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Erstes Kapitel.


Auf der Diele lagen lange, sonderbar verschnörkelte Sonnenstreifen; denn auch die Schatten vom Weinlaub brachen herein, das die drei Fenster des großen Zimmers eng umrankte. Nur das eine, das am meisten nach dem Giebel zu gelegen war, zeigte seine volle, länglich viereckige Form, indes die andern zu ovalen, mäßig großen Gucklöchern verengert waren.

Vor dem mittleren Guckloch war Tante Heinemanns Arbeitsplatz. Da stand ein birkenes Tischchen mit einem Bezug von Wachsleinwand. Tante Heinemann hatte es sehr billig auf einer Auktion gekauft, als sie noch Minchen Greding hieß. Es wuchs, kaum zwei Spannen im Geviert, auf einer schwanken Säule aus einem dreibeinigen Fußbänkchen auf und war mit einem tiefen Schubkasten versehen. Amtmann Greding behauptete, es sehe aus, wie ein Zwerg mit einem Wasserkopf. Und er hatte so unrecht nicht.

Auf dem Zwerg stand ein Korb mit schadhafter Wäsche und Stopf- und Flickutensilien. Darüber hing ein hölzernes Bauer mit einem Starmatz.

Der Starmatz hatte den Kopf unter den Flügel gesteckt und schien zu schlafen. Er war Tante Heinemanns besonderer Schützling, trotzdem er ein ganz sündhafter Schlingel war. Wenn Tantchen ihre tägliche Erbauung las, konnte sie versichert sein, daß Peter anhub, seine weltlichen Liedchen zu pfeifen. Sein Repertoire war beinahe so groß, wie dasjenige seines früheren Besitzers, eines lahmen Drehorgelspielers. Denn von der Drehorgel, die sich in bösem Zustande befand, hatte er seine Kunst erlernt.

An der gegenüberliegenden Zimmerwand stand ein großes Sofa mit einem länglichen Tisch, an welchem die täglichen Mahlzeiten eingenommen wurden. Ein sehr breiter Streifen der Giebelwand war durch einen Wirtschaftsschrank von riesenhaften Dimensionen besetzt. Es war Amtmann Gredings Speicher für Schnüre, Stricke, Nägel, Bürsten u. s. w.

Vor dem viereckigen Fenster in einem dunkel bezogenen Sorgenstuhl saß ein junges Mädchen von etwa sechzehn Jahren. Die zierliche Gestalt wurde von einem plumpen Gewande umhüllt, das von einer längst entschwundenen Mode erzählte. Das Haar, das in zwei vollen Flechten kranzartig um den Kopf lief, leuchtete golden wie Sonnenfäden. Über der Stirn sprangen Härchen mutwillig vor und fanden sich zu kleinen, durchsichtigen Löckchen, die weich an den Schläfen lagen.

Das junge Mädchen stand auf, legte das Strickzeug, woran es bisher gearbeitet hatte, auf das Fensterbrett und schritt quer durch das Zimmer, die Hände, wie zur Abwehr gegen etwas noch Ungewisses, ein wenig gehoben.

Das Haus lag an der Dorfstraße. Vor der Rückseite zog sich ein schöner großer Garten hin. Von hier aus pflegten Amtmanns Besucher durch eine Veranda und eine geräumige, inmitten des Hauses liegende Halle einzutreten. Rechts kam man aus derselben gleich in das bereits beschriebene Wirtschaftszimmer, das mit der im Giebel befindlichen Küche verbunden war. Links führte eine Thür in Amtmanns gute Stube.

»Tante Heinemann?« fragte das junge Mädchen auf der Schwelle zur Küche stehend.

»Madame ist nicht hier, Fräulein.«

»Kannst du mir sagen, Therese, was Vater für Pferde geschickt hat?«

»Acht Gespann, Fräulein, und zehn Gespann Ochsen.«

Das junge Mädchen lachte.

»Sie können die Schulzen fragen, Fräulein Elisabeth, Sie brauchen nicht zu lachen.«

»Ich lache, weil du mich mißverstehst,« sagte Elisabeth. »Ich möchte wissen, was für Pferde Vater nach dem Bahnhof in Teterow geschickt hat, um Fräulein Consentius abzuholen.«

»Ganz recht, Fräulein; acht Gespann Pferde und zehn Gespann Ochsen.«

»Aber Therese!«

»Schulze hat es mich gesagt, Fräulein.«

»Da hat dir Schulze wieder etwas vorgelogen.«

»Dem ist auch gerade heute danach zu Mute, wo seine Frau wieder so krank ist. Ich habe mich schon gedacht, Fräulein Christine wird viel Besuch mitbringen, und die Ochsen sind fürs Gepäck.«

Elisabeth kehrte in das Zimmer auf ihren Platz am Fenster zurück. Sie hatte kaum ihre Arbeit wieder aufgenommen, als die eben geschlossene Thür geöffnet wurde und Tante Heinemann im Rahmen derselben erschien.

