uns im Leben aufrecht erhalten sollte, am stärksten fühlen, da schleicht sich gleichzeitig ein heimlicher Zweifel in die Tiefe unserer Seele, und ohne daß wir es hindern können, horchen wir scheu der Stimme, die uns erzählt, was andere denken. Was sagen die Leute von uns? Was denken die Menschen? Wie beurteilen sie uns jetzt, gerade in dem Augenblick, in dem wir am liebsten wollten, daß kein fremder Gedanke sich unserer Tür näherte, um anzuklopfen und sich einen unberechtigten Blick durch die Spalte zu erzwingen.

Wunderlich genug habe ich mich gerade in diesen Tagen selbst durch die seltsame Entdeckung überrascht, daß ich es im Grunde ganz natürlich finde, wenn die, die mich kennen, wirklich ein wenig wissen wollen, wie ich jetzt – in diesem Augenblick, in diesen Tagen, wo alles Alte aufgerissen wird, wo mein ganzes Leben sich vor meiner Selbstbeobachtung ausbreitet – lebe, denke, handle, mich entwickele. Es sind Freunde, die ich mir vom Leibe gehalten habe, alte und neue Bekannte, Verwandte und nahe Angehörige. Alle scheinen sich um mich zu scharen, zu versuchen, mir ins Gesicht zu sehen, und fragen ganz kalt und ruhig: »Was tust du, mein Freund? Was wird aus dir? Bist du derselbe wie früher, oder bist du es nicht?«

Ich weise diese Zudringlichkeit mit Bestimmtheit ab. Denn ich will mich niemandem nähern, und ich habe beschlossen, daß niemand in mein Zimmer blicken oder meine versperrte Tür auflehnen darf. My house is my castle. Aber ich wurde in eigentümlicher Weise an meinen Gedankengang erinnert, als ich dieser Tage dicht vor meiner Tür ganz unvermutet meinen ehemaligen Freund Christian Sundin traf.

Es war nun beinahe fünf Jahre her, seit ich ihn zuletzt gesehen, und es überraschte mich daher, als er ohne weiteres herankam und mir die Hand gab. Er ist Schriftsteller, mein ehemaliger Freund, ja, er hat sich sogar einen Namen gemacht, und ich bin immer an ihm mit dem Gefühl vorbeigegangen, daß es jetzt für ihn nicht von Interesse sein kann, einen unbedeutenden Lektor an einer Schule zu treffen.

Er blieb jedoch stehen und sagte mit einem wunderlichen Tonfall, daß er die Todesanzeige meiner Frau in einer Zeitung gesehen hätte. Dann verstummte er plötzlich, und ich fühlte, daß ich rot wurde, als er mich ansah. So standen wir eine Weile, einander anstarrend, ohne zu sprechen, bis ich ganz unmotiviert seine Hand ergriff, ein paar Worte des Dankes murmelte und mich entfernen wollte.

»Du gehst?« sagte er.

»Ja,« antwortete ich, »ich wohne hier.«

Damit ging ich.

Aber diese Begegnung hat mich aufgestört. Sie läßt mir keine Ruhe. Unaufhörlich denke ich an Christian Sundin, denke an alte Zeiten.

Es ist nichts besonders Ungewöhnliches im Leben, daß es Personen, die ein tiefes Gefühl der Sympathie füreinander haben, auf die Länge schwer fällt, wirklich gut miteinander auszukommen. Gerade diese Sympathie schließt nämlich eine Seelenverwandtschaft in sich, so tief, daß sie gleichsam die Individuen ermüdet, indem sie sie unablässig auf jene Gebiete drängt, in denen man es nur ausnahmsweise erträgt zu verweilen. Das Alltagsleben hat nämlich seine Forderungen, und der Mensch, der durch seine bloße Anwesenheit in uns alles erweckt, was Phantasie, Geist, Streben zur Größe, Glücksdurst heißt, stört unser Alltagsleben. Und darum fürchten wir ihn, wie es heißt, daß Antonius Cäsar fürchtete.

Es ist wunderlich, daß ich jetzt daran denken kann. Aber mit solchen Menschen begehen wir in der Jugend die Feierstunden des Lebens. Wie ich hier sitze, erinnere ich mich an die Zeit in Upsala, als ich diesen Mann zum ersten Mal sah. Wir hatten einander anfangs an jenen Abenden gesucht, an denen das ganze Übermaß des Lebens oder seine ganze Leere die Seele erfüllt, und wir hatten beide gewußt, daß wir einander gerade dann suchten, wenn der Mensch fürchtet, mit sich selbst allein zu sein, oder wenn er in überströmendem Lebensgefühl es nicht sein kann. Es ist mir überhaupt immer schwer gefallen, andere zu suchen, und darum war meist er es, der mich suchte. Ich erinnere mich, daß er erzählte, wie oft er den bekannten Weg, den Karolinenhügel hinauf, gegangen war, um dann von einem bestimmten Punkt der Schloßgasse nachzusehen, ob mein kleines Giebelfenster beleuchtet war, von dem aus man am Tage ein paar Bäume des Schloßhügels sehen konnte, über denen sich der dunkle Schatten des alten Schlosses erhob. Er versicherte, daß er beinahe vor Unruhe zitterte, das Licht oben könnte nicht brennen, ordentlich ging und sich fürchtete, die kleine Scheibe dunkel zu sehen, als würde dies für ihn den schwersten aller Unglücksfälle bedeuten. Ich erinnere mich, daß, wenn er so etwas erzählte, ich ihm bisweilen mit einem Gefühl zuhörte, das an Neid grenzte. So lebhaft fühlen zu können, so ganz in einem anderen aufzugehen, sich so ganz der Gesellschaft eines anderen zu erfreuen! Ich wußte ja, daß dies mir ein Geheimnis war und immer bleiben würde. Seine Zuneigung schmeichelte mir darum nicht. Sie war mir eine Qual, weil ich ein Unbehagen darüber empfand, sie nur so matt vergelten zu können, und ich weiß, daß aus diesem Gefühl des Unbehagens der Keim unseres späteren Mißverstehens entsproß.

