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Das Leben in Schorndorf gestaltete sich stündlich unruhiger. Besuche bei Sodens, der Excellenz Lauenstein und Frau Doktor Moosbach wurden gemacht. Täglich fuhren Consentius' mit ihren jungen Gästen nach Teterow zur Probe. War die Last der Besprechung und Sitzung erledigt, so schloß ein Tänzchen den Nachmittag ab.
Rosa Teschner war unzufrieden, denn sie sollte die junge, mit angstvoller Miene knieende Bäuerin darstellen in dem Bilde von Jakob Becker »das Gewitter«. Zu dem Anzug derselben konnte sie weder Samt und Seide noch kostbare Schmucksachen verwenden. Endlich erklärte sie, daß ihre ganze Erscheinung wenig zu dem Vorbilde passe. Und das war richtig.
Es fand sich sehr schnell Ersatz. Friederike Soden war gern bereit, die Rolle zu übernehmen. Stand doch ihr stattlicher Vetter als junger Bauersmann in der Mitte des Bildes, mit der Sichel über das Ährenfeld deutend, nach dem Horizont, wo das Feuer auflohte. Der Blitz hatte im Dorfe gezündet. Männer, Frauen und Kinder, die sich angstvoll herandrängten, vervollständigten die Gruppe.
Friederike Soden bildete sich ein, daß die Bäuerin das Weib des jungen Landmannes sei. Deshalb übernahm sie die Rolle gern. Der Vetter hatte ihr die Perlhühner geschenkt, Puck und Mumm waren auch vor Jahr und Tag von ihm gesendet worden.
»Aber nicht nach Fräulein von Soden sehen, Herr von Güllen,« sagte Frau Doktor Moosbach neckend, »bitte, geradeaus!«
Es war entzückend von Max Güllen! Friederike schielte hinüber und zitterte vor froher Aufregung wie Espenlaub.
»Ist das eine wackelige Bäuerin. Knieen Sie ruhig, Fräulein von Soden,« sprach Andrea.
Rosa saß im Zuschauerraum und langweilte sich.
Am andern Tage sagte sie zu Christinen: »Ach, es war ein unangenehmes Gefühl. Neben mir saß die Mutter einer mitwirkenden Tochter. Die Frau trug zweiknöpfige Handschuhe und ein schauderhaftes Parfüm. Die ganze Damenwelt roch nur nach Spiritus. Selbst deine Frau Doktor Moosbach kann man kaum ausnehmen. Die Ärmlichkeit hat mich förmlich erstickt.«
Die jungen Mädchen machten einen Spaziergang durch das Dorf. Rosa lachte über die kleinen Häuser, die nur aus einem Erdgeschoß bestanden, zum großen Teil aus Lehmfachwerk aufgeführt und mit Stroh gedeckt waren. Nur die der Gutsherrschaft gehörigen Bauten, in denen Tagelöhner und Deputanten wohnten, waren massiv.
Die Fahrstraße lag etwas tiefer und war sehr breit. Zu beiden Seiten zog sich die Dorfaue hin, auf welcher barfüßige Kinder sich balgten und Gänse und Enten weideten.
»Und du bringst es fertig, hier zu existieren?« sagte Rosa entsetzt.
