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Isoliert zu sein, bringt mit sich, daß selbst der die Einsamkeit sucht, zuweilen auch von ihr gequält wird. Eines Tages, als ich aus der Schule heimgehen wollte, bekam ich plötzlich Lust, andere menschliche Gesichter zu sehen, als die, welche mich in den Gängen der Schule oder durch die Fenster des großen Gebäudes zu betrachten pflegten. Ich hatte außerdem Furcht vor meinem langen Nachmittag und, einem plötzlichen Impuls gehorchend, ging ich zu Du Nord hinein, um Mittag zu essen.
Kaum war ich in den Speisesaal getreten und an dem Glasschirm vorbei, als ich mich Angesicht gen Angesicht Christian Sundin gegenüber befand. Er saß an einem der Fenstertische, war allein wie ich und grüßte. Ich war so unvorbereitet auf seine Anwesenheit, daß es mir nicht einmal gelang, meine Gedanken zu sammeln, um mit Überlegung zu handeln. Als stünde ich unter dem Einfluß einer fremden Macht, näherte ich mich ihm; und als er fragte, ob ich allein sei, antwortete ich ohne weiteres ja und saß im nächsten Augenblick ihm gerade gegenüber am Tisch, den Speisezettel in der Hand, das Mittagsessen besprechend.
Ich war in diesem Moment verhext, ich erinnerte mich nicht an das Vergangene, gab mir nicht Rechenschaft über das Gegenwärtige. Aber alles, was mich umgab, wurde so deutlich, als sähe ich die Welt durch scharfe Gläser. Auch mein Gehör war in eigentümlicher Weise geschärft. Jedes Wort, das gesprochen wurde, schien mir mit verstärktem Klange zu kommen, gleichsam deutlicher, klarer als sonst im Alltagsleben. Ich hatte dieselbe Empfindung wie in dem Zwischenzustand zwischen Träumen und Wachen, und ich entsann mich in wunderlicher Art des Gespenstes in Tiergestalt, das mir von Zimmer zu Zimmer folgte, und dem ich nicht entgehen konnte. Ich saß da, neugierig, was mein Gegenüber eigentlich sagen würde, als ich plötzlich seine Stimme hörte, die mich fragte, ob ich nicht Wein trinken wollte.
Ich fuhr zusammen und antwortete ja, als hätte ich nie an etwas anderes gedacht. Und bei mir selbst wunderte ich mich, ob er mir keine weiteren Fragen stellen würde. Aber er saß ruhig da, als hätte er mich seit mehreren Jahren jeden Tag getroffen. Er lachte mir sogar zu, und so nach und nach merkte ich, daß meine Spannung nachließ, und es war mir, als finge alles um mich an, sein natürliches Aussehen wiederzugewinnen. Die Stimmen, die ich um mich hörte, wurden weicher; was ich sah, hatte nicht länger diese scharfen Konturen, die beinahe schmerzten; und schließlich sah ich auch, daß der Mann, der mir gegenüber am Tische saß, sich mit den Jahren verändert hatte. Es fiel mir auf, daß ich ihn erst jetzt überhaupt sah. Er hatte einen Vollbart bekommen, das Haar auf dem Scheitel war gelichtet, das Gesicht hatte markierte Linien, die von Leiden erzählten. Aber gleichzeitig war ihm eine beherrschte Ruhe eigen, die sich mir mitteilte, und die ich als Erholung empfand.
Ohne daß ich darüber reflektierte, fühlte ich, wie natürlich es war, daß wir beide zusammen saßen und sprachen. Wie einen Hauch des Lebens empfand ich das wohltuende Bewußtsein, daß ich für einen Augenblick mich selbst vergaß. Seine Person regte mich an, zu sprechen, und mein langes Schweigen, meine tiefe Einsamkeit ruhten aus in dieser Unterredung mit einem alten Freunde, nach dem ich mich beinahe gesehnt zu haben glaubte.
Als sei seit dem Tage, an dem wir uns getrennt hatten, bis zu dem, der uns wieder vereinte, nichts vorgefallen, knüpften wir die Fäden zwischen dem Verflossenen und dem Gegenwärtigen zusammen. Und zwischen uns begann jenes belebende Spiel, das darin liegt, bei einem Glase Wein beredt und mitteilsam zu werden. Wohl hatte das Leben viel von dem leichten, kategorischen Gedankengang der Jugend erweitert, umgeformt, entwickelt und vielleicht verhärtet, aber wir fühlten doch für eine Weile, daß wir beide jung waren – oder wenigstens schien es mir, wir seien es – und es dauerte nicht lange, so hatten wir die Gebiete der Philosophie verlassen und waren direkt zum alten Upsala zurückgekehrt.
Und da stiegen die Reminiszenzen empor. Wie bei den Festen der Jugend freundliche Kameradengesichter aus Tabakswolken lächeln, wie sie uns, von den Säften der Bowle und dem gelben Schimmer zitternder Gasflammen gefärbt, entgegenlächeln, so lächelten uns auch diese Erinnerungen entgegen. Sie leuchteten durch den Nebel der vielen Jahre, die dazwischengekommen waren und uns von jener Zeit trennten, da diese Erinnerungen lebende Wirklichkeit waren; und sie hatten ganz den warmen, frohen Ausdruck, den die Entfernung selbst den größten Widerwärtigkeiten verleiht. Wir hörten den Klang von Jugendliedern, sahen Walpurgisfeuer lodern, erwärmten uns an enthusiastischen Reden, lachten über der Liebe Glück – und Verirrungen, fühlten gleichsam den warmen Händedruck von Freunden, die schon lange in alle Ecken und Winkel Schwedens und der Welt zerstreut waren. Und über all dem leuchtete es wie eine ewige Frühlingssonne, die Luft um uns erwärmend, alte Bitterkeit und alte Enttäuschungen dahinschmelzend, so daß der Groll hinweggespült wurde, wie einst die Eisschollen unter der Islandsbrücke, von den donnernden Jubelrufen und den Lenzesgedanken der Jugend gefolgt.
Wir vertauschten den Speisesaal mit dem Café, und noch immer währte die seltsame Verzauberung, in der ich mich befand. Aber plötzlich spürte ich, daß ich ganz einfach müde war. Es entstand eine Pause im Gespräch. Und dieses kurze Schweigen war genügend, um mich zu meinem früheren Gedankengang zurückzuführen. Plötzlich dünkte mich alles, das eben noch so natürlich gewesen – fremd, wunderlich, beinahe verhaßt. Warum saß ich hier? Was wollte dieser fremde Mann von mir? Hatte er mich gesucht, oder ich ihn? Der absurde Verdacht stieg in mir auf, daß er hier gesessen und auf mich gewartet hatte, meinen Schritten gefolgt war, so wie er früher in Upsala meine Handlungen überwacht hatte; und obgleich er seine Absicht mit keinem Worte angedeutet, hatte er mich doch die ganze Zeit über ausgeforscht, mich verfolgt, sich zu meinem Vertrauten gemacht. Nun saß er da und glaubte das Spiel gewonnen, glaubte, mich überlistet zu haben. Ich hätte in tolles Gelächter ausbrechen, mit der Faust auf den Tisch schlagen und ihm sagen mögen, was für ein Dummkopf er war. Ich hatte Lust, das zu tun. Aber ich beherrschte mich, um mich nicht zu verraten, stand auf und erklärte, ich müßte gehen.
Er ließ sich nicht fangen. Ganz ruhig reichte er mir die Hand zum Abschied; und vor Zorn darüber bebend, wie gut er sich in der Gewalt hatte, erwiderte ich seinen Händedruck und ging.