Schon seit unserer frühesten Jugend entsann ich mich, wie oft ich mich über die seltsame Mischung von Scheu und Vertrauensseligkeit gewundert hatte, die das Wesen dieses Mannes barg. Wenn er bei einer Gelegenheit, wie der oben geschilderten, in mein Zimmer trat, erinnere ich mich noch, daß er stets einen ängstlichen und gleichzeitig forschenden Blick auf mein Gesicht warf, um zu ergründen, ob ich ihn mit Vergnügen begrüßte, oder ob ich ihn eigentlich dorthin wünschte, wo der Pfeffer wächst. Er machte sich diesbezüglich nie sonderliche Illusionen, und wenn ich ihm zu verstehen gab, daß er überflüssig war, ging er ohne ein Wort seiner Wege, ganz, als sei dies die natürlichste Sache der Welt. Ich erinnere mich, wie diese seine Unterwürfigkeit gegen meine Person mich gleichzeitig belustigte und reizte. Ich weiß, daß ich mich oft darüber wunderte, daß sein Interesse für mich nicht erschlaffte. Es nahm im Gegenteil mit den Jahren zu, und ich konnte mich schließlich eines gewissen Eindrucks dieser Zuneigung nicht erwehren, die auch die härtesten Stöße ertragen zu können schien, ohne dadurch abgekühlt zu werden. Aber während ich seine Freundschaft entgegennahm, konnte ich doch eine gewisse Verachtung der natürlichen Offenheit, mit der er der meinen nachstrebte, nicht unterdrücken. Es erschien mir als eine unmännliche Schwäche, nicht einmal den Schein wahren zu können, sich selbst genug zu sein, und es kam vor, daß ich ihn dies sogar merken ließ.

Inzwischen ging es mit unserem Freundschaftsverhältnis, wie mit so vielen andern: wir gewöhnten uns aneinander. Das Bedürfnis, hie und da zusammenzutreffen, wurde schließlich gegenseitig, und ich glaube, daß Sundin den Umgang mit mir als einen Ersatz für das Einerlei und die Banalität des Alltagslebens ansah.

Wir trafen uns wie aus gemeinsamer Übereinkunft beinahe immer des Abends. Bei diesen Gelegenheiten aßen wir stets bei Gästis und ließen uns dann auf eines der rückwärtigen Sofas des Cafés nieder, wo wenige vorbeikamen und wir möglichst ungestört blieben. Ich kann mich noch der rauchigen Luft in dem großen, dunklen Zimmer mit der braunen Täfelung und den grünen Sofas entsinnen.

In dieser Umgebung bekamen unsere Gespräche jenen Schwung, der von dem Bedürfnis der Jugend kommt, sich an Gedanken zu berauschen; und die Worte flogen mit einer Leichtigkeit zwischen uns hin und her, als hätten sie Schwingen besessen. Wenn wir bis Mitternacht drinnen gesessen hatten, gingen wir ins Freie, die lange, gerade Flüsterpromenade hinauf, kehrten zum Karolinahügel um, machten auf dem Abhang vor dem Schlosse halt und sahen den Horizont sich über der schönen Upsalaebene weiten, wo die Träume von Generationen um die kleinen Kirchtürmchen geschwebt und an der geschwungenen Linie der Wälder und Hügel abgeprallt sind. Wir standen lange hier oben, bevor wir gingen, und wenn wir uns endlich trennten, hatte ich nicht selten das unbehagliche Gefühl, daß mein Kamerad diesen Zusammenkünften ein ganz anderes Gewicht beilegte, als es mir möglich war. Er wurde förmlich zu Tränen gerührt, wenn wir uns Lebewohl sagten, und seine Empfindsamkeit erwärmte und irritierte mich gleichzeitig.

Aber warum muß ich an all dies denken? Warum kehre ich zu diesen Erinnerungen zurück, mit denen ich schon längst abgeschlossen habe? Der eine Mensch geht seinen Weg im Leben, und der andere geht den seinen. Wir treffen uns zufällig, um uns zu helfen, einige jener Augenblicke zu vertreiben, in denen die Einsamkeit, die unausweichlich ist, allzu fühlbar wird. Dann trennen wir uns wieder, gehen aufs neue jeder unseren Weg und haben uns im Grunde nicht mehr getroffen, als sich zwei Steine treffen, die zufällig durch einen vorbeirollenden Wagen aneinander gestoßen werden.

Warum soll dann diese Begegnung, die so zufällig, so kurz, so nichtssagend war, mich jetzt beschäftigen, wo so vieles andere mir näher liegt, wo ich allen Anlaß habe, nur an mich selbst zu denken?

Es ist mir zumute, als wollte dieser Mann etwas von mir. Ich kann den Gedanken nicht loswerden, daß, als wir uns trafen, er mir etwas zu sagen hatte, das nie gesagt wurde. Er wird für mich zum Inbegriff der Menschen, die ich ausgeschlossen habe, und die sich nun hereinklopfen wollen, um zu fragen, ob ich einsam bin, ob ich traure.

Schnickschnack. Meine Tür ist verschlossen, mein Hirn ist klar, ich traure nicht, und ich will allein sein.

 


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