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Am anderen Morgen traf Frau Consentius mit Amtmann Greding im Park zusammen.
Greding sah wie sieben Meilen böser Weg aus. Tante Heinemann konnte sich mit Olgchen und Greten noch immer nicht stellen und machte ihm damit das Leben schwer. Heute sollten die beiden Berliner Rangen wieder ungebührliche Antworten gegeben haben. Gestern hatte sich Grete bei einer Attacke auf den Mustopf ertappen lassen. Therese wollte ziehen, weil das Duett: »Wo ist Th'r–esel? Hier ist Th'r–esel!« kein Ende fand. Franziska war die Schwester seiner verstorbenen Frau, hatte seine verstorbene Frau mit Aufopferung in ihrer langen Krankheit gepflegt – er konnte ihr die Kinder nicht vorzeitig zurücksenden. Und er hatte die naseweisen, wilden Krabben gern – immer hopsa! – es war doch Leben im Hause.
»Wir fahren heute nachmittag nach Teterow zu Doktor Moosbachs,« sagte Frau Consentius. »Wäre es Ihnen angenehm, wenn ich mit dem Doktor Elisabeths wegen spräche? Doktor Moosbach ist ein sehr gewissenhafter Mann.«
»Selbst wenn es sich bewahrheiten sollte, was ich nicht glaube, daß eine Operation möglich wäre, so würde ich dieselbe doch von einem renommierten Augenarzte vollziehen lassen, gnädige Frau.«
»Sie müssen aber, lieber Greding, ehe Sie sich an einen solchen wenden, ungefähr versichert sein, daß der Star reif ist. Doktor Moosbach würde die Operation überhaupt nicht ausführen, er würde Sie auch an einen Spezialisten verweisen. Wir können Elisabeth mitnehmen heute.«
»Ich wäre Ihnen dankbar, gnädige Frau, wenn Sie es thäten,« entgegnete Greding.
»Es ist wohl nicht mehr zu früh, um Frau Heinemann eine Staatsvisite zu machen,« bemerkte Frau Consentius lächelnd. »Vielleicht kann ich eine Kleinigkeit zur Erhöhung ihres häuslichen Friedens beitragen.«
Gredings Gesicht hatte sich aufgehellt. Seine Angelegenheiten lagen in den besten Händen. Frau Consentius war unfähig, irgend einen Verstoß zu begehen, und sie war eine Autorität ersten Ranges für Tante Heinemann.
Frau Heinemann stopfte Strümpfe, als Frau Consentius eintrat. Die Strümpfe gehörten Greten. Die Kinder hatten ausreichend Wäsche mit nach Schorndorf gebracht, so daß ein Eingreifen durch Tante Heinemann nicht notwendig war; aber Minchen konnte sich nicht die Blöße geben, schadhafte Wäsche nach Berlin zurückzuschicken.
Sie schnellte derartig in die Höhe, daß der Zwerg ins Wanken geriet.
»Jemine! Jemine!« sagte sie »gnädige Frau, das große Vergnügen. Gnädige Frau waren gewiß bei Schulzens. Wollen gnädige Frau nicht Platz nehmen auf dem Sofa?«
Auf dem Sofa lag ein Puppenkrüppel ohne Beine, dem Olgchen am vergangenen Freitag auch die Fingernägel verschnitten hatte, so daß das Sägemehl herausgerieselt war. Nägel, die am Freitag verschnitten wurden, sollten nach Tante Heinemanns leichtsinnig geäußerter Ansicht sehr bald wieder wachsen.
Tante Heinemann seufzte, als sie das kleine Scheusal, dem auch der Hinterkopf fehlte, mit raschem Griff entfernte.
»Franziska hat sich eine gute Rute erzogen an den Kindern,« sagte sie kleinlaut. »Alles wird demoliert. Entschuldigen gnädige Frau nur die Unordnung.«
»Es geht jetzt wohl etwas lebhafter bei Ihnen zu,« versetzte Frau Consentius. »Sie werden es vermissen, wenn die Kleinen abgereist sind.«
»Vermissen? …« stotterte Tante Heinemann betroffen.
