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Siebzehntes Kapitel.


Rosa und Wilhelmine waren abgereist, auch Andreas Koffer stand gepackt; die Fähnchen, die sie mit nach Schorndorf gebracht hatte, lagen darin. Aber daneben in dem großen nagelneuen Reisekorb war eine hübsche kleine Aussteuer an Wäsche und Kleidern untergebracht worden, die Frau Consentius für ihr liebes Pflegetöchterchen hatte anfertigen lassen.

Doch die Güte ihrer edlen Wohlthäter ließ sich nicht damit genügen. Für Andrea war eine Pension in vornehmem bürgerlichem Hause beschafft worden, wo sie die Rechte eines Familienmitgliedes genießen sollte. Keine peinigende Sorge, ob die Pfennige ausreichen würden für die notwendigsten Ausgaben, ob man es ihr nicht als Dreistigkeit anrechnen möchte, wenn sie bestrebt war, die jungen Mädchen ihres Verkehrs aus guten Familien zu suchen, sollte mehr an das Schusterstöchterlein herantreten dürfen.

Wenn Andrea, gedemütigt, von ihrer Zukunft träumte, hatte sie sich ihre Wäschegegenstände als kleine Kunstwerke von Spitzen, kostbaren Stickereien und feinstem Leinen vorgestellt, ihre Kleider bestanden aus Samt und anderen teuersten Stoffen, wie sie nur die Frauen und Töchter der Millionäre und leichtlebige Künstlerinnen, die alles ausgeben, was sie erwerben, sich anschaffen können; in ihrem Schmuckkasten war ein Gefunkel von Juwelen. Jetzt stand sie überglücklich vor ihren Stößen neuer Wäsche, die mit blauen Bändern gebunden waren. Hübsch war alles, zierlich und gediegen, gewissermaßen sogar reich; aber kostbare Zuthaten waren nicht dazu verwendet worden. Dem angemessen waren auch die Kleider, fünf an der Zahl. Nur der Besatz wies Samt und Seide auf: den Grundstoff bildete Wolle. Eine Ausnahme machte ein schönes, einfaches, schwarzes Kleid, das von schwerer Seide angefertigt war. In dem Schmuckkasten lag neben den Türkisen ein Armband und Brosche mit einer Gemme verziert, den Kopf einer Diana vorstellend – das Abschiedsgeschenk von Wilhelmine von Weidner.

Also kein Samt, kein Spitzengeriesel, kein Brillantengefunkel! Und doch, wie glücklich, wie überglücklich war Andrea! Sie hatte keinen Wunsch darüber hinaus!

Früher hatte ihre gefährliche Selbständigkeit ihr Freude bereitet, jetzt sollte sie unter strenger Vormundschaft stehen, durfte nicht eigenmächtig thun und treiben, was ihr behagte, würde über jede Verspätung bei einem Gange Rechenschaft ablegen müssen. Aber wie gern war sie dazu bereit!

Es steckte in Andrea nicht nur eine geniale, warmherzige Künstlerin, sondern auch ein liebes, dankbares und ehrenhaftes Mädchen. Daß es nicht immer zu Tage getreten war, daran waren die falschen Verhältnisse schuld, unter denen sie gelebt hatte.

Sie saß bei Elisabeth, um Abschied zu nehmen.

Elisabeth war zum erstenmal auf längere Zeit außerhalb des Bettes und ruhte in dem großen Sorgenstuhl im Wirtschaftszimmer. Ihr Gesicht sah blaß und schmal aus; aber der Zug der Hartnäckigkeit, der es eine Zeitlang entstellt hatte, war daraus gewichen; es zeigte wieder den lieben, sanften, vertrauenden Ausdruck von ehemals.