»Gott, die Hitze!« sagte Tante Heinemann. »Ich bin ganz hin! Zeig einmal her, Lisabethchen, deinen Strickstrumpf. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben – sehr schön! Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben – sehr schön! Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht – das ist eine Bescherung, da hast du einmal zu viel drüber gestrickt. Immer mit Sieben abnehmen, Kind. Wenn ich doch nur früher gekommen wäre! Aber die Gnädige war auch bei Schulzens, und da gab denn ein Wort das andere, Jemine! Jemine!«

»Kommt es denn so sehr darauf an, Tante Heinemann?« fragte Elisabeth.

»Ob es darauf ankommt!« versetzte Tante Heinemann ärgerlich.

»Du möchtest auftrennen, Tante …«

»Natürlich muß ich auftrennen! Immer Accuratesse, Lisabeth! Ein junges Mädchen muß seine fünf Sinne bei der Arbeit hübsch beisammen haben.«

»Wenn es aber nur vier Sinne hat, Tante Heinemann?«

»Du armer Wurm!« sagte Tante Heinemann erschreckt und umfaßte zärtlich Elisabeths Kopf mit beiden Händen. »Jemine, was die Zeit vergeht! Es ist jetzt bald elf Jahre her, daß ich nach Schorndorf kam.«

»Da war meine liebe selige Mutter schon begraben, Tante Heinemann, nicht wahr?«

»Schon acht Tage. Tante Franziska war hier.«

»Tante Franziska hat meine selige Mutter gepflegt?«

»Ja, sie hat sie gepflegt, und das kann ihr Greding nicht vergessen, obgleich sie doch die Schwester deiner seligen Mutter ist. Greding hält überhaupt sehr große Stücke auf die Verwandtschaft seiner Frau. Ich möchte wohl wissen, ob Tante Franziska noch so schön ist, wie sie als Mädchen war. Sie hätte lieber sollen nach Schorndorf kommen, statt daß sie uns ihre ungezogenen Kinder aufgeladen hat.«

»Vater ist bald fünfzehn Jahre in Schorndorf, Tante Heinemann?«

»Sechzehn Jahre, Kind. Er war erst Amtmann in Leitmeritz beim Herrn von Tettenbühl. Als aber Fräulein von Tettenbühl hierher nach Schorndorf heiratete und es sich herausstellte, daß Herr Consentius kein guter Landwirt ist, ruhte die junge Frau nicht eher, als bis Greding nach Schorndorf kam.«

»Tante Heinemann, wie spät ist es wohl?«

»Fünf Uhr.«

»Ich möchte Christinen guten Tag sagen, wenn sie vorüberfährt.«

»Wie willst du das anfangen, Lisabeth?«

»Ich stelle mich vors Haus. Vielleicht erlaubst du, daß Therese bei mir bleibt.«

Über Theresens Zeit war nun eigentlich von Tante Heinemann in anderer Weise verfügt worden. Aber dem armen Wurm, der Elisabeth, konnte eine Bitte nicht gut abgeschlagen werden. Was entbehrte das Kind dadurch, daß sie des Gesichtes beraubt war. Frau Heinemann wahrlich hätte sich die Augen aus dem Kopfe geschämt. Und immer wieder fiel es ihr ein, wie sie in einer arbeitsreichen Stunde, hier und da, zu ihrer Ehre sei es gesagt: in sehr großen Zwischenräumen, Elisabeth bei einem Anliegen kurz beschieden hatte. Elisabeth war eine so delikate Natur. Tante Heinemann hörte nie ein Wort der Widerrede; sie mußte immer an die heilige Elisabeth denken, wenn sie ihre Blicke auf das klare, ruhige Gesicht richtete.

Sie hatte die Kommode, die zwischen zwei Fenstern stand, aufgezogen und einen großen weißen Kragen für Elisabeth herausgenommen. Sodann folgte eine Schürze, deren hoher Pichel Miene machte, an Elisabeths Kinn zu stoßen.

»Du machst mich wohl sehr schön, Tante Heinemann?« fragte Elisabeth.

Tante Heinemann stutzte.

»Warum fragst du, Kind?«

»Weil du so viel an mir herumputzest, Tante.«

Frau Heinemann wußte, daß selbst die Bauerntöchter von Schorndorf moderner als Elisabeth Greding gekleidet gingen. Aber wieviel hatte sie schon dadurch erspart, daß sie die Kleider der Mutter für das Kind herrichtete. Und sah denn Elisabeth etwas davon? Und legte sie, was dadurch erspart wurde, zurück für sich? Half sie nicht vielmehr dem Vetter Greding für die späten Tage seiner blinden Tochter erwerben?

»Es stammt alles von deiner seligen Mutter,« entgegnete sie weich.

Vor dem Hause war es schattig; aber mitten auf der Fahrstraße und an der jenseitigen Häuserreihe lag die Sonne. Vom Dorfpfuhl her, der wenige hundert Schritt entfernt, in der Richtung nach Teterow lag, hörte man Enten und Gänse schnattern.

Zu Elisabeth und Therese hatte sich ein unnützer, barfüßiger Junge gesellt, der, als es Theresen endlich gelang, ihn fortzujagen, in einiger Entfernung stehen blieb und allerlei Grimassen schnitt.

»Auf wen wartet ihr denn?« fragte er, wieder näherkommend.

»Auf Fräulein Christine vom Schlosse. Du bekommst Schläge von deinem Vater, wenn du uns nicht in Ruhe läßt.«

»Vater thut mir nichts,« sagte der Junge.

»So werde ich es deiner Mutter oder deiner Großmutter sagen.«

»Vor Großmüttern kriech' ich in die Spindecke, und Mutter ist krank, Mutter liegt zu Bette.«

»Du solltest dich schämen, ihr so viel Gram zu bereiten.«

»Schämen macht nicht fett,« sagte der Junge.

»Wenn du ein so garstiger Bursche bist,« versetzte Elisabeth, »so werde ich es meinem Vater sagen.«

Das schien auf den Schlingel doch einigen Eindruck zu machen, vorzüglich da er an Amtmann Gredings Reitpeitsche dachte.

»Sie wissen ja gar nicht, Fräulein,« sagte er halb verlegen, »wer ich bin.«

»Doch weiß ich das.«

»Ach, machen Sie doch keine Flausen, Sie können ja nicht seh'n.«

»Aber ich kann hören. Es giebt auch nur einen einzigen so unnützen Burschen im Dorfe, wie du bist.«

»Na, wer bin ich denn? Man los!«

»Adolf Schulze bist du,« versetzte Elisabeth.

»Fehlgeschossen!« schrie der Bengel. »Ich bin Kuschels August.«

»O, du Güte, diese Lügenbrut!« mischte sich Therese entrüstet ein. »Es ist Schützens Adolf, Fräulein, Sie können mich's glauben.«

»O, du Güte!« pfiff Schützens Adolf in höchsten Tönen.

Therese glaubte, schnell hinüberspringen zu können, um den Schlingel ordentlich durchzuprügeln; aber sie hatte die Rechnung ohne Adolfs flinke Beine gemacht. Der Junge stob wie eine Feder davon und hatte noch Zeit, etliche lange Nasen zurückzuwerfen.

Inzwischen rollte ein hübscher, offener Wagen, von zwei Füchsen gezogen, munter heran. Die Tiere merkten, daß sie wieder in Schorndorf waren und sputeten sich, an die heimische Krippe zu kommen.

Hinten im Wagen saß Christine Consentius, ein schönes, dunkelhaariges Mädchen, größer und wohl auch etwas älter als ihre Freundin Elisabeth. Sie hatte die Wartende schon vor einer Minute bemerkt, konnte aber über die Person derselben nicht mit sich ins reine kommen. Jetzt ließ sie anhalten und sprang schnell heraus.

»Elisabeth Greding?« sagte sie, unschlüssig näher tretend.

Elisabeth hatte länger auf Christine Consentius gewartet, als ein Mensch in ihrer Umgebung ahnen mochte; sie hatte ihr seit drei Jahren stündlich gefehlt. Christine war nach Berlin in eine Pension gebracht worden, kurze Zeit bevor Elisabeth vollständig erblindet war. Während der großen Ferien, die Christine immer im Elternhause verlebte, war Elisabeth regelmäßig in einem Kurorte gewesen. Denn die Ärzte sprachen die Hoffnung aus, durch eine Operation das entschwundene Augenlicht zurückzurufen. Amtmann Greding freilich gab sich keinen Illusionen hin.

Elisabeth hatte beide Hände zitternd nach Christinen ausgestreckt, und erschüttert von dieser stummen und doch so beredten Sprache hatte sie Christine stürmisch in die Arme geschlossen. Dann aber drängte sie die Blinde mit beiden Händen zurück und stand nun da, die Fäustchen mit den hübschen Handschuhen eingestemmt, als ob sie sich halb tot lachen möchte.

Wenn doch Andrea Dallmann hier wäre! Das könnte einen Hauptspaß geben! Aus welcher Rumpelkammer war nur die arme Elisabeth zusammengelesen! Das Monstrum von einer Schürze! Und das Kleid! Das Kleid!

»Weshalb lachst du, Christine?« fragte Elisabeth mit ruhiger Stimme.

Christine wurde rot.

»Weil ich mich freue, Elisabeth.«

Ihre eigenen einfachen Worte trafen sie wuchtiger, als sie ein schwerer Verweis getroffen hätte. Wieder stürzte sie an Elisabeths Hals, und wieder konnte sie nicht umhin, als sie dabei des großen Kragens ansichtig wurde, herzlich aufzulachen. Als sie aber die Augen der Blinden, weit geöffnet, mit starrem Blicke auf sich gerichtet sah, liefen Thränen unaufhaltsam über ihre Wangen hinab.

»Du steigst doch ein, Elisabeth, und fährst mit?«

»Die ersten Stunden gehören deinen Eltern, Christine.«

»Aber du weißt, daß du nicht störst.«

»Ich komme morgen,« entgegnete Elisabeth.

»Weshalb nicht lieber sogleich?«

»Wir haben Besuch,« lehnte Elisabeth ab. »Meine beiden kleinen Kousinen sind gestern angekommen.«

»Wer ist das?«

» Olga und Grete Bartels, die Töchter von Tante Franziska.«

»Und wie alt?«

»Vier und acht Jahr.«

»Ach, du bist ein langweiliges Fräulein mit deiner Beharrlichkeit. Ich werde Mama sagen, daß ich dich heute noch sehen möchte.«

Und als Christine Consentius vom Sehen sprach, ließ sie ihre hübschen dunklen Augen wieder verschiedene Wahrnehmungen machen. Ach, die Schuhe! die Schuhe! die hatte Tante Heinemann jedenfalls auf Zuwachs anfertigen lassen. Und die Samtbändchen am Handgelenk! Arme Elisabeth! Christine Consentius war sich in diesem Augenblicke nicht klar bewußt, ob Elisabeth Greding mehr ihrer Blindheit oder ihres Aufputzes halber zu bemitleiden war.

» Au revoir!« rief sie vom Wagen aus und zog ihr Taschentuch, um Grüße zurückzuwinken. Aber schnell steckte sie es wieder ein; denn Elisabeth war ja blind! blind! – –

Amtmann Greding war inzwischen vom Felde zurückgekehrt, wohin er auch die beiden kleinen Nichten mitgenommen hatte, und Amtmanns saßen beim Vesper, als Elisabeth wieder in das Wirtschaftszimmer trat. Grete, die achtjährige, flog mit wunderbarer Gewandtheit sogleich von ihrem Stuhl herab und eilte Elisabeth entgegen, auch Olgchen trollte, zwar in etwas langsamerem Tempo, heran. Mama hatte ihnen befohlen, sehr liebevoll und hilfsbereit zu Elisabeth zu sein.

Grete war ein schlankes, blondes Mädchen mit langen Haaren und einem schmalen, feinen Gesicht, indes Olgchen, klein, dick und schwarz, eine frappante Ähnlichkeit mit einem weiß angetünchten Niggerlein hatte. Des Kindes Mund wies die drollige Eigenschaft auf, sich beim Lachen derartig zu erweitern, daß beide Reihen der fest zusammengebissenen Zähne sichtbar wurden. Aber die schwarzen Augen, umgeben von bläulichem Weiß, waren wunderbar schön.

Tante Heinemann wußte nicht, was sie mit den kleinen Gästen beginnen sollte, die bedenklich von der Schablone abwichen, nach welcher gebildet sie die Kinder gewöhnlicher Sterblicher sehen mochte. Aber Amtmann Greding fühlte desto größeres Wohlgefallen. Das war so etwas für ihn! Diese kleinen Berliner Rangen, die nie um eine Antwort verlegen waren. –

»Grrrete!« knurrte Olgchen jetzt, – die gleich ihrer großen Schwester ihren Platz am Tische sofort wieder eingenommen hatte – in einem ganz tiefen Baß, der ungemein komisch wirkte.

»Ja,« sagte Grete.

»Ich will mich hinlegen, Grete.«

Grete baumelte mit Armen und Beinen, ohne eine Antwort zu geben, Olgchen aber hub an, bedächtig von ihrem Stuhle herunter zu klettern.

»Wo willst du dich denn hinlegen, Olga?« fragte Tante Heinemann entsetzt.

»In die Stube.«

»Jemine! Jemine!«

»Die Hertha Böhm muß auch jeden Tag eine ganze Stunde auf der Diele liegen, damit sie eine gute Haltung bekommt,« erklärte Grete, zärtlich zu Tante Heinemann gewendet.

»Grrrete!« kratzte Olga indes.

»Was denn?«

»Du sollst dich auch herlegen, Grete.«

»Ich will nicht,« sagte Grete.

»Grete, du sollst! – – Grrrete!«

Es blieb Greten, die einen bei weitem schmiegsameren Charakter hatte, in der That nichts übrig, als, lang ausgestreckt, auf der Diele neben dem kleinen Tyrannen Platz zu nehmen.

Ihre Geduld wurde nicht auf eine zu lange Probe gestellt; denn Peter ließ sein holdes Stimmchen erschallen. Nun waren beide kleine Mädchen mit einem Sprunge auf ihren Füßen.

»Mädele, ruck, ruck, ruck an meine grüne Pfff.«

Die Drehorgel hatte verschiedene schadhafte Stellen gehabt, an denen sie pustete, was Peterchen als gelehriger Schüler mit übernommen hatte. Die Kinder konnten es nicht hören, ohne in hellen Jubel auszubrechen. Und als Peter jetzt schwieg, machte ihnen Greding das Vergnügen, zu pfeifen, bis Monsieur Starmatz, wie alle großen Tenöre, kunstneidisch wurde und mit seinem »So leben wir, so leben wir –« einsetzte, daß die Fenster schrillten. »So leben wir, so leben wir, so leben wir alle …«

Eben als er sein künstlerisches Pffff ertönen ließ, mit derselben Grandezza, mit welcher ein berühmter Tenor einen ellenlangen Triller aushält, gab es einen tüchtigen Krach, und der Zwerg, auf welchen sich Olga kunstenthusiastisch gestützt hatte, lag da.

Tante Heinemann dachte, sie sollte ein Gallenfieber bekommen. Die Stopfknäuel rannten in der Stube umher, die Schere war aufrecht, mit gespreizten Beinen in die Diele gestoßen und der Fingerhut war unter die Kommode gerollt.

Olga und Grete verhielten sich in Erwartung einer fühlbaren Zurechtweisung still. Tante Heinemann aber entwickelte eine bedrohliche Gesprächigkeit.

»Aber Minchen!« sagte Amtmann Greding begütigend, der sich sonst grundsätzlich nicht einmengte, wenn Tante Heinemann Verweise erteilte. »Das ist ja ein Kernmädel, die Kleine. Schade, daß es kein Junge ist.«

»Ungezogen genug dafür ist sie,« bemerkte Tante Heinemann kurz.

»Ach, ungezogen, Minchen! Lassen Sie doch die Dinger einmal etwas umkehren oder ein Dutzend Tassen zerwerfen.«

»Ein Dutzend Tassen … Greding!«

»Meinetwegen auch zwei Dutzend Tassen! und ein paar Löcher in die Wand bohren. Immer hopsa! Man hört dann doch wenigstens etwas.«

»Wenn Sie nur nicht zu viel zu hören bekommen.«

Greding warf die mächtige Brust heraus und lachte. Es klang anheimelnd und das sonst so ernste Gesicht des großen Mannes leuchtete jugendfroh.

Er war auf- und abgegangen, stand aber jetzt neben dem Stuhl, auf welchem Elisabeth saß, still. Immer wieder brach es aus ihm heraus, daß er sich nach etwas Lebensvollem, Ungestümem sehnte. Hätte er doch einen Sohn gehabt! Wozu wünschen und wünschen, wo er von früh bis spät zu denken hatte! Wäre Elisabeth voll ungestümem Charakter gewesen, zu wie tausendfachen Qualen würde sich ihr Geschick, mit Murren getragen, für ihn gestaltet haben, der er schon jetzt schwer darunter litt.

Er faßte Elisabeths Hand und führte sie zum Sofa, wo er sich neben sie setzte. Mit der Rechten hob er ihr Kinn empor, als wolle er in ihre Augen sehen. Aber Elisabeths Lider waren geschlossen. Als sie einmal die offenen erloschenen Sterne auf ihn gerichtet hatte, wie wenn sie ihn erblicken müsse, hatte es sich voll Jammer über seine Lippen gedrängt: »Sieh mich nicht so an, mein Kind!« Seither vergaß Elisabeth niemals, in ihres Vaters Gegenwart ihre Augen zu schließen Und was litt der Mann, als er jetzt seines armen Kindes Kopf an seine Schulter drücke!


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