»In Elisabeths und Gredings Interesse. Ich glaube, daß beide einer schweren Stunde entgegengehen, Elisabeths Operation; da ist es besser, wenn die Gedanken abgelenkt werden. Die kleinen Mädchen mit ihren drolligen Einfällen und ihrer Unruhe tragen viel dazu bei, Elisabeth vor unfruchtbarem Grübeln zu bewahren, ebenso Greding, der ein zu zärtlicher Vater ist, um nicht jede Angst, die Elisabeth vor dem entscheidenden Schritte überfallen möchte, zwiefach mitzuempfinden.«
»Das heißt,« sagte Tante Heinemann mit einem unverhofften Aufflackern von Witz, »den Teufel durch Beelzebub austreiben, gnädige Frau.« Es hörte sich halb lächerlich und halb grämlich an.
»Ganz so schlimm ist es doch selbst von Ihrem Standpunkte aus nicht, meine liebe Frau Heinemann, die Sie gewiß manche Last von dem Besuch haben. Wie lange bleiben die Kinder noch hier?«
»Drei Wochen, gnädige Frau.«
»Ob nicht Frau Bartels im Interesse der guten Sache einen kleinen Nachurlaub bewilligen würde?«
Frau Heinemann strich ihre saubere helle Schürze mit schwerer Hand über das Knie. Nun sollten die unnützen Rangen womöglich noch gebeten werden, Schorndorf länger die Ehre zu geben. Aber wenn es zu Elisabeths und Gredings Bestem geschah … Sich dagegen zu stemmen, ihres eigenen Behagens willen – Tante Heinemann hätte es nie verantworten können. Sie hatte auch ein Gewissen.
»Man müßte einmal an Franziska schreiben, gnädige Frau,« sagte sie mit gepreßter Stimme.
»Ich glaube nicht, daß es Greding zugeben wird. Er bildet sich wohl ein, Sie haben nach Ablauf der Zeit, die für den Besuch bestimmt gewesen ist, genug Unbequemlichkeiten getragen. – Wir fahren heute nach Teterow und möchten Elisabeth zu Doktor Moosbach mitnehmen. Elisabeth kann hier um drei Uhr vor dem Hause aufsteigen.«
Sodann sprach Frau Consentius von dem Brande in Hochwitz.
Frau Heinemann kannte fast alle die schwer betroffenen Familien persönlich und konnte daher über die Verhältnisse derselben und ob eine Unterstützung von nahestehenden begüterten Verwandten, den Eltern vielleicht, zu erhoffen sei, zuverlässige Angaben machen. Leider fiel der Bericht nicht erfreulich aus.
Tante Heinemann fühlte sich geehrt, daß Frau Consentius ihre Ratschläge erbat und ihre Ansichten augenscheinlich als maßgebend betrachtete. Das verzuckerte das bittere Tränklein, welches sie empfangen hatte. –
Tante Heinemann las in ihrem Erbauungsbuche, Peter turnte pfeifend in seinem Käfig von Stab zu Stab, als die Thür aufgerissen wurde und Olga und Grete ins Zimmer stürzten. Herr Consentius hatte sie eingeladen, auf seinem Break die Fahrt nach Teterow mitzumachen. Das stürmische Verlangen der beiden jungen Damen ging nun dahin, ganz große Toilette machen zu dürfen.
»Mein liebes Tantchen Heinemannchen,« pfiff Grete, »ich ziehe mein ganz neues, weißes Gesticktes an, das Cremeweiße, Tante Heinemannchen.«
»Ich will mein Blaues anziehen,« knurrte Olgchen, »mein Blaues hat eine echte seidene Schärpe. – Grete!«
»Ja.«
»Du sollst auch dein Blaues anziehen, Grete.«
»Ich ziehe mein Cremeweißes an,« flötete Grete.
»Weshalb soll denn Grete das Blaue anziehen?« zwang sich Tante Heinemann liebevoll zu fragen.
»Weil dann alle Leute gleich sehen, daß die Grete meine große Schwester ist.«
Aber Grete setzte ihren Kopf diesmal durch.
Während des Umkleidens legte Tante Heinemann ein glänzendes Zeugnis ihrer Nachsicht ab. Und sie wurde gezwungen, es zu wiederholen, als Elisabeth von Frau Consentius bereits abgeholt worden war, ohne daß der Break dem ersten Wagen folgte.
Der Gedanke lag nahe, daß Herr Consentius die Verabredung vergessen hatte.
Da geschah das Unerhörte, daß Olga auf Tante Heinemanns Schoß kletterte, sich bequem zurecht setzte und, beide Ellbogen auf das Fensterbrett gestemmt, unverwandt nach der Einfahrt starrte, aus welcher das ersehnte Gespann auftauchen mußte. Grete drückte sich mit glutheißem Gesichtchen gegen Tante Heinemanns Schulter.
In Minchens Herzen schmolz etwas. Sie strich liebevoll mit der Hand durch Olgchens Haar. Und das Kind wandte langsam den Kopf und sah sie aufmerksam an.
»Wirst du mir auch etwas mitbringen aus Teterow, Olga?«
»Ich weiß wirklich noch nicht, meine Tante Heinenmann, ob mir die Leute etwas schenken werden.«
Frau Doktor Moosbach saß mit ihren Gästen im Salon, als Herr Consentius ankam. Olga grinste, als sie vorgestellt wurde, vor Behaglichkeit und vor Verlegenheit, daß sich jeder, der Lust hatte, von der Vollzähligkeit ihrer reizenden Zähnchen überzeugen konnte. Grete war zuckersüß und spitzte den Mund auf ein Minimum.
»Wie alt bist du, Kind?« fragte Frau Doktor Moosbach.
»Acht Jahr,« antwortete Grete, »und meine kleine Schwester ist viere.«
»Ich bin bald fünfe,« fühlte sich Olga gedrungen, dazwischenzuwerfen.
»Ja, mein kleiner Baß, du bist bald fünfe,« sagte Herr Consentius neckend.
»Ich werde Ihnen aber gleich die Ohren abschneiden,« gab Olga zurück.
»Beide Ohren?«
»Alle beide!«
Olga hatte es noch nicht verwunden, daß sie so lange auf das Erscheinen des Breaks warten mußte. Sie leistete sich jetzt einen Blick, als hätte sie Herrn Consentius mögen in Grund und Boden sehen.
»Unser kleiner Baß bleibst du deshalb doch,« sagte Herr Consentius gemütlich, »und Grete ist die Violine.«
Grete jubelte vor Entzücken in den höchsten Tönen, fuhr dann aber plötzlich, als besinne sie sich eines andern, scheltend über Olga her.
»Du unartiges Kind, ich werde es Mama schreiben, wie altklug du immer bist.«
Doch gelang es ihr nicht, was sie auch kaum beabsichtigt hatte, Olgchen aus dem Konzept zu bringen.
Herr Doktor Moosbach war zu einer Operation über Land gefahren, wurde aber bald zurückerwartet. Herr Consentius ließ sich deshalb bei den Damen nieder. Seine Ankunft hatte das Gespräch unterbrochen, wie den bei der Hochwitzer Katastrophe Betroffenen am ehesten zu helfen sei.
Für den Plan einer Wohlthätigkeitsvorstellung erwärmte sich Frau Doktor Moosbach sehr schnell.
»Wir wollen jedes einzelnen Ansicht hören,« sagte Herr Consentius, »je mehrfach die Vorschläge sind, desto besser können wir uns Passendes zusammensuchen. Andreachen und Tinechen fangen an.«
»Weshalb wir, Papa?«
»Ich denke, es wird kein Unglück sein, wenn ich das eine oder andere Wort davon vergesse. Frau Doktor Moosbach und Mama sprechen zuletzt. Andrea hat das Wort.«
»Ich finde sehr hübsch,« sagte Andrea, »was Frau von Soden vorgeschlagen hat, lebende Bilder und ähnlicher Rummel mit Musikbegleitung.«
»Weshalb Musikbegleitung?« warf Frau Doktor Moosbach lachend ein.
»Weil Frau von Soden äußerte,« sagte Andrea ehrlich, »daß mir dieselbe übertragen werden könnte.« Ihr Herz klopfte doch. »Danach ein kleines bißchen Ball,« fügte sie unsicher hinzu. Und dann, indem sie unverfroren im Kreise umhersah und ihre Augen bettelnd auf Frau Consentius haften ließ, in noch zaghafterem Tone: »Tan–zen, sprin–gen, heisasa, hopsasa.«
»Dieses Tan–zen, Sprin–gen, werden wir doch notieren müssen,« entschied die Doktorin. »Was schlagen Sie vor, Christinchen?«
»Was Frau von Soden auch bereits betonte, einen Zusammenhang in den zu stellenden lebenden Bildern, vielleicht einen poetischen Text, den jemand spricht, oder Gesang hinter der Scene. Zu Darstellern und Darstellerinnen der Hauptfiguren müßten möglichst bemittelte Leute genommen werden. Wilhelmine von Weidner und Rosa Teschner würden sich ihre Anzüge etwas kosten lassen. Ärmliche lebende Bilder sehen schauderhaft aus.«
»Wir notieren also,« sagte Frau Doktor Moosbach, »verbindenden Text und Gesang; nicht wahr, gnädige Frau? Jetzt sprechen Sie, Herr Consentius!«
»Entschuldigen Sie, meine liebe Frau Doktor Moosbach, jetzt spricht die Elisabeth!«
»Es ist wohl kaum Ihr Ernst, Herr Consentius,« entgegnete Elisabeth errötend. »Ich glaube, daß in diesem Punkte äußere Blindheit den inneren Gesichtskreis auch beschränkt.«
»Die Elisabeth hat etwas auf dem Herzen und will sich aus der Affaire ziehen,« sagte Herr Consentius humoristisch. »Was sagt Mama dazu?«
»Mama sagt,« entgegnete Frau Consentius lächelnd, »daß Elisabeth sprechen soll, und zwar mit demselben Freimut, mit welchem Andrea und Christine sprachen. Jeder Vorschlag passiert die Censur. Übergroße Zurückhaltung verrät in diesem Punkte Eitelkeit. Und eitel ist Elisabeth kaum.«
»Ich glaube,« sagte Elisabeth einfach, »daß das Zustandekommen der Aufführung große Summen kostet, die für die armen, von allen Mitteln entblößten Leute verloren sind. Ich würde es wohlthätiger finden, wenn von der Aufführung ganz abgesehen würde und jeder das giebt, was er nach seinen Verhältnissen entbehren kann, – außer dem beabsichtigten Entree also auch die Summe, die ihn die Beschaffung der Kostüme kosten würde und der Ball. Damit könnte ausreichende Hilfe geleistet werden. Es ist so unnatürlich, daß der größte Teil der Opfer, die gebracht werden, dem eigenen Vergnügen zufallen soll.«
»Brav gesprochen!« sagte Herr Consentius.
»Aber nicht durchführbar,« entgegnete die Doktorin. »Zu einer Kollekte würden Leute, die als Entree für Theatervorstellung und Ball immerhin drei Mark opfern, fünfzig Pfennige zeichnen. Das Geschäft fällt alsdann noch schlechter aus. Es ist ein Zeichen unserer Zeit, ich gebe zu, ein trauriges, daß jede Wassersnot, jede Feuersbrunst u. s. w. von den helfenden Kreisen betanzt werden muß. Glauben Sie, gnädige Frau, daß von Elisabeths Vorschlag etwas notiert werden kann?«
»Leider –« sagte Frau Consentius mit großer Wärme, »nein.«
»Jetzt hat aber Herr Consentius das Wort.«
»Gewiß, meine liebe Frau Doktor Moosbach, und ich schlage vor, daß ich dem Komitee hundert Mark überweise und daß es mich dafür ungeschoren läßt.«
»Mit allen Stimmen angenommen. – Der Vereinbarung gemäß spreche ich jetzt. Gnädige Frau spricht zuletzt. – Ich schlage vor, daß die unter Gesang- und Musikbegleitung, durch einen gesprochenen Text verbundenen, zu stellenden lebenden Bilder nach berühmten Gemälden gewählt werden.«
»Sehr gut!« sagte Herr Consentius. »Das ist unsere geistreiche Frau Doktor Moosbach. Ich merke schon, die Sache bekommt einen klassischen Beigeschmack. Und Mama empfiehlt an?«
»Den verbindenden Text in Form von Rätseln zu geben, deren Auflösung das der Aufgabe folgende Bild ist.«
»Und welche Figur sollte diese Rätsel aufgeben, gnädige Frau?«
»Die sagenhafte Turandot.«
»Aah!« machte Frau Doktor Moosbach entzückt.
Herr Consentius hatte in der Stadt noch Geschäfte zu erledigen und brach deshalb auf. Die Damen gingen in den Garten.
Andrea war einsilbig. Die sagenhafte Rätselaufgeberin machte ihr zu schaffen. Vermutlich war es eine Gestalt wie die Kornlene, der Werwolf oder die Hexe im Pfefferkuchenhäuschen. Zum erstenmal empfand sie ihre Unwissenheit als eine Last. Sie wollte sich von Elisabeth in dem Punkte belehren lassen, aber unter vier Augen.
Grete saß in einem tiefästigen Kartäuserbaum und las, Olga hatte Hundspflaumen in ihren Strohhut gesammelt, die sie verzehrte.
»Die Pflaumen sind noch lange nicht reif,« sagte Frau Doktor Moosbach.
Keine Antwort.
»Und es sind Maden darin, die werden dir ein Loch in den Magen fressen.«
Abermaliges Schweigen.
»Du unartiges Kind,« pfiff Grete von ihrer Höhe herunter, »wirst du wohl auf der Stelle das Obst zur Erde werfen!«
»Maden?« entgegnete da plötzlich der kleine Baß zu Frau Doktor Moosbach gewendet, »das ist nicht wahr; das kann ich wirklich aber nicht glauben.«
Doch mochte sie einigermaßen beunruhigt sein, denn sie schüttete die Pflaumen aus und begann allerlei, woran sie vorüberkam, abzupflücken.
»Blumen werden nicht abgepflückt, Olgchen,« sagte Christine.
»Ja, doch!« sagte Olgchen.
»Nein Olgchen, darüber schilt der liebe Gott.«
»Sie reden mir ja etwas vor,« sagte Olgchen.
»Ich rede dir nichts vor. Die Blumen sind von Gott erschaffen worden, daß wir uns an ihrem Anblick erfreuen sollen.«
»Wenn ich nun aber ein Blättchen abpflücke …« sagte Olgchen gemessen. Spitzbübischer Glanz leuchtete in den schwarzen Augen auf. Das Kind sah aus wie ein geistreiches Teufelchen, das eben ein armes Menschenkind in Versuchung führt.
»Man soll auch kein Blättchen abpflücken,« entgegnete Christine, die aufmerksam geworden war, konsequent.
»Schilt da der liebe Gott auch?«
»Da schilt der liebe Gott auch.«
»Wenn ich nun aber,« fuhr Olga fort und ungezügelter Triumph leuchtete in ihren großen, wunderbar schönen Augen auf, »von meinem Papa beispielsweise einen Fliederstrauß erhalten habe?«
»Herr des Himmels!« rief die Doktorin aus. »Du bist beispielsweise ein kleiner Satan, mein Olgchen. Diese Überlegtheit! Und wie kommst du gerade auf einen Fliederstrauß mitten im Juli? Originell. Möchtest du mich nicht einmal auf ein paar Tage besuchen?«
»Das weiß ich heute noch nicht.«
»In Schorndorf gefällt es dir wohl sehr gut?«
»In Schorndorf gefällt es mir gar nicht,« gab Olgchen zurück. »Ich will jetzt wieder zu meiner Tante Heinemann.«
»Ich langweile mich so!« flötete Grete. »Fräulein Consentius dürfen wir nach Hause fahren?«
Frau Consentius, an welche diese Worte gerichtet wurden, war froh, daß Herr Consentius, der eben zurückgekehrt war, erklärte, sein Break halte vor der Thüre. Ihm war eingefallen, daß er seinen Geschäftsfreund, den er in Teterow sprechen wollte, nach dem Dobberpfuhler Forsthause bestellt hatte. So wurden Olga und Grete sogleich aufgeladen.
Die Abfahrt der Damen verzögerte sich, denn Herr Doktor Moosbach kam ziemlich spät nach Hause.
Er blieb lange mit Elisabeth in seinem Studierzimmer.
Sein Ausspruch, als er heraustrat, lautete: »Der Star ist ziemlich reif. Operation voraussichtlich in vier bis fünf Wochen.«
Elisabeth weinte. Frau Consentius schloß sie in die Arme und küßte sie. Christine stand da mit gefalteten Händen und dankte Gott.
Andrea drückte verstohlen Elisabeths Hand und murmelte: »Sind das Chosen! Weinen Sie doch nicht. Es hat ja keinen moralischen Hintergrund. Wenn ich nicht arm wäre, Elisabeth, würde ich Ihnen etwas schenken, etwas Hübsches.«
Sie zupfte an ihren Garniturschleifchen. Weshalb hatte sie sich auch Pralinées gekauft. Sie hatte keinen Pfennig mehr im Portemonnaie. Der Appetit auf Pralinées war wie eine Krankheit über sie gekommen. Wohlleben macht übermütig.
Während der Nachhausefahrt lag es wie ein Alp auf ihrer Brust. Sie schlief auch unruhig. Mitten in der Nacht stand sie auf und schrieb an ihre Verwandten einen demütigen Brief mit der Bitte, ihr Geld nach Schorndorf zu senden. Aber sie wußte im voraus, daß es vergebens geschehen war. Dann legte sie den Kopf auf das Blatt und wildes Schluchzen rang sich aus ihrer Kehle hervor.
Beim Auskleiden hatte ihr Christine wieder gesagt, sie solle das Kleid, das sie während ihres Konzertes getragen hatte, durch ihre Wirtin schicken lassen. Konnte sie denn? Das Kleid war nie ihr Eigentum gewesen. Sie hatte zwanzig Mark Leihgeld bezahlt, um sich an jenem einen verfehlten Abende damit schmücken zu dürfen.
Und es war niemand da, dem sie sich hätte anvertrauen mögen. Etwa Elisabeth? Elisabeth verfügte über keine Mittel und konnte ihr nicht helfen. Alles in Andrea empörte sich, den Nacken zu beugen; sie hatte sich schon zu viel demütigen müssen in ihrem jungen Leben. –
Am nächsten Tage, während Christine an Wilhelmine und Rosa schrieb, ging sie zu Gredings. Sie fand zu ihrem Mißbehagen große Eintracht vor.
Tante Heinemann nähte Lappenpüppchen für die kleinen Nichten. Und Olga und Grete, durch Luxus in ihren Spielsachen verwöhnt, fanden die kleinen Mißgeburten, mit Köpfen und Leibern aus weißer Leinwand, Stecknadelköpfen statt der Augen und dicken Tintenstrichen für Mund und Nase, zum Entzücken. Solche Puppen hatten sie in ihrem Leben noch nicht gesehen.
»Es ist dumpf hier,« sagte Andrea. »Weshalb lassen Sie auch die Fenster ganz zuwachsen. Kommen Sie mit in die Veranda, Elisabeth!«
»Gern, Andrea.«
»Haben Sie sich schon etwas beruhigt?« fragte Andrea draußen.
»In etwas, Andrea. Aber ich fürchte mich, Hoffnungen zu nähren.«
»Sind das Chosen!«
»Wenn die Operation mißlingt, werde ich die Kraft haben, mich ohne Murren in Gottes Willen zu ergeben?«
»Sie wird nicht mißlingen, Elisabeth. Stehen Sie einmal auf, damit ich Sie von oben bis unten ansehen kann, Sie Hasenherz. – Apropos, sagen Sie, Elisabeth, was war denn das für eine Tante, von der gestern die Rede war, die Turandot?«
»Turandot war die schöne Tochter des sagenhaften Altoum.«
»Und was war Altoum für ein Onkel?«
»Großchan der Chinesen.«
»Die Chinesen wohnen in China, nicht wahr? und China liegt in Afrika.«
»Im Osten von Asien, Andrea.«
»Belehren Sie mich doch ein bißchen wegen der Turandot.«
»Wissen Sie, daß der Stoff von Schiller dramatisch verarbeitet wurde?«
»Nein. Aber es giebt außer mir ganze Indianerstämme, die das nicht wissen.«
»Ich will Ihnen das Drama leihen. Lesen Sie es selbst. Erzähle ich Ihnen den Inhalt, so verwechseln Sie leicht Namen und Begebenheiten und stellen sich bloß in der Gesellschaft.«
»Besten Merci im voraus. Aber ein paar Andeutungen können Sie mir doch machen für den ersten Anlauf.«
»Die schöne Turandot,« sagte Elisabeth, »einziges Kind des großmächtigen Kaisers von China, hatte ihren Vater in mancherlei Kriege verwickelt dadurch, daß sie sich hartnäckig weigerte, unter den vielen Bewerbern um ihre Hand einen der Fürsten zu ihrem Gatten zu wählen. Dem Drängen ihres greisen Vaters nachgebend, gelobte sie endlich, demjenigen Prinzen sich zu vermählen, der drei Rätsel, die sie ihm vor dem versammelten Diwan vorlegen würde, richtig löste. Blieb auch nur eins der Rätsel ungeraten, so war das Los des Prinzen, enthauptet zu werden. Der Kaiser schwur einen heiligen Eid bei den Göttern seines Landes, dieses Urteil vollstrecken zu lassen. Er glaubte, daß kein Freier tollkühn genug sein würde, das Wagnis zu unternehmen. Aber der Ruf von Turandots sieghafter Schönheit und ihrem Geist war durch alle Lande gedrungen, und als Prinz Kalaf, König Timurs von Astrachan Sohn, in heftiger Neigung für Turandot entbrannte, waren schon viele Prinzen dem furchtbaren Gesetz zum Opfer gefallen. Prinz Kalaf löste die Rätsel. Turandot, deren Grausamkeit und Hochmut bei seinem Anblick dahinschmolz, wurde seine Gattin.«
»J – a – u – mach das Buch zu. Und eine Dame von so abscheulichem Handel und Wandel soll auf unserer Vorstellung die Hauptflöte blasen? Gar auf einer Vorstellung zum Wohle notleidender Menschen? Wissen Sie, Elisabeth, gelernt habe ich nichts in der Schule und ich gebe ja auch manchen Leuten manchmal Anstoß. Aber Ihr Prinz Kalaf konnte da auch sagen, wie es in irgend einem Gedicht so erbaulich heißt: ›Den Dank, Dame, begehr' ich nicht‹, und ließ sie sitzen. Der Prinz Kalaf war wohl gar ein netter Mensch, jung – was?«
»Turandots Umkehr soll wohl die Macht der Liebe verherrlichen,« sagte Elisabeth zögernd.
»Ach, lassen Sie sich doch verglasen.«
»Sie seufzen, Andrea.«
»Es geht mir mitunter nicht gut.«
»Auch hier in Schorndorf nicht?«
»Ich möchte einmal ganz gerade stehen können, ohne mir den Kopf zu stoßen – an der Decke.«
»Man muß sich auch nicht auf die Zehen recken, Andrea.«
»Docht! Wer wächst, will seine Glieder dehnen. Holen Sie mir nur das Buch. Ich sterbe, so langweilig ist es bei Ihnen.«
Elisabeth stand lächelnd auf und ging. Als sie zurückkehrte, sagte sie launig: »Sind Sie schon ganz tot, arme Andrea?«
Sie steckte das Buch unter den Arm. Während sie vornübergebeugt Elisabeths Gesicht betrachtete, stieg warme Röte in ihre Schläfen hinein. Elisabeth fühlte zwei weiche wilde Lippen auf den ihrigen.
»Andrea, liebe Andrea,« sagte sie überrascht.
Aber Andrea war schon die Stufen hinabgesprungen.
»Gräßlicher, alter Anstandsbaubau,« knurrte sie vor sich hin.
»Andrea!«