»In drei Wochen spätestens kommst du auch nach Berlin,« plauderte Andrea. »Mein Konzert findet vielleicht Ende November statt oder Anfang Dezember, dann bist du schon unter der Zuhörerschaft und Zuschauerschaft. Schön bin ich nicht, wertester Schatz! Wenn ich lache, geht die Reise von einem Ohr zum andern. – Ich muß mich nun aber noch ordentlich hinter das Klavier setzen; denn ich bekomme wieder Unterricht. Herr Consentius hat schon einen Haufen Geld für mich ausgegeben; ich weiß nicht, wo das endigen soll.« Andrea stand auf und küßte Elisabeth. »Adieu, Schatz! Glückliches Wiedersehen!«

»Reise mit Gott, Andrea!«

»Ich danke, Elisabeth. – Kann ich irgend etwas für dich besorgen oder bestellen …«

»Kaum,« lautete die zögernde Antwort.

Mädele, ruck, ruck, ruck an meine grüne Pfff – pfiff der Starmatz, dem Andrea Gesichter schnitt. Jetzt hieb sie gegen das Bauer, daß der arme Kerl einen Purzelbaum schoß.

»Ich habe dir noch etwas zu gestehen, ehe ich abreise, Elisabeth,« sagte sie mit leiser, inniger Stimme. »Ich habe in den letzten Tagen mehrmals Grüße in deinem Namen bestellt an Christinen. Es war gelogen; denn du hast mir niemals solche aufgetragen. Aber ich sah, wie fürchterlich Christine unter deiner Unversöhnlichkeit litt, und ich sagte mir, du würdest es mir eines Tages innig danken, dich in ein besseres Licht gestellt zu haben, als du zu stehen verdientest; denn du hast doch ein goldenes, liebes und frommes Herz, wenn du auch ein gräßlicher, aufgeblasener, alter Schulmeister bist. Schließlich hat dir Christine auch weder Ohren noch Nase abgebissen, verstandez-vous? Und Christine ist gut. Einen Fehler kann jedes begehen; aber darin stecken bleiben, das ist die Lumperei. – Ich könnte meiner Freundin nicht so lange zürnen –« hier sprach Andrea langsamer – »und du bringst es zuwege, die du so viel klüger bist und besser als ich. – Adieu, Elisabeth! Auf glückliches Wiedersehen! Bleib mir gut – sei nicht böse auf mich – und – Tuntchen-Tantchen – kann ich jetzt etwas für dich bestellen?«

»Grüße an Christinen …« kam es leise, nickend, thränenerstickt hervor.

»Elisabeth! meine liebe, einzige, goldige Elisabeth!« Andrea küßte das blasse Gesicht, das blonde Haar.

»Ich habe die alte Liebe schon lange wieder gefühlt, Andrea; aber ich konnte es nicht aussprechen, ich habe zu Schreckliches damals erduldet. Alles trat deutlich vor mich hin, sowie ich sprechen wollte. Aber ich danke dir für das, was du gethan hast.« –

Grete und Olga sollten unter Andreas Schutze reisen. Am Vormittage hatten sie geholfen, ihre Sachen einzupacken; jetzt traten sie ein und legten sich nebeneinander hin, um ihre Haltung zu bessern.

»Adieu, mein liebes Fräulein Dallmännchen.«

»Adieu, Grete Bartels.«

»Grüßen Sie, bitte, mein liebes Fräulein Christine.«

»Ich danke, Grete Bartels.«

»Meine Mama wird doch entzückt sein, am Bahnhofe Ihre Bekanntschaft zu machen. Wenn wir am Ende einmal eine Schokoladenfete geben, werde ich meine Mama bitten, Sie einzuladen.«

»Aber Grrrete,« schnarrte Olgchen, »wo kannst du denn das sagen. Wenn nun meine Mama keine Lust hat dazu.«

»Nein, es ist aber gar nicht auszuhalten, wie altklug das Kind hier geworden ist, mein liebes Fräulein Dallmannchen,« himmelte Gretel.

»Stimmt, Schulze! 'nen Sechser wieder.« Damit ging Andrea hinaus.

Frau Consentius und Christine schickten sich an, in den Park zu gehen, als Andrea anstürmte.

»Ich soll dir viele tausend Grüße bestellen von Elisabeth.« Es schmetterte förmlich heraus.

»Du meinst es sehr gut, Andrea.«

»Natürlich – aber was willst du damit sagen?«

»Nichts, was dich verletzen könnte.«

»Sind das Chosen! Du denkst wohl, ich lüge,« sagte Andrea beleidigt.

»Ich glaube es dir so gern, Andrea. Und es mußte ja auch eines Tages kommen.«

Andrea ging mit.

Nach dem Abendbrote spielte sie zum letztenmal während ihres diesjährigen Schorndorfer Aufenthaltes Klavier. Frau Consentius saß zuhörend in einem Sessel. Herr Consentius ging auf und ab, eine Hand auf dem Rücken, die Cigarre im Munde. Christine, die bisher am Fenster gestanden hatte, entfernte sich leise. Sie wollte zu Elisabeth gehen. Elisabeth erwartete wohl, daß sie zu ihr käme.

Sie hatte an dunklen Abenden den Weg öfter gemacht. Wie ein Dieb schlich sie hinzu, drückte sich an das Weinspalier und starrte durch den Ladenspalt. So sah sie Elisabeths Krankheit anwachsen und abnehmen. In letzter Zeit, seit Andrea Grüße von der Kranken bestellte, ging sie wohl mit dem Vorsatze hin, einzutreten. Aber sie fürchtete sich vor dem ersten Zusammensein. Die Kranke war auch zu schwach, um eine große Aufregung ungestraft über sich ergehen zu lassen.

Christine hatte sich daher mit dem Gedanken befreundet, abzureisen, ohne Elisabeth gesprochen zu haben. Kehrte sie heim, so war Elisabeth in Berlin. Nach geglückter Operation wollte sie ihr schreiben. Ihr ganzes warmes Herz sollte aus jeder Zeile zu der Freundin sprechen. Christine ging fast einen Schritt zu weit, denn sie vergötterte Elisabeth geradezu.

Als alle Gefahr in Elisabeths Zustande überwunden schien, traf Christine eines Tages zufälligerweise mit Amtmann Greding, der ihren Vater aufsuchen wollte, in der Halle zusammen. Sie trat auf ihn zu und erkundigte sich nach Elisabeths Befinden. Sie sagte ihm, daß die Schuld an dem Unfalle einzig sie treffe. Es schmerze sie mehr, als sie aussprechen könne. Sie wisse, daß sie Elisabeths Liebe verloren habe; aber sie hoffe, daß das Gefühl der Freundschaft doch überwiegen werde, wenn Elisabeth sehe, wie sehr sie ihre Schuld bereue.

Amtmann Greding drückte ihr warm die Hand. Die einfachen Worte hatten den Weg zu seinem Herzen gefunden. Er hegte keinen Groll mehr wider sie.

Und nun heut', wo sie schon den Fuß auf die Schwelle setzte – wieder verließ sie der Mut. Sie beruhigte sich wie immer – die Stunde sei zu spät, um einzutreten. Aber während sie in das jetzt unverhüllte Fenster sah, fragte sie sich, wie sie selber in Elisabeths Lage handeln würde. Sie prüfte sich wieder und wieder; denn sie kam immer zu dem Schluß, daß es für die unrecht Leidende leichter sei, den ersten großen Schritt zu thun, als für die, welche das Unrecht bereitet hatte. Sie würde ihrer Freundin ein unzweideutiges Zeichen ihrer Liebe senden, das deutlicher sprach als ein Gruß.

»Aber mein teures Fräulein Christine,« sagte Grete Bartels' hohe, zärtliche Stimme hinter ihr, »wollen Sie denn nicht die große Liebenswürdigkeit haben, näher zu treten? Ich kann Sie leider aber nicht begleiten, denn ich muß erst noch meine Blumen begießen.«

Grete schleppte eine große Gießkanne, die sie halb voll Wasser gefüllt hatte, Olgchen leuchtete mit einer Laterne hinterher.

»Wir müssen auch noch Ordnung machen hier in Schorndorf,« sagte der kleine Baß gemessen. »Meine Elisabeth hat sich bereits zur Ruhe begeben.«

Die beiden Schwestern setzten ihre Wanderung fort. Grete bog sich, von ihrer Last gezogen, wie eine Weidenrute, Olgchen, die sich Christinens Hand bemächtigt hatte, schritt gravitätisch nebenher. Ihre weißen Zähne, die sie alle sehen ließ, glänzten, ebenso die Augen – wie der Ausschnitt eines Gesichts, von einem ausgehöhlten Kürbis angefertigt, in den man ein Licht gesteckt hat.

Die beiden kleinen Bartels hatten seit einer Woche vergessen, ihre Blumen zu begießen, einen Busch roter Astern, abgeblühte Stiefmütterchen und Levkojen, die sie ganz nach Behagen, oft täglich zweimal, umpflanzten. Die vertrockneten Blätter raschelten, als das lange entbehrte Naß darauf herniederströmte; dann aber kippten die Pflanzen, müde noch Wurzel zu schlagen, wehmütig um. Nun wurden mit den kleinen Fäusten Löcher gewühlt und die Stauden bis zum halben Stiel handfest eingedrückt.

Christine war gerade ihren Weg zurückgehuscht, als Therese kam.

»Ihr sollt hereinkommen!«

»Gleich!« lautete die Antwort.

»Ihr sollt zu Bette gehen. Du wolltest mich auch noch das aufschreiben, den Spruch, Grete.«

»Schreiben Sie es sich doch allein!«

»Anders schreiben kann ich wohl,« sagte Therese, »bloß Spruchschreiben kann ich nicht.«

»Sie müssen ihn hexen,« schlug Grete vor.

»Hexen?« fragte Therese.

Grete sprang auf, hängte die Gießkanne wie ein Körbchen an den Arm und hüpfte herzu.

»Sie können wohl auch nicht hexen, Th'r-esel?«

»Nein.«

»Himmel, Himmel! sind Sie ungebildet! meine kleine Schwester kann ja schon hexen.«

»Ich komme mit hexen,« sagte Olgchen und trottete herbei. Da schien doch ein großes Vergnügen im Anzuge zu sein.

»Ich hab' dich schon die Tinte hingestellt, Grete.«

»Besten Merci,« sagte Grete.

Als die kleine Gesellschaft in die Küche getreten war, schurrte Olga einen Stuhl an den Tisch; darauf hockte sie dann, das Gesicht in beide Fäuste gelegt.

»Wie macht man denn das, wenn man hext? Du redest mich wohl was vor, Grete?«

»Setzen Sie sich nur erst hin. Und dann nehmen Sie das Tintenfaß in die Hand. Sie machen es ganz richtig, Th'r-esel. – Ist auch genug Tinte darin enthalten? Gott sei Dank, ja; es ist voll bis zum Rand. – So – jetzt müssen Sie aber kreuzüber pusten.«

»Ist das etwa schon gehext?« fragte Therese.

»Beinah'! Es fehlt bloß noch der Spruch: Ene bene Tintenfaß. Sprechen Sie nur nach!«

» Ene bene Tintenfaß,« sagte Therese. – »Du redest mich doch etwas vor und das ist sehr ungebildet.«

»Wieso? Pusten Sie nur wieder und dann sagen Sie nochmal: Ene bene.«

Therese pustete und sagte Ene bene.

»Tintenfaß,« kratzte Olgchen.

»Tintenfaß,« sagte Therese.

»Geh zur Schul' und lerne was,« fuhr Grete fort.

»Geh zur Schul' und lerne was.«

»Pusten, Th'r-esel, immer wieder mal dazwischen pusten … Schön! – Kommst du nach Hause und kannst du nichts.«

»Kommst du nach Hause und kannst du nichts. – Ich thue es dich bloß zu Gefallen, Grete, weil es dich Spaß macht,« behauptete Therese.

»Mein Himmel, so unterbrechen Sie doch nicht fortwährend, Therese. Kommst du nach Hause und kannst du nichts – So liegt die Rute auf dem Tisch.«

»Kommst du nach Hause und kannst du nichts – So liegt die Rute auf dem Tisch.«

Grete zog seit einer Weile mit beiden Händen geheimnisvolle Kreise um Theresens Kopf. Grade als diese nun »Tisch« sagte und das angenehme Geschäft des Pustens wieder begann, schlug Grete mit einer Hand unter das Tintenfaß, so daß der ganze schwarze Segen auf Theresens Gesicht, Leibchen, Schürze und den blitzweißen Küchentisch verschüttete. Das war gehext. Bäßlein und Violinchen schrieen vor Vergnügen und Lachen – immer hopsa! – bis Onkel Greding erschien, um Ruhe zu stiften.

»Das kann kein Mensch verlangen,« schluchzte Therese, »daß ich mich das soll bieten lassen. Ich sage auf, Herr Amtmann. Hier bleibe ich nicht mehr.« Und sie malte mit beiden Händen die Tinte noch weiter über das Gesicht.

»Was ist hier passiert?« fragte der Amtmann.

»Wir haben gehext, mein liebes Onkel Gredingchen,« quiekte Grete.

» Ene bene Tintenfaß,« kratzte Olgchen.

»Das heißt, ihr seid wieder ungezogen gewesen,« sprach Onkel Greding.

»Aber, mein teures Onkelchen Gredingchen, ich begreife dich nicht,« himmelte Gretel.

»Wenn die Therese so ungebildet ist und nicht einmal weiß, was Hexen ist …« knurrte Olgchen.

»Das weiß doch jedes Kind,« beteuerte Gretel.

»Alle miteinander,« bekräftigte Olga.

Glück hatten die kleinen Berliner Krabben! Denn sie waren erst am letzten Tage ihres Besuches darauf verfallen, Theresen mit der Kunst des Hexens bekannt zu machen. Sonst hätte es doch wohl etwas Schläge gesetzt mit Birkenruten.

Onkel Greding berechnete, daß, wenn sie jetzt zu Bett gebracht und morgen früh möglichst spät angekleidet würden, die beiden Missethäter schwerlich noch irgendwelche Ungehörigkeiten begehen könnten, faßte sie kräftig bei der Schulter und transportierte sie zur Küche hinaus. Im übrigen wünschte er der Zeit Flügel für die nächsten zwölf Stunden.

Und diese verliefen ungefähr programmgemäß.

Es war so spät, als Grete und Olga endlich in Staatstoilette steckten, daß bei ihrer Ankunft im Schlosse der Wagen, der sie unter Andreas Obhut nach Teterow befördern sollte, schon auf der Rampe wartete.

Grete flog mit offenen Armen auf Christinen zu.

»Mein teures Fräulein Christine, ich soll Ihnen viele Grüße bestellen von meiner Elisabeth, und sie läßt Ihnen recht glückliche Reise wünschen.«

»Hier!« sagte Olgchen und überreichte einen Vergißmeinnichtstrauß.

»Von wem kommt der Strauß?« fragte Christine leise.

»Von einer ganz fremden Dame,« grinste der kleine Baß.

»Von Elisabeth, Olgchen?«

»Das kann ich wirklich aber nicht sagen. Ich weiß nicht, ob die fremde Dame Elisabeth heißt.«

»Aber natürlich, mein teures Fräulein Christine,« jubelte Grete.

Andrea saß in der Mitte, Olga und Grete zu beiden Seiten. Olgchen war sehr vergnügt, aber Grete weinte Thränenströme. Andrea sprang noch einmal heraus und fiel schluchzend an Christinens Hals.

»Bleib mir gut, Christine!«

»Wie einer Schwester, Andrea.«

»Reise mit Gott, mein liebes Kind!« sagte Frau Consentius zärtlich.

Es war acht Uhr; um zehn Uhr fand die Abreise der Gutsherrschaft statt. Zwei Stunden Zeit! Christine schritt zögernd die Rampe hinab. Als sie über den Hof ging, beschleunigte sie ihre Schritte. Und dann blieb sie wie gebannt einen Augenblick vor der Einfahrt stehen, als sei der gähnende leere Bogen ein kaum zu überwindendes Hindernis – hüben der Schloßhof, drüben der Amtshof …

Schulzens Adolf lungerte umher und stellte sich neben sie, um zu sehen, was aus der Sache würde. Christine ging weiter.

Als sie den Amtsgarten durchmaß, sah sie Elisabeth vor dem großen viereckigen Fenster sitzen, den Kopf in die Morgenfrische hinausgebeugt. Das alte strahlende, vertrauende Lächeln lag auf dem bleichen Angesicht.

»Christine, bist du's?«

»Ich bin's, Elisabeth!«

Leichtfüßig flog Christine die Stufen zur Veranda empor und trat ein. Elisabeth war ihr entgegengekommen und stand jetzt inmitten des Zimmers.

»Ich danke dir, Christine, daß du kommst.«

Das war nur gemurmelt, geschluchzt, kam in abgebrochenen, halben Lauten hervor; aber die, welcher es galt, verstand es doch. Mit zitternden Armen hatte sie Elisabeth umfaßt, zitternde Lippen drückten heiße Küsse auf das Gesicht der Blinden. Dabei geleitete sie die Freundin vorsorglich zurück. Vor der nun Sitzenden stürzte sie in die Kniee.

»Kannst du mir denn überhaupt verzeihen, Elisabeth?«

»Ich habe es lange gethan.«

»Und kannst du vergessen, was ich an dir gesündigt habe?«

»Du hast geirrt, Christine, denn deine Blicke waren abgezogen durch die Außenwelt – weshalb sollte ich das nicht vergessen können, wenn es dir Freude bereitet. Aber nicht vergessen kann ich, daß ich, die ich nur in mich sah, verblendet zürnen konnte. Ich war blind, so innen wie außen – verzeih mir, Christine!«

Das war wieder die alte Elisabeth, milde, vertrauend. Die hellen, flirrenden Löckchen auf der Stirn schienen einen Schein der Verklärung um das sanfte Gesicht zu zaubern.

Christine sah mit brennenden schwarzen Augen und glühenden Wangen empor, indes die Hände der Blinden zärtlich tastend ihr Gesicht berührten.

»Mich deucht, ich kann die Zeit nicht mehr erwarten, Christine, wo ich dich sehen darf.«

»Du Heilige!«

Elisabeth lachte.

»Sage lieber: du bösartiges Kätzchen! – das ist zutreffender gesprochen.«

Elisabeth trug das neue, graue, für die Berliner Reise bestimmte Kleid, das eng ihre hübsche Gestalt umschloß. Sie hatte sich für Christinen geschmückt.

Als Olga und Grete berichteten, daß sie Christinen spähend am Fenster getroffen hatten, war das Verlangen nach der Freundin zur Sehnsucht in ihr angewachsen.

Und Christine war es wert, geliebt zu werden. Der Sturm, der mit erdrückender Gewalt über sie hinweggebraust war, hatte die bösen Blumen des Hochmutes entwurzelt und mit sich fortgeführt, die ihr warmes Herz zu ersticken drohten. Sie hatte recht geahnt. Es war wie eine schwere Krankheit über sie hergefallen und hatte sie fast erwürgt; aber sie war als Siegerin aus dem Kampfe hervorgegangen.


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