»Weshalb nicht? Wir wohnen sehr hübsch und leben angenehm.«
»Aber das Drum und Dran. Der unangenehme Blick auf die Baracken von Häusern, diese schmutzigen Kinder, die unreine Straße. Die Pferde kann man wahrhaftig nur als Mähren bezeichnen. Das da drüben soll wohl eine Kuh vorstellen. Schauderhaft.«
»Wissen Sie was, Rosa,« sagte Andrea, »hier essen die Leute alltags Speckkartoffeln, zu mehr Delikatessen reicht's nicht aus, das Kleingeld nämlich. Großes ist überhaupt nicht vorhanden. Da können sie natürlich keine Trakehner oder Araber fahren – sie klein geschrieben. – Und daß Sie – Sie groß geschrieben – nicht wissen, wie eine Kuh aussieht, macht Ihrer Bildung wenig Ehre. Sind das Chosen.«
Rosa steckte die Belehrung ruhig ein, sie wußte nicht gleich, was sie erwidern sollte. Erst während des Nachhauseweges sagte sie: »Sie würden mich sehr verbinden, Fräulein Dallmann, wenn Sie etwas weniger ungeniert mit mir verkehrten. Sie sind doch hier nicht zwischen Schustern und Schneidern. Apropos! was ist das da für ein lächerlicher Aufzug!«
Elisabeth saß nahe bei Amtmanns Wohnung auf einem Baumstumpf; Olga lehnte an ihrem Knie und spielte mit ihren Lappenpüppchen, welche die Blinde im Schoße hielt; daneben auf dem Rasen lag Grete und las vor; über ihr wölbte sich ein rot baumwollener Regenschirm, dem der Griff fehlte. Dieses prachtvolle Stück, das sich auf Amtmanns Boden vorgefunden hatte, begleitete die beiden kleinen Berlinerinnen überall hin.
»Wir müssen uns beeilen, nach Hause zu kommen,« sagte Christine, »es ist möglich, daß wir Sodens antreffen.«
»Was ist das für ein Mädchen da drüben, Christine?«
»Wo?«
»Die lächerliche Gestalt mit den Kindern und dem Regenschirm.«
»Ähnliches kannst du täglich auf dem Lande sehen,« lenkte Christine ab. »Du bist verwöhnt.«
Grete war aufgestanden und flog in langen, elastischen Sprüngen daher, um ihr liebes Fräulein Christine zu begrüßen. Das rote Regendach hielt sie über dem Kopf.
Andrea blieb zurück und fing sie auf.
»Du störst heute. Adieu, Grete.«
»Adieu, mein liebes Fräulein Dallmann. Haben Sie vielleicht Grüße zu bestellen an meine Elisabeth?«
Andrea schüttelte. Christine handelte doch schlecht, sehr schlecht, sehr schlecht.
Nachher ging sie neben Wilhelmine von Weidner, die stehen blieb.
»Kennen Sie das junge Mädchen, Fräulein Dallmann?«
»Ja.«
»Eine Bauerntochter?«
»So ungefähr.«
»Das Gesicht sieht eigentümlich lieblich und durchgeistigt aus …«
Andrea nickte.
»Sodens sind nicht gekommen,« wurden die Nachzügler von Christinen empfangen. »Wir haben morgen einen freien Tag. Was soll da begonnen werden?«
»Ich schlage eine Fahrt nach den Blackseen vor,« sagte Andrea.
»Und ich hätte den Wunsch, deine Freundin Elisabeth kennen zu lernen, die ja wohl hier in der Nähe wohnt.«
»Der Zeitpunkt ist schlecht gewählt, Wilhelmine,« sagte Christine verlegen.
»Ist deine Freundin verreist?«
»Das nun wohl nicht, indes – man ist nie sicher, sie zu Hause zu treffen. Ich glaube, Andreas Vorschlag ist annehmbar. Die Blackseen sind entzückend gelegen. Wenn wir Herrn von Behme und Doktor Moosbachs verständigen, sind sie gewiß mit von der Partie.« –
Nach dem Abendessen, als Christine einige Photographien zeigte, sagte Wilhelmine: »Hier die Blondine mit dem sympathischen Gesicht ist sicher deine Freundin Elisabeth. Das Bild paßt genau zu der Beschreibung, die du von ihr entworfen hast.«
»Es stellt ein Fräulein Herweg dar, eine Badebekanntschaft.«
»Von Elisabeth hast du kein Bild?«
»Nein.«
Dieses Nein führte eine beredte Sprache. Es sagte, daß Christine nicht nach ihrer Freundin gefragt sein wolle. Vermutlich lag ein Zerwürfnis vor. Wilhelmine bedauerte es.
Aber auch Frau Consentius war dem kleinen Vorgang, der sich scheinbar von niemandem beachtet abspielte, gefolgt. Sie bemerkte seit einiger Zeit, daß Christine kälter für Elisabeth empfand, und das gerade jetzt, wo alle freundschaftlichen Gefühle verdoppelt hätten hervorbrechen sollen.
Frau Consentius beobachtete und schwieg. Zweigte der Weg, den Christine einschlug, zu weit ab, so war ihre Hand bereit, die Irrende zurückzuführen.
Bevor Christine sich entkleidete, ging sie in Andreas Schlafzimmer. Andrea saß auf dem Fensterbrett vor den geöffneten Flügeln und rauchte eine Cigarette.
»Es ist eine eigentümliche Liebhaberei von Elisabeth,« sagte Christine ärgerlich, »auf der Dorfstraße umherzustreichen. Krüppel gehören ins Haus. Man konnte sich vor dem Aufputz heute entsetzen.«
»Ja, du hast recht,« entgegnete Andrea, »Blinde, Krüppel, Individuen aus ärmlichen Verhältnissen etc. müßten in Haft gehalten werden, damit die Augen der geehrten Geldsäcke nicht beleidigt werden. Weshalb machst du mit Elisabeth nicht kurzen Prozeß?«
»Ich weiß nicht, was du willst, Andrea,« sagte Christine mürrisch.
»Ich meine, du sollst sie laufen lassen. Es kann dich niemand zwingen, länger mit der Tochter von deines Vaters Beamten zu verkehren, wie dir der Rummel paßt.«
Christine schwieg. Nach längerer Pause erst sagte sie: »Bist du mit dem Kleide zufrieden, Andrea, das Mama für dich zur Vorstellung hat anfertigen lassen?«
»Zufrieden! Sind das Chosen! Der Kittel ist märchenhaft schön. Deiner Mama möchte ich überhaupt stündlich die Hände küssen.«
»Wann warst du zuletzt bei Gredings?«
»Heute, kurz vor dem Abendessen, auf eine Minute.«
»Was hast du da gethan?«
»Elisabeth besucht.«
»Weshalb?«
»Man muß sie doch etwas aufmuntern, so kurz vor der Operation.«
»Was sagte sie, daß wir heute nicht mit ihr gesprochen haben?«
»Nichts.«
»Aber sie ist ungehalten, daß ich ihr Wilhelmine und Rosa nicht vorstelle, was?«
»Sie trägt gar kein Verlangen, deine Geldsäcke kennen zu lernen.«
»Hast du sonst irgend etwas zu ihr gesagt?«
»Ja, ich habe ihr gesagt, daß ich ein verlogenes Geschöpf wäre, daß ich ihr aber verspräche, mich zu bessern. In acht Tagen würde ich anfangen.«
»Was meinte sie dazu?«
»Wörtlich: Ich habe Sie lieb, wie Sie sind, Andrea.«
Es wurde still im Zimmer. Andrea paffte leise in die Nacht hinaus. Christine sah ihre sonderbare Freundin unruhig an.
»Wir haben heute Donnerstag, am Sonnabend ist die Vorstellung. Wann reist Elisabeth ab nach Berlin?«
»Am Montag.«
»Gute Nacht, Andrea.«
»Gute Nacht, Petrus.«
»Petrus?« wandte sich Christine um. »Was meinst du damit?«
»Ich meinte, Petrus.«
Petrus verleugnete den Herrn. Sie, Christine Consentius, hatte ihre beste Freundin verleugnet. Was fiel Andrea eigentlich ein. Sie war ein hergelaufenes Mädchen, das von der Gnade ihrer, Christinens, Eltern lebte. Sie sollte sich hüten, lästig zu werden. Es erschien Christinen, als habe Andrea eine maßlose Frechheit begangen.
Am nächsten Morgen stand Wilhelmine von Weidner zeitig auf. Sie ging durch den Park in das freie Feld. Die Sonne schien klar vom Himmel und sog den Tau auf, der in unzähligen Tröpfchen auf Gras und Blüten schimmerte. Die Luft war frisch und kräftig.
Allerlei Vögel tummelten sich umher: Stare, Meisen, Finken, Amseln, Pirole, Rotkehlchen, Rotschwänzchen. Am Gebüsch saß ein Zaunkönig, so klein und zierlich und so vergnügt. Du reizendes Vögelchen! Und die ganze gefiederte, lustige Gesellschaft nistete im Park.
Aus dem Felde, auf welchem das Getreide in Mandeln stand, stiegen Lerchen auf. Drüben rief ein Kuckuck, und dicht vor ihr, vom Gebüsch verdeckt, ließ sich eine feine Kinderstimme so vernehmen:
»Kuckuck, Kuckuck, sage doch, wieviel Jahre leb' ich noch; eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben.« Das Kind zählte bis zwanzig. »Zwanzig Jahre lebe ich noch, meine Elisabeth,« klang es exaltiert, »dann bin ich achtundzwanzig und meine kleine Schwester ist vierundzwanzig.«
Da bog Wilhelmine um das Gebüsch und sah vor sich dieselbe Gruppe, welche am vergangenen Tage ihr volles Interesse in Anspruch genommen hatte, das junge Mädchen in der fast ärmlichen unmodernen Kleidung und die beiden Kinder mit dem großen roten Regenschirm, den sie, einander untergefaßt, über sich aufgespannt hielten. Die Kleine trug einen Kornblumenkranz im Haar, der Kranz der Großen wurde erst gewunden von dem blonden Mädchen, das auf einem großen Stein am Wege saß.
»Guten Tag,« sagte Wilhelmine mit ihrer schönen, warm klingenden Stimme und blieb stehen.
»Guten Tag,« antwortete die Blonde. Mit einer eigentümlich unsicheren Bewegung, halb zutrauliches Nicken, halb förmliches Grüßen, wurde dabei der flechtenumwundene Kopf geneigt.
»Guten Tag,« machte das kleinere Mädchen im breitesten Baß.
»Eine ganz feine Dame!« jubelte die Größere entzückt im höchsten Diskant. »Ach, gnädige Frau, Sie sind sicher aus Berlin. Wir sind auch aus Berlin. Ich bin Grete Bartels von Wilhelm Bartels, Leipzigerstraße 37, und meine kleine Schwester ist Olga Bartels.«
»Da seid ihr gewiß,« sagte Wilhelmine mit heiterem Lächeln, »mit eurer großen Schwester zu eurer Erholung nach Schorndorf gekommen?«
»Ich bin Elisabeth Greding,« hob die Blonde das Haupt. »Vater ist Amtmann in Schorndorf bei Herrn Consentius. Olga und Grete sind meine Cousinen.«
Wilhelmine sah unverwandt in das erhobene Gesicht; etwas in dem Blick des jungen Mädchens machte sie betroffen; es lag Seelenloses darin, das doch zu der Lieblichkeit des Antlitzes wenig paßte.
Eine Haubenlerche hüpfte in kleiner Entfernung vorüber.
»Was habe ich heute auf meinem Spaziergang für hübsche und farbenprächtige Vögel gesehen,« führte Wilhelmine liebenswürdig die Unterhaltung fort, »deren Namen ich gar nicht kenne. Da könnten Sie mich ein bißchen unterweisen, Fräulein Greding. Was ist beispielsweise das da drüben am Wege für ein Vogel … jetzt fliegt er auf.«
Der erhobene Kopf des blonden Mädchens sank langsam herab.
»Ich bin blind, gnädige Frau,« klang es leise.
Wilhelmine blieb stumm. Sie fühlte plötzlich, daß sie zitterte. Sie bückte sich und drückte den Kranz in Olgas Haaren fester auf. Aber die Kleine wies sie energisch zurecht.
»Fremde Damen müssen nicht immer einem kleinen Mädchen auf den Kopf fassen. Ich kann es wirklich aber nicht leiden.«
»Du unartiges Kind, ich werde es Tante Heinemann sagen, wie altklug du wieder bist,« schalt Grete entrüstet auf ihre Schwester ein. »Ich bitte Sie, meine Dame, sich nicht zu ärgern. Das böse Kind müßte Streiche haben mit der Rute.«
»Das wäre schwere Strafe,« sagte Wilhelmine. – »Wollen Sie es, Fräulein Greding, nicht als müßige Neugierde betrachten, denn es ist wärmstes Interesse, wenn ich Sie frage, sind Sie schon längere Zeit blind oder sehr, sehr lange?«
»Drei Jahr, gnädige Frau.«
»Und wo waren Sie während der Frist?«
»In Schorndorf bei meinem Vater. Einige Wochen des Jahres in einem Kurorte. Ich reise am Montag zur Operation nach Berlin.«
»Gott gebe, daß Sie glücklich davon heimkehren mögen.«
»Ich danke Ihnen.«
»Wohnen Sie schon eine Reihe von Jahren in Schorndorf?« fragte Wilhelmine, die sich nicht entschließen konnte, ihren Weg fortzusetzen.
»Ich bin hier geboren.«
»So sind Sie auch mit Fräulein Consentius näher bekannt?«
»Christine ist meine beste Freundin, gnädige Frau. Wenn ich mir vorstelle, daß ich mein Augenlicht wieder empfangen soll, so geschieht es mit dem frohen Gedanken, daß ich dann auch Christinens Gesicht werde sehen dürfen. Sie muß sehr schön geworden sein. Ich fragte Andrea Dallmann danach. Aber es war keine vernünftige Antwort von ihr zu erhalten.«
»Fräulein Consentius hat ein kleines, pikantes und feines Gesicht. – Sie wissen jedenfalls, daß eine Wohlthätigkeitsvorstellung in Teterow stattfinden soll. Die Damen wirken da mit, ich auch.«
»Christine wird gegenwärtig von zwei Freundinnen besucht, Fräulein Rosa Teschner und Fräulein Wilhelmine von Weidner. Ich wollte Sie schon fragen, ob Sie Fräulein von Weidner seien.«
»Ich habe den Vornamen mit ihr gemein, ich heiße Wilhelmine. Wie gefällt Ihnen denn Fräulein Dallmann?«
»Ich habe sie sehr lieb.«
»Das setzte ich nicht voraus. Fräulein Dallmann studiert Musik und hat doch keinen Takt.«
Elisabeth lächelte.
»So habe ich auch gesprochen, gnädige Frau, ehe ich Andrea näher kennen lernte. Andrea hat den Keim zu allem Guten in sich. Aber ihr hat keine Sonne geschienen.«
»Nennen Sie mich, bitte, bei meinem Vornamen – Wilhelmine. Ich glaube, wir sind beide gleich alt. Gewiß nur, weil ich groß gewachsen bin, hat mir Ihre kleine Cousine den achtungheischenden Titel einer Frau gegeben. – Sie werden wohl häufig von Ihrer Freundin Christine besucht?«
»In letzter Zeit war Christine viel beschäftigt und kam seltener. Aber Andrea, die sich einbildet, ich empfände Angst vor der Operation, kommt täglich zu mir. Glauben Sie mir doch, Andrea ist gut und warm.«
»Da Sie es sagen, glaube ich es gern. – Sind Sie häufig bei Ihrer Freundin Christine auf dem Schlosse?«
»Es verbietet sich jetzt durchaus, da Tante Heinemann, die meines Vaters Haushalt führt – meine liebe Mutter ist lange tot – sich eine Verletzung des Fußes zugezogen hat – und Olga und Grete sind unruhige Gäste.«
»Wenn ich morgen früh wieder hierher kommen sollte, treffe ich Sie?«
»Ich werde kommen.«
»Adieu, Fräulein Elisabeth.«
»Adieu.«
Wilhelmine machte einen Umweg. Als sie glaubte, von den Zurückbleibenden nicht mehr gesehen zu werden, lief sie in großer Hast dem Parke zu.
Sie wechselte schnell ihre Kleidung, die nur zu deutliche Spuren ihrer Frühpromenade an sich trug. Als sie kaum eine Minute im Frühstückszimmer anwesend war, trat Frau Consentius ein.
Am Nachmittage fand die Fahrt nach den Blackseen statt. Herr von Behme, Frau Doktor Moosbach und Sodens beteiligten sich auch daran.
Christine war unruhig. Die Lüge, die sie ausgesprochen hatte, lief wie ein dunkler Schatten nebenher. Sie bereute, dieselbe gesagt zu haben, aber nicht des Unrechts wegen, dessen sie sich schuldig gemacht hatte gegen Elisabeth, sondern wegen der möglichen unangenehmen Folgen, welche ihr daraus erwachsen konnten. Daß es das Natürlichste und Ehrlichste sei, die Wahrheit einzugestehen, fiel ihr nicht ein.
Wenn Wilhelmine mit Andrea, Sodens oder Herrn von Behme sprach, war sie beruhigt; war aber Frau Doktor Moosbach oder ihre Mutter bei der Unterhaltung beteiligt, so mischte sie sich auch ein. Ihr Benehmen erschien dadurch hastig und zerfahren.
»Haben Sie bei Gredings einen Besuch gemacht, Fräulein von Weidner?«
»Nein, Frau Doktor.«
»Christinchen hat Sie noch nicht ihrer Freundin Elisabeth vorgestellt?«
»Es war keine Zeit dazu vorhanden,« unterbrach Christine hastig.
»Schade, Sie hätten eine Reihe von Originalen kennen gelernt, Peter, den Starmatz, Heinemännchen und die beiden kleinen, ungezogenen Bartels. Herr Greding ist ein Mann ohne Tadel, und Elisabeth ist ein Mädchen, wie man deren, bei so großer Jugend, wenige findet. Sie besitzt bei unbedingter Sanftmut eine Geistesstärke, die Staunen und Achtung erweckt. Sie hätte Ihnen gewiß gefallen. – Denken Sie sich, Christinchen, für Elisabeth ist ein völlig modernes Kostüm angefertigt worden zur Berliner Reise. Die Veranlassung zu solchem Uebermut haben Sie doch wohl gegeben. – Elisabeth, die blind ist, jetzt aber operiert werden soll,« wandte sich Frau Doktor Moosbach wieder an Wilhelmine von Weidner, »wird sonst von Tante Heinemann mit allen möglichen unmodernen Fähnchen herausstaffiert. Tantchen ist eine gute, sparsame Frau. Elisabeth reist am Montag zur Operation; Sie sollten sie vorher noch besuchen, nah wie Sie es haben. Amtmanns wohnen kaum tausend Schritt vom Schlosse entfernt.«
»Elisabeth wird wirklich erwarten, daß wir zu ihr kommen,« sagte Wihelmine, als Frau Doktor Moosbach sich einer anderen Gruppe zugesellt hatte.
»Sie hat kaum eine Berechtigung dazu.«
»Da sie deine älteste und beste Freundin ist …«
»Das ist sie nicht.«
»Ich glaubte es, da du so viel und mit so großer Liebe von ihr sprachest. Es stand dir einzig schön, Christine.«
»Elisabeth Greding ist doch nicht die einzige ihres Namens.«
»So hast du noch eine zweite Freundin, die Elisabeth heißt?«
»Ja, und die eine Standesgenossin ist, die Tochter eines Gutsbesitzers. Elisabeth Greding, mit der ich ja zusammen aufgewachsen bin, wie beispielsweise Nachbarskinder, und die ich wirklich leiden mag, nimmt als die Tochter eines Untergebenen doch nur eine untergeordnete Stellung ein. Die Häuslichkeit wird von der alten Tante schauderhaft bäurisch geführt. Elisabeth selbst erlaubt sich zu schulmeistern und zu hofmeistern und wird dadurch lästig. Wir haben uns überworfen. Mit meiner Intima Elisabeth, der ich dich gern vorgestellt hätte, denn sie ist aus wirklich feiner Familie, trennt mich vorläufig ein kleines Mißverständnis. Ich will ihr nicht unnötig entgegenkommen …«
»Und beide Elisabethen sind blind?«
Christine sah hoch. Wilhelmine Weidners schönes Antlitz war von starker Röte überstrahlt, der Röte des Unwillens, ihre klaren ehrlichen Augen sahen geradeaus.
Ein maßloser Trotz kam über Christinen. Wilhelmine unterstand sich, ihr nicht glauben zu wollen. Sie war ehrlich entrüstet darüber, obgleich Wilhelmine im Rechte war. Wenn jetzt gar die Wahrheit zur Sprache kommen sollte, wie maßlos gedemütigt würde sie dastehen – eine Lügnerin. Und das um eines anmaßenden Mädchens willen, dessen man sich schämen mußte. – Jene zweite Elisabeth existierte nicht; aber in betreff der ersten hatte sie wirklich nicht gelogen; sie betrachtete Elisabeth Greding nicht mehr als ihre beste Freundin, kaum noch als Freundin überhaupt.
»Gewiß, beide sind blind.« Es klang kurz und hart. »Ich muß dich bitten, sehr diskret zu sein, Wilhelmine, Mama billigt nicht alles auf Elisabeth Bezügliche. Das Thema würde also peinlich berühren. Ich erkläre es dir späterhin.«
Jetzt war die Gefahr beseitigt. Rosa bereitete schwerlich etwas Unangenehmes. Sie interessierte sich nur für Dinge, die in der Welt des Scheins und Glanzes sich zutrugen; außerhalb dieser Welt gab es keine Welt. Über die Verkehrtheit ihrer Ansichten nachzudenken, war sie zu lässig. Denken war eine Arbeit, die viel zu schwer für sie war.
Wilhelmine hatte den Arm ihres Vetters genommen, Andrea ging neben Friederike Soden, die sie unaufhörlich neckte. Da es sich hierbei ausschließlich um Max Güllen drehte, hörte Friederike gern zu. Max war ein zu netter Mensch.
»Wie weit sind Sie mit Ihrem Studium, Fräulein Dallmann?« fragte Wilhelmine späterhin.
»Es bleibt noch viel zu wünschen übrig.«
»So oft ich Sie in diesen Tagen spielen hörte, haben Sie mich mit fortgerissen. Haben Sie nicht den Wunsch, bald Ihr erstes Konzert zu geben?«
»Mein erstes liegt bereits hinter mir. Hat Ihnen Christine nicht gesagt, daß ich durchgefallen bin?«
»Nein.«
»Jedenfalls hat sie es aus Mangel an Zeit versäumt. Denn so etwas erzählt man gern. Ich wollte natürlich den Rummel vertuschen; aber Christine hatte es bereits in der Zeitung gelesen, verstandez-vous.«
»Armes Fräulein Dallmann.«
»Kein Mensch ahnt, wie viele Schmerzen es mir bereitet hat.«
»Und wann denken Sie es aufs neue zu wagen?«
»Im kommenden Winter.«
»Ich bin gewiß unter Ihren Zuhörern,« sagte Wilhelmine warm.
Nachher hörte Andrea Wilhelminen herzlich lachen. Fräulein von Weidner saß neben ihrem Vetter Behme, der ihr allem Anschein nach etwas sehr Lustiges erzählte. Herr von Behme gab seine Unterhaltung mit Andrea zum besten, in welcher sie behauptet hatte, ihn für ihren guten, alten, steifbeinigen und kahlhäuptigen Paten gehalten zu haben. –
Am nächsten Morgen stand Wilhelmine sehr zeitig auf, galt es doch, ihrem Versprechen nachzukommen und Elisabeth aufzusuchen.
Die kühle, herrliche Morgenluft umspielte sie, daß ihre Wangen sich röteten. Sie trug leichte einfache Sommerhandschuhe; der Basthut hing ihr am Arm. Das volle blonde Haar war in einen Zopf geflochten und rund zum Nest zusammengesteckt. Der gerade Blick der grauen Augen, das gütige Lächeln, welches das junge ernste Gesicht durchstrahlte, verliehen ihr etwas ungemein Anziehendes. Dabei zeugte jede Bewegung von Gesundheit und Jugendkraft. Nirgends war eine Überhastung zu finden, alles an ihr war gemäßigt und anmutig.
Neben dem Gebüsch schimmerte der rote Regenschirm, unter welchem Olga und Grete Wache hielten.
»Ich bin aber wirklich entzückt, mein teures gnädiges Fräulein,« begrüßte Grete, »daß Sie noch gekommen sind; wir, meine Elisabeth, meine kleine Schwester und ich, warten schon seit einer vollen Stunde.«
»Das thut mir leid,« sagte Wilhelmine herzlich, indem sie Elisabeth die Hand reichte. »Ich glaubte, zeitig genug zur Stelle zu sein.«
»Wir sind etwa zehn Minuten hier, länger noch nicht; Kinder rechnen mit starken Ziffern. Aber ich zählte nicht mit Gewißheit auf Ihr Kommen, denn ich nahm an, Sie hätten bei der Zusage vergessen, daß heute die Aufführung in Teterow ist.«
»Ich habe keine Vorkehrungen mehr zu treffen!«
»In welchem Bilde stehen Sie, Fräulein Wilhelmine?«
»In dem Bilde von Mücke: die heilige Elisabeth Almosen spendend.«
»Die Landgräfin Elisabeth wird von Fräulein von Weidner dargestellt. Ich fragte Andrea danach, die gestern vormittag auf wenige Minuten bei mir war.« Elisabeth lächelte.
Auch über Wilhelminens Züge glitt ein strahlendes Leuchten. Sie war erkannt worden. Aber sie wollte nicht, daß Christine um ihren Verkehr mit Elisabeth erfuhr. Sollte sie Christinen fernerhin lieben können, so mußte sie ihr Unrecht aus freiem Antriebe eingestehen.
Sie sagte also mit kleinem Nachdruck: »Ich stelle eine der dienenden Frauen der Landgräfin dar.«
Elisabeth nickte.
»Und nun nehmen Sie meinen Arm, Fräulein Elisabeth, denken Sie, daß eine liebe Freundin neben Ihnen geht, auf die Sie sich kräftig stützen sollen. Wir haben jetzt Sommers Ende; wenn Ihre Operation glücklich vorüber und Ihnen wieder der Blick gestattet ist in die Welt, ist schon der Herbst ins Land gekommen. Wollen Sie mit meinen Augen sehen rundumher? Es vergeht fast ein Jahr, ehe Sie den Sommer zuerst wieder erblicken.«
Elisabeths Lippen begannen zu zucken, sodann schlug sie beide Hände vor ihr Gesicht und weinte bitterlich.
»Nicht weinen, Elisabeth,« sprach Wilhelmine sanft, indem sie die Schluchzende an sich zog.
Aber es brach mit unwiderstehlicher Gewalt hervor. Den Vater mußte sie schonen, die andern wollte sie mit ihren Gefühlen nicht belästigen; so war der Gram eingedämmt worden jahrelang. Aber hier war eine mit einem starken, weichen Herzen, da durfte sie sich auch einmal anlehnen und sich trösten